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»In einer abnormalen Situation ist eine abnormale Reaktion eben das normale Verhalten«, schreibt Viktor E. Frankl in seinem im Jahre 1946 erschienenen Standardwerk . trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager.1 Dr. Frankl, ein angesehener Neurologe und Psychiater aus Wien, war selbst als Häftling in vier verschiedenen Konzentrationslagern, darunter im Oktober 1944 zwei Wochen in Auschwitz. Und das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz war kein Ort, in dem normale Zustände herrschten. Ganz im Gegenteil. Dieses Lager werde die Hölle auf Erden sein, erklärte im Juni 1940 ein SS-Angehöriger Häftlingen, die beim Bau des Lagerzauns eingesetzt waren.2
Der jüdische Arzt Dr. Otto Wolken, der Anfang 1943 nach Auschwitz deportiert worden war und dort bis zur Befreiung interniert blieb, stammte ebenfalls aus Wien. Nur knapp überlebte er die ersten Monate in Auschwitz-Birkenau und wurde danach als Häftlingsarzt im Krankenbau beschäftigt.3 Zwar garantierte diese Stelle das Überleben in Auschwitz keineswegs, sie steigerte jedoch die Chancen darauf erheblich. Eines Tages, so Wolken im Jahre 1970, verlangte der SS-Lagerarzt Dr. Erwin von Helmersen, »dass ich ihm eine Liste der arbeitsunfähigen Häftlinge vorlege«. Wolken ging zu Recht davon aus, dass die von ihm zu selektierenden »arbeitsunfähigen Häftlinge« anschließend vergast werden sollten. Befehlsverweigerung kam nicht infrage, daher beschloss Wolken, den Befehl indirekt zu sabotieren:
Meine Erwägungen gingen dahin, nur diejenigen Häftlinge auf die Liste zu setzen, bei denen es sicher war, dass sie auf Grund ihrer Erkrankung in kürzester Zeit mit dem Tode rechnen mussten. Es handelte sich dabei um Häftlinge, deren körperlicher Abbau so weit fortgeschritten war, dass eine Wiederherstellung vollkommen ausgeschlossen sein musste. Es handelte sich dabei um eine Anzahl von 30 Häftlingen. [.] Als ich diese Liste dem Dr. Helmersen vorlegte, beschimpfte er mich und erklärte, dass es sich hier um Sabotage handle. Er drohte mir an, dass ich dafür ins Strafkommando käme[,] und gab mir 2 Ohrfeigen. Dr. Helmersen nahm dann in dem genannten Lagerabschnitt selbst eine Selektion vor, bei der er über 300 Häftlinge auswählte [.]. Von meinen Häftlingskameraden, worunter sich Häftlingsärzte, Pfleger und Blockälteste befanden, wurden mir daraufhin Vorwürfe gemacht mit dem Argument, dass ich den Dr. Helmersen zufriedengestellt hätte, wenn ich etwa 100 Häftlinge namhaft gemacht hätte, während er jetzt ein Mehrfaches selektiert hat.
Der Versetzung ins Strafkommando, die für ihn den sicheren Tod bedeutet hätte, entkam Dr. Wolken, »weil Dr. Helmersen am nächsten Tag zur Fallschirmtruppe versetzt worden ist«.4 Dieses Beispiel veranschaulicht eines der moralisch-ethischen Dilemmata, mit denen Häftlingsärzte im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz alltäglich konfrontiert waren: im vorliegenden Fall, »etwa 100 Häftlinge« persönlich auszuwählen und sie zu opfern, um sich selbst zu schützen und zugleich etwa 200 andere Insassen, zumindest vorübergehend, vor dem sicheren Tod zu bewahren.
Wie wichtig und zugleich prekär die Stellung der Häftlingsärzte im Lagersystem war, erkannte auch Robert Jay Lifton, der im Jahre 1986 sein Standardwerk über die Ärzte im Dritten Reich veröffentlichte,5 bei seinen Recherchen. In einem Brief an Raul Hilberg, den Nestor der Holocaustforschung, schrieb Lifton am 4. Januar 1977: »There is one other dimension to the work I am contemplating that I neglected to mention to you - namely, the experience of inmate-physicians in the camps, including their struggle to maintain elements of genuine healing and their conflicts around compliance or even collaboration with Nazi physicians.«6
Die Geschichte dieser Häftlingsärzte und ihre Rolle im »Gesundheitswesen« des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz erstmals umfassend zu beleuchten, ist das Ziel der vorliegenden Darstellung. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich über das gesamte Bestehen des Lagers, von seiner Einrichtung im Juni 1940 bis zur - mit Todesmärschen verbundenen - Räumung im Januar 1945. Besonderes Augenmerk wird dabei auf den historischen Hintergrund gelegt, mithin die Umstände, unter denen die Ärztinnen und Ärzte handelten und handeln mussten.
Die Gesamtzahl der Häftlingsärzte und -ärztinnen im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz einschließlich der Nebenlager geht in die Hunderte. Die genaue Größenordnung ist heute jedoch kaum zu ermitteln. Es fehlen Unterlagen dazu, und die Fluktuation war sehr hoch. Viele von ihnen starben an Krankheiten, allen voran an Fleckfieber, zahlreiche wurden erschossen, andere in andere KL verlegt, einige wenige polnische Häftlingsärzte sogar freigelassen.
Eines ist aber sicher: Wer eine Beschäftigung im Krankenbau ergattern konnte, steigerte seine Überlebenschancen enorm. Gewöhnliche Häftlinge starben großenteils binnen weniger Monate an Entkräftung, Hunger und Krankheiten. Häftlingsärzte und -pfleger gehörten hingegen zu der sogenannten Lagerprominenz. Vom Tod durch Hunger und Entkräftung blieben sie faktisch verschont.
1942, als Auschwitz zum Vernichtungskomplex ausgebaut wurde, ging die medizinische Behandlung der kranken Häftlinge praktisch in die Hände der Häftlingsärzte über; die SS-Lagerärzte übten zwar die Aufsicht aus, verließen sich aber immer mehr auf die Häftlingsärzte. Dies setzte deren Zusammenarbeit mit der Lager-SS im Allgemeinen und den SS-Ärzten im Besonderen voraus. Die Kooperation reichte oft tief, erzwungen durch direkte Befehle und Anweisungen, aber auch durch die im Lager herrschenden Verhältnisse. So wirkten Häftlingsärzte an den »medizinischen« Experimenten der SS-Ärzte mit, sie führten nicht selten auf Befehl Vorselektionen bzw. Selektionen von »arbeitsunfähigen« Häftlingen in den Krankenbauen durch. In der Regel mussten sie dabei zumindest assistieren. Bisweilen ließ der Umgang der Häftlingsärzte und -pfleger mit Kranken deutlich zu wünschen übrig.
Aus diesen Gründen sahen sich einige ehemalige Häftlingsärzte nach 1945 mit Vorwürfen und überdies mit staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und Gerichtsverfahren konfrontiert. Einzelne von ihnen erlangten eine negative Berühmtheit, die teilweise die der eigentlichen SS-Täter überschattete, wobei der historische Hintergrund ihrer Lagertätigkeiten ausgeblendet und/oder entstellt, teils sogar vorsätzlich gefälscht wurde. Manch falsche Beschuldigung fand Eingang in Publikationen, selbst in solche mit wissenschaftlichem Anspruch.
Den Lageralltag der Häftlingsärzte bestimmte der Kampf um das eigene Überleben und somit auch um die eigene Beschäftigung im Krankenbau. Erst wenn diese - nach den in Auschwitz geltenden Maßstäben - halbwegs gesichert war, konnten sich Häftlingsärzte und -pfleger um kranke Insassen kümmern, sofern dies überhaupt möglich war. In den meisten Fällen waren sie hilflos. Nur einem Teil der Kranken ließ sich angesichts der äußerst knappen Ressourcen an Medikamenten, Verbandszeug oder medizinischen Instrumenten überhaupt helfen. Nichtsdestoweniger schafften Häftlingsärzte es dank teilweise unkonventioneller Behandlungsmethoden (»Lagermedizin«) sowie durch »Taktieren« und »Lavieren«, vielen kranken Insassen tatsächlich das Dasein zu erleichtern. Oft genug setzten sie dabei nicht nur ihre »privilegierte« Stellung aufs Spiel, sondern auch ihr Leben.
Im Lagerwiderstand spielten Häftlingsärzte ebenfalls eine wichtige Rolle. Sie bestand in erster Linie darin, unter Todesgefahr Informationen, Unterlagen und Beweise über die in Auschwitz begangenen Massenverbrechen zu sammeln und diese an die Außenwelt weiterzuleiten. Dank dieser Aktivitäten war die westliche Welt bereits im Winter 1942/43 über die Geschehnisse in Auschwitz relativ gut informiert. Es kam außerdem vor, dass Häftlingsärzte und -pfleger besonders brutale Kapos und gefährliche Lagerspitzel, die im Krankenbau als Kranke stationär behandelt wurden, liquidierten.
Wegen ihrer Position im Lager gewannen Häftlingsärzte weitreichende Einblicke in die dort herrschenden Verhältnisse und aufgrund ihrer Profession hatten sie Erfahrung in der Erstattung und Abfassung von Berichten. Nicht wenige von ihnen forschten zudem wissenschaftlich, vor der Inhaftierung und nach der Befreiung, manchmal auch im Lager im Auftrag der SS-Lagerärzte. Ehemalige Häftlingsärzte traten nach der Befreiung als Zeugen und Gutachter in Ermittlungs- und Gerichtsverfahren gegen Auschwitztäter auf. Es sind großenteils ihre Zeugnisse, die es ermöglichten, die im Lagerkomplex herrschenden Zustände und die dort begangenen Massenverbrechen relativ gut zu rekonstruieren, obwohl die Täter alles unternommen hatten, um Spuren und Beweise zu beseitigen.
Zu Forschungsstand und Literatur
Zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz erschienen nach 1945 unzählige Monografien, Sammelbände, Sachbücher, Memoiren, Romane, Erzählungen, Gedichte, Aufsätze und Artikel. Ebenso zahlreich wurden Dokumentar- und Spielfilme produziert und ausgestrahlt. Jedes Jahr kommen neue hinzu. Die Thematik der Häftlingsärzte wird darin zwar immer wieder aufgegriffen, jedoch in der Regel am Rande. Die Ausnahme stellen einige wissenschaftliche Aufsätze und Abhandlungen7 sowie Erinnerungen ehemaliger Häftlingsärztinnen und -ärzte dar. Eine nur ihnen gewidmete...
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