Schweitzer Fachinformationen
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»Das ist sein Zimmer«, sagte Elisabeth Sassenthin. »Das Klavier habe ich erst hier hereingestellt, nachdem Gent ausgezogen war. Er hatte nichts dagegen.«
Osteogenesis Imperfecta: »Glasknochen«. Es war nicht leicht gewesen, die Treppe in den ersten Stock hinaufzukommen. Es hatte gedauert. Und mit jeder Stufe, an der er sich abmühte, hatte er gespürt, wie Elisabeth Sassenthin unsicherer wurde, nicht wusste, ob und wie sie Hilfe anbieten sollte oder ob sie gar nicht oder extra viel sprechen sollte, um es ihm möglichst leicht zu machen.
»Ich muss mich mal kurz setzen«, sagte Titus.
»Natürlich«, sagte Elisabeth Sassenthin. »Auf das Bett, ja?«
»Ja, das wäre am besten. Danke.«
Das Bett war breit und stabil. Ein Kasten aus Holz, in dessen Mitte die Matratze ruhte, das Oberbett bedeckt von einer Patchwork-Tagesdecke. Er sank kaum ein, als er sich setzte.
»Das Bett hat mein Mann gebaut«, sagte Elisabeth Sassenthin, die noch in der Tür stand, als hielte ein Bannzauber sie davon ab, das Zimmer zu betreten. »Alte Schiffsplanken.«
»Stabil«, sagte Titus. »Ein gutes Bett. So eins hätte ich auch gerne!«
»Sie können ja mal meinen Mann fragen, wenn er wiederkommt«, sagte Elisabeth Sassenthin.
»Das ist nett. Aber so habe ich es nicht gemeint«, sagte Titus und versuchte, seinem Lächeln eine besondere Wärme oder zumindest Harmlosigkeit beizumischen, weil Elisabeth Sassenthin so verunsichert wirkte. Weil er da war. Und vielleicht noch mehr, weil ihr Mann sich gleich nach der Begrüßung ohne Erklärung in den Garten verzogen hatte. Wo er, wie Titus sehen konnte, als er den Blick in Richtung des Fensters wandte, neben einem Schuppen an einem Baum stand, den Kopf an den Stamm gelehnt, die Hände in den Taschen, offensichtlich in der Annahme, dass man ihn nicht sehen könne.
Das Zimmer war nicht groß, aber es war ein besonderes Zimmer. Kein Möbelstück stammte aus einem Laden. Alles war selbst gebaut, aus schwerem Holz, stabil, praktisch, auf anheimelnde Weise schön.
Die Platte des Schreibtisches war aus einer glatt geschliffenen und dunkel lasierten Europalette gefertigt, in die breite Schubladen eingelassen worden waren. Darunter, als Beine, alte Transportkisten. Auf einer konnte er in schwarzer Stempelschrift das Wort Sansibar entziffern. Die Regale waren in vorgefertigte Öffnungen in den Wänden eingebaut, ebenfalls altes Holz, solide Handarbeit. Wer so ein Regal baut, will der auch mitbestimmen, was darin aufbewahrt wird? Er erblickte Kinderbücher, Jugendbücher, ein paar vergilbte Kartons mit Brettspielen: Halma. Schach. Vierzig Spiele für Unterwegs.
Über dem Schreibtisch: eine Weltkarte.
Die Wände waren vertäfelt, jedes Brett einzeln zugeschnitten, gesägt, gefräst, was verstand er schon davon, nur eines war eben offensichtlich: die Sorgfalt und Planhaftigkeit des Vorgehens.
»Das ist ein wirklich schönes Zimmer«, sagt er.
»Ja, wir haben uns Mühe gegeben. Auch bei . bei Greta. Mein Mann ist sehr geschickt, das hat natürlich geholfen.«
»Frau Sassenthin, es kann sein, dass es wichtig wird, in der Zukunft, dass ich etwas mehr über Gents Kindheit und Jugend weiß, wie er aufgewachsen ist, was er erlebt hat, solche Dinge. Damit ich Ihnen Ratschläge geben kann. Verstehen Sie das?«
»Ich denke schon, ja.«
»Deshalb wollte ich Sie hier besuchen.«
»Danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben.«
»Das ist mein Job. Aber ich kann umso besser helfen, je mehr Sie mir erzählen.«
»Ich weiß. Ich habe mir das schon gedacht. Es ist eben schwer. Auch für meinen Mann.«
»Er redet nicht gerne darüber, oder?«
»Nein. Gar nicht. Es ist beinahe wie damals, als Greta . er hat . neulich hat er gesagt: Elli, wir haben unsere beiden Kinder verloren, finde dich damit ab.«
Titus blickte weiter aus dem Fenster. Elisabeth Sassenthin hatte eine schöne, melodische Stimme. Sicher kann sie auch gut singen, dachte er. Er wollte nicht schon wieder zusehen, wie sie mit den Tränen rang.
»Frau Sassenthin, wie war das Verhältnis zwischen Gent und Ihrem Mann und zwischen Gent und Ihnen?«
»Meine Beziehung zu den Kindern war vermutlich etwas enger. Aber Karl war ein guter Vater. Leise eben. Er redet nicht so viel. Aber er hat immer mit Gent gebastelt oder irgendetwas gebaut, und lange Zeit war der Werkraum im Keller Gents liebster Ort. Aber da war auch noch Greta. Und Zwillinge, so bald nach der Wende, das war nicht so leicht, als dann auch noch die Werft, na ja, und die Treuhand und all das, und wer wollte schon Klavierstunden damals? Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können, Sie sind ja, glaube ich .«
»Ja.«
»Na ja, hier war das eben etwas anders, und als Karl seine Arbeit verlor, hat es etwas gedauert, bis er wieder auf die Beine kam. Er war sehr zurückgezogen in dieser Zeit, oft war er im Keller, weil er sich . weil er das Gefühl hatte . ich glaube, er hatte auch Angst.«
»Ja, bestimmt.«
»Ja, und ich auch. Aber ich habe immer gesagt: Karl, die beiden sind doch ein Geschenk!«
»Und das waren sie ja auch.«
»Frau Sassenthin, was ist mit Greta geschehen? Ich weiß, dass sie viel zu jung gestorben ist, aber ich weiß nicht, wie und warum.«
In dem Moment hörte Titus ein Räuspern, das unmöglich von Elisabeth Sassenthin stammen konnte.
»Du hattest doch Kuchen gebacken, Elli, oder?«, fragte Karl Sassenthin, der plötzlich in der Tür stand und lächelte und klang, als habe er unbändige Lust auf Kuchen. Und vielleicht hätte ihm Titus das auch abgenommen, wenn er nicht den Abdruck der Baumrinde auf seiner Stirn gesehen hätte.
Der Kuchen war sehr gut. Gedeckter Apfelkuchen. Auch in der Wohnküche des Einfamilienhauses waren alle Regale selbst gebaut; der große Tisch ebenfalls.
»Herr Brandt«, hob Karl Sassenthin an, »ich würde Sie gerne etwas fragen. Wie geht es jetzt weiter? Wir hatten ja nie Kontakt mit jemandem wegen dieser Sache. Wir sind nicht zur Polizei gegangen, weil Gent uns in seiner SMS aus der Türkei darum gebeten hat, und weil wir dachten, wir machen vielleicht etwas kaputt. Gehen Sie jetzt zur Polizei?«
»Nein. Dafür gibt es im Moment keinen Grund«, antwortete Titus. »Es ist so: Rein rechtlich habe ich keinen besonderen Status, weder Ihnen noch den Behörden gegenüber. Ich bin kein Anwalt, es gibt keine Schweigepflicht, nicht einmal ein Aussageverweigerungsrecht. Aber eben auch keine Pflicht meinerseits, irgendetwas weiterzuerzählen. Jedenfalls nicht sofort. Irgendwann schon, jedenfalls wenn es um Dinge geht, die mit Sicherheitsfragen zu tun haben. Aber so etwas entscheiden wir im Konsens mit den Eltern. In Ihrem Fall würde ich erst einmal nicht zur Polizei oder zum Verfassungsschutz gehen, nicht bevor wir mehr wissen.«
»Aber wie sollen wir denn mehr herausbekommen? Wir wissen doch rein gar nichts, und das ist alles ziemlich weit weg.«
»Die E-Mail an Ihre Frau könnte ein Anfang sein.«
»Dieses Geschreibsel?«
»Wer weiß. Abwarten. Aber wenn Gent ernsthaft mit Ihnen in Kontakt tritt, dann wird es darum gehen, ihn zu beraten, ihn vielleicht auch zu beeinflussen. Dass er einen Weg zurück findet. Das könnte sein Ziel sein. Dabei kann ich dann helfen. Wenn ich genug weiß. Über ihn. Und über Sie.«
»Da gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen«, sagte Karl Sassenthin.
»Doch«, antwortete Titus. »Denn auch jemand wie Gent lässt sein Leben und seine Vergangenheit nicht einfach zurück. Das geht gar nicht. Und diese Anknüpfungspunkte sind wichtig.«
Karl Sassenthin atmete lautstark aus. »Geboren in Rostock«, begann er in leierndem Tonfall, »Schule, danach Ausbildung beim VEB Yachtwerft Berlin, dann habe ich bis zur Wende in Rostock Fischerboote gebaut, bis der Betrieb in eine GmbH umgewandelt wurde. Dann war ich einige Jahre arbeitslos, und seit 1994 arbeite ich wieder und baue Ruderboote. Meine Frau und ich kennen uns noch aus der Schule. Geheiratet haben wir, als ich wieder aus Berlin zurückkam. Und die Kinder wurden 1991 geboren, aber das wissen Sie, glaube ich, schon.«
Also gut, dachte Titus. Dann eben anders.
»Herr Sassenthin, was war Gents Lieblingsbuch, als er noch nicht in der Schule war?«
»Das . das weiß ich jetzt wirklich nicht mehr. Elli, weißt du das noch? Das weiß man doch nicht mehr nach so vielen Jahren, oder? Wieso ist das denn jetzt wichtig?«
»>Bei der Feuerwehr wird der Kaffee kalt<«, sagte Elisabeth Sassenthin. »Das hast du ihm immer vorgelesen.«
»Und Gretas Lieblingsbuch?«
»>Der kleine Angsthase<«, sagte Karl Sassenthin.
Seine Frau sah ihn überrascht an, sagte aber nichts.
Karl Sassenthin schob seinen Teller, auf dem noch ein halbes Stück Apfelkuchen lag, mit beiden Händen in Richtung Tischmitte.
»Ich war kein schlechter Vater«, sagte er langsam.
»Das würde ich nie behaupten«, sagte Titus. »Das steht mir gar nicht zu.«
»Warum stellen Sie dann solche Fragen? Wollen Sie herausfinden, ob Gent zu wenig Liebe abbekommen hat oder zu wenig Aufmerksamkeit?«
»Nein. Weil ich gespürt habe, dass Sie mir nichts erzählen wollen. Ich vermute, weil das bedeutet, sich daran zu erinnern, wie es war, als sie noch eine heile Familie waren. Als hier noch zwei Kinder im Haus waren. Das kann ich verstehen. Das ist sicher schmerzhaft. Aber wenn Sie über die Realität nicht sprechen wollen, dann kann ich Ihnen nur schlecht helfen. Ich kann ein anderes Mal wiederkommen, wenn Ihnen das lieber...
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