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Um in Berlin ein neues Buch zu schreiben, verlässt A., ein Schriftsteller von siebzig Jahren, die Schweiz – und seine Ehe. Er hat beschlossen, seine Krebsbehandlung abzusetzen, dafür aber einer Figur, die er in seinem letzten Roman sterben ließ, ein zweites Leben zu bescheren.
Man kann in A.s Vorsatz die Wette zwischen Kunst und Leben wiederfinden, die in der westlichen Literatur Tradition hat. Dabei stößt sie mit einer frohen Botschaft zusammen, welche die Frage durch einen Erlöser für entschieden hält, dem man nur noch glauben muss. Indem A. der Einladung folgt, in Ostdeutschland eine Weihnachtspredigt zu halten, setzt er sich dieser Versuchung aus – aber erlebt auch andere, mit denen er nicht gewettet hat. Er erfährt, dass er über Figuren seiner Erfindung so wenig allein verfügen kann wie über andere Menschen, denen er begegnet. Dafür, dass es am Ende der ursprünglichen Wette fast nur Gewinner gibt, ist allerdings eine List der Kunst nötig: die Aufführung der Tragikomödie "Amphitryon" an einem Ort zwischen Ozean und Wüste, der selbst etwas Märchenhaftes hat. Dabei macht sich hinter der Szene schon ein Spielverderber bemerkbar: ein viraler Parasit, der die Errungenschaften des Homo sapiens als Selbstbetrug zu entlarven droht.
Adolf Muschg war u.a. von 1970 - 1999 Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH in Zürich und von 2003 - 2006 Präsident der Akademie der Künste Berlin. Sein umfangreiches Werk, darunter die Romane "Sutters Glück" (2004), "Eikan, du bist spät" (2005) und "Kinderhochzeit" (2008) wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Hermann-Hesse-Preis, der Georg-Büchner-Preis, der Grimmelshausen-Preis und zuletzt der "Grand Prix de Littérature" der Schweiz.
2. Buch:
SCHANGPAULE
1 A. hatte die Adresse ohne Mühe gefunden, Siegmund Delachaux. Hier wohnte also auch Gilles.
Nr. 77 war Teil eines Blocks, dessen fünfstöckige Häuser sich nur durch verschiedene Pastelltöne unterschieden. In jede Wohnung war ein gedeckter Balkon eingelassen, den das oberste Stockwerk zur Arkade zurücknahm. Die vorspringenden Hausteile bildeten einen Turm verglaster Erker, wobei alle Mittelfenster durch die haushohe Farbnaht geteilt wurden. Die Balkone waren mit Pflanzengrün besetzt, bis auf eine kahle Brüstung im zweiten Stock links, der aber doch bewohnt schien. Denn durch das Seitenfenster war der Rand desselben japanischen Lampions sichtbar, den A. im Dachstock des Hauses in Meyerskappel zurückgelassen hatte. Zuoberst ließ sich ein Dachgarten vermuten, denn über die Kante lugte Gesträuch und rührte sich im Wind.
Die Hauszwillinge 76 und 77 bildeten das Mittelstück eines Blocks, der um 1900 errichtet sein mochte. Die Jugendstildekoration war abgeschlagen, sei es durch Bomben oder durch die Beseitigung ihrer Spuren. Doch die Nüchternheit der Fassade kam ihrer Ansehnlichkeit zugute. Am linken Ende des Blocks öffnete sich eine Lücke, die mit einem Kinderspielplatz belebt war. Dahinter versperrte der Neubau eines Hotels die Sicht auf den S-Bahndamm, schirmte aber auch den Lärm der Züge ab. Die Häuserzeile verband reine Wohnbauten mit kleinen Geschäften und trendig wirkenden Gaststätten, die mit Tischen und Stühlen in den Gehsteig hinauswuchsen. Auf der Sonnenseite waren sie auch dicht besetzt, und die Schattenwürfe ungleich hoher Linden begleiteten die Straße mit einem Hauch vorsommerlicher Muße, die den Kuchen essenden Gästen scheinbar unbeschränkt zur Verfügung stand. Nur das Nachtlokal «Korsar» am linken Ende des Blocks hielt sich noch mit brandroten Marquisen bedeckt.
Im Berliner Jargon heiße die Straße «Schangpaule» - was ihr zum Boulevard fehle, ersetze sie unerbittlich durch Gemütlichkeit. Man müsse die Kuchenfresser verstehen, die hier ihre Zeit totschlügen, während sie sich über die Läufte beschwerten - auch wenn sie sich über das Gewicht, das sie auf ihre Stühlchen brächten, dann nicht wundern dürften. Dagegen biete Schangpaule wenige Schritte weiter drei Sorten Körperarbeit an: Pilates, Alexander und Cranio-sacral. - Trotz Judiths Spott hatte A. den Eindruck gewonnen, daß sie sich hier verhältnismäßig zu Hause fühlte. Im Schatten gegenüber warteten, unter blauen Marquisen, die weißgedeckten Tafeln eines italienischen Restaurants auf Gäste. A. überlegte schon vor Judiths Tür, ob er sie abends dahin einladen dürfte.
Die Sprechanlage schnarrte. Pierrot? fragte eine verfremdete Stimme. Vierte Etage, bitte.
A. drückte die Tür in ein marmorbelegtes Treppenhaus auf, wo der Bewegungsmelder zwei Kronleuchter anspringen ließ. Der rote Teppich führte an einer Doppelreihe Briefkästen vorbei und eine breite Halbtreppe hinauf zum Fahrstuhl im Zwischengeschoß. A. zog es vor, im Treppenhaus weiterzusteigen, dessen Prächtigkeit von einem Absatz zum andern weniger wurde. Nach der Beletage waren die Stufen hölzern, der rote Teppich ein Kokosläufer, die schwarzen Wohnungstüren einfacher. Diejenige mit Judiths Namensschild war nur angelehnt. Dann ging sie ganz auf. Judith, im Hosenkleid, schloß ihn in die Arme.
Ich habe dich schon vom Balkon aus gesehen. Etwas war dir nicht geheuer.
Sie ging ihm durch eine mehrtürige Diele ins Vorderzimmer voraus, wo das Fenster offenstand. Das Mobiliar badete im Nachmittagslicht, ein altertümliches lila Sofa und zwei gleichfarbige Fauteuils, einer mit Ohren. In der Mitte war der Glastisch zum Tee gedeckt. Was A. stutzen ließ, waren zwei - Schränke? nein: Beichtstühle aus gemasertem Holz, die einander wie verschlossene Altäre gegenüberstanden. Es gab einen verglasten Bücherschrank, gründerzeitliche Truhen und Kommoden sowie einen Sekretär im klassizistischen Stil, der auch im Gips der Deckengarnitur Triumphe feierte, mit Girlanden und Kinderköpfen in allen vier Ecken. Der große Raum wollte A. trotz Halberker nicht recht wohnlich erscheinen: er hatte etwas von einer Requisitenkammer und - wegen der Beichtstühle - einen Hauch von Sakristei.
So haben meine Eltern gewohnt. Im Brockenhaus findet sich noch dies und das.
Er trat auf den Balkon und blickte geradewegs in frisches Lindengrün, in dem ein leichter Wind blätterte. - Schön, sagte er.
Im Sommer sitzt man gerne draußen. Nimmst du den Großvatersessel?
Während sie im «Berliner Zimmer» verschwand, und angesichts des Rosenbuketts auf dem Tisch, sagte sich A., daß es an ihm gewesen wäre, Blumen mitzubringen. Zwischen den Möbeln hingen Fotografien, eine Serie «Nature morte» von Gilles gestochen scharf, aber auch Stills einiger Szenen aus Judiths «Kind».
Als sie mit einem Silbertablett wiederkam, fragte er, ob das Teegeschirr aus ihrem Elternhaus stamme. - Wie denn, antwortete sie beim Einschenken, aber die Königliche Porzellanmanufaktur stellt es immer noch her. - Für die Torte bürge sie. Aux Délices Normands, nicht selbstgebacken, aber selbst abgeholt.
Er aß und lobte. Dann fragte er: Wo sind die Beichtstühle her?
Wir reisten in Westfalen, und wo wir übernachteten, wurde gerade eine Kirche aufgelassen. Die Gemeinde stritt, ob sie abgerissen oder verkauft werden sollte, an einen Clubbesitzer. Die Beichtstühle standen im Regen. Da mietete Gilles einen Transporter, wir packten auch die Fahrräder hinein und brachten alles hierher. Er war sicher, sie seien aus Buchsholz. Einer hätte mir gereicht. Aber Gilles sagte: beide oder keinen. Die erste Beichte sei immer nur eine Formalität. Erst nach der Vergebung merke man, was man wirklich hätte beichten sollen. Dafür brauche man doch einen zweiten Beichtstuhl!
Judith, sagte A., als er das zweite Tortenstück abgelehnt hatte, ich muß etwas loswerden. Bei deiner ersten Treppenrede hast du gesagt: gegen Auschwitz hilft nur Vergessen.
Und?
Das sei natürlich nicht dein Ernst, schrieb die Presse.
Die muß es ja wissen.
Weil es den höchsten Grad von Verzweiflung ausdrücke, kommentierte ein freundlicher Kritiker.
Der hat mir nur verziehen, weil ich jüdisch bin. Da konnte er nicht anders.
Er verbot den Deutschen feierlich, dir auch nur ein Wort nachzusprechen.
Ja, das sind diese Verrenkungen. Sonderbehandlung wie gehabt, diesmal anständig. Anstand war ein Lieblingswort der Nazis.
Judith, ich verstehe dich auch nicht.
Du bist einfach zu nett, Schweizer. Nie gehört, daß Menschen morden, auch die bravsten, gerade die? Auch blind, wenn's ein Grundsatz verlangt. Der ist immer moralisch. Und wenn er über Nacht teuflisch aussieht, suchen sie die Schuldigen dafür, und sind die erst tot genug, dann wollen sie selbst Opfer gewesen sein. Dann kommen die nächsten Schuldigen dran. Schmeckt die Torte?
O ja.
Sieh dir mal Gesichter an, wenn sie versuchen, Reue zu tragen. Die erspare ich ihnen gern und mir auch. Wenn schon selbstgefällig, dann bitte ohne Selbstmitleid. Dafür sind meine Großeltern nicht umgekommen.
Bist du nicht ungerecht?
Immer. Zum Glück haben sie ihren Hitler, dem sie das Gröbste anhängen können. Immer noch der einzige Deutsche, den die ganze Welt kennt. Und ich habe nur zweieinhalb wohlmeinende Kritiker.
Sie meinen es gut.
Das kommt erschwerend hinzu. Musterschüler, auf ganzer Linie. Da lob ich mir die Japaner. Sie verzichten darauf, ihre Großväter zu beschämen. Dafür sind sie ihnen nicht tot genug.
Das nennt man auch Verdrängen.
Macht die traurige Miene zum Spiel das Spiel weniger traurig? fragte Judith. - Du willst besser aussehen, nachträglich, das ist alles. Ich verzichte auf Nachtragen in jeder Form. Und die feierlichste geniert mich besonders. Ist das so unbegreiflich?
Nicht alle heucheln.
Aber alle sind immer nur Menschen gewesen, und Reue braucht kein Getöse. Dafür hat man ein stilles Kämmerlein.
Den Beichtstuhl, sagte A.
Sie bellte kurz auf. - Ja, der hat Frats auch am meisten fasziniert.
War er denn hier?
Als drüben die Lange Nacht lief, besuchte er uns in der Wohnung.
Ich dachte, er fliegt zu Putin.
Das war eine Finte. Mit mir hatte er ein Hühnchen zu rupfen. Ich habe ihn «armes Kind» genannt. Da hat er uns Angebote gemacht, die wir nicht ablehnen konnten.
Angebote?
Er hat Gilles' Ausstellung an der Akademie gesehen und war hingerissen. - Was ist ...
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