Schweitzer Fachinformationen
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Ich setze mich auf das Sofa im Wohnzimmer, in meinen Lesesessel oder stütze meine Ellenbogen auf die Terrassenmauer und genieße mit allen Sinnen das Nichtstun. Der Lesesessel ist ein Geburtstagsgeschenk von Cecilia. Ich drücke nach hinten, und sobald die Rückenlehne nachgibt, hebt sich vorne eine gepolsterte Fußstütze in die Höhe. Es ist, als würde man schwerelos im Raum schweben, die Füße von sich gestreckt wie ein Astronaut. Ich kann immer noch nicht glauben, dass der aufreibende Umzug übers Meer in so kurzer Zeit vonstattenging, das Einrichten einer neuen Wohnung in einer neuen Stadt in einem anderen Land, in dem alles wieder neu gelernt werden muss. Ich setze mich zum Nichtstun und zum Warten hin, mit Luria an meiner Seite. Im Treppenhaus höre ich die Schritte von Nachbarn. Schon möchte ich mir vorstellen, wie Cecilias vertraute Schritte dort klingen, wenn sie mit ihren Sommersandalen die Treppe rauf- und runtereilt. Sonst gibt es nichts zu tun. Stundenlang lesen oder Musik hören oder sich um Mitternacht Fernsehsendungen auf den internationalen Kanälen ansehen, sind verschiedene Formen des Nichtstuns. Außer beim Lesen ist Luria bei allem dabei. Sie setzt sich neben mich vor den Fernseher und sitzt verzückt lauschend vor den Lautsprechern der Stereoanlage. Cecilia sagt, in Lurias Innenohr befänden sich tausend Mal mehr Nervenenden als in unserem. Luria hört lieber Schallplatten als CDs, lieber Kammermusik als Symphonien, und die Stimme von Billie Holiday zieht sie jeder anderen Gesangsaufnahme vor.
Ich habe nicht vor, je wieder zu arbeiten: keinen einzigen Tag, keine einzige Stunde. Sobald er angelegt ist, werde ich mich um den Garten kümmern. Morgens werde ich mit dem Rucksack über der Schulter zum Campo de Ourique gehen und die Einkäufe erledigen. Ich werde für Cecilia kochen. Ich werde mehr Sorgfalt auf das Einordnen meiner Bücher, meiner Platten und meiner Filme verwenden. Ich werde mit Luria gesunde Spaziergänge unternehmen, die ihrer Neigung zur Trägheit entgegenwirken sollen. Ich werde nach guten Bäckereien suchen, sodass wir jeden Morgen ein vielfältiges und schmackhaftes Frühstück haben, wenn möglich an dem blau bemalten Eisentisch auf der Terrasse, solange das Wetter gut ist. Die Unternehmensgangster, die mich ausgebeutet und ausgewrungen haben, die mich gezwungen haben, mich selbst und all jene, die während meines Berufslebens unter mir standen, auszubeuten und auszuwringen, und die mich danach mit dem bürokratischen Äquivalent eines Tritts in den Arsch oder besser in den Magen entlassen haben, haben es geschafft, mir mit wohlwollender Hilfe von Gesetzen und Unternehmensanwälten die niedrigste Abfindung zu zahlen, die ihnen möglich war. In Anbetracht der lebenslangen Haft, mit der ich sie mir erkauft habe, bekomme ich eine höchst mittelmäßige Pension. Ich habe jedoch genug gespart, um anspruchslos leben zu können, bis das Ende der Welt kommt oder sämtliche Systeme zusammenbrechen, die Wasser-, Energie- oder Nahrungsmittelversorgung, die digitalen Zahlungssysteme, die Banken. Mein Freund Dan Morrison, der seine Ausbildung in theoretischer Physik einer Investmentfirma der Wall Street zur Verfügung stellte, bis man ihn 2008 entlassen hat, sagt, das weltweite Finanzsystem sei ungefähr so stabil wie eine Seifenblase. Alexis hat mir erzählt, dass während der Zeit des »corralito« in Argentinien das Geld einfach verschwand und seinen Wert verlor, sodass die Leute über Nacht mit großem Geschick anfingen, eine wirksame Tauschwirtschaft zu betreiben. »Es war unglaublich. Ich habe einen kaputten frigidaire repariert, und die Señora hat mir als Bezahlung ein Dutzend Eier gegeben.« Im Moment bin ich froh, ohne Probleme auf mein Bankkonto zugreifen zu können und festzustellen, dass in naher Zukunft keine Geldnot droht. Die Möglichkeit einer Bankenpleite oder plötzlich ausbrechenden Panik an den Finanzmärkten, die alles zunichtemacht, oder eines terroristischen Atomangriffs besteht jederzeit. Aber es gibt Unsicherheiten, vor denen man sich nicht schützen kann. Ich sagte Cecilia, ich hätte auf einer Internetseite gelesen, dass man vernünftigerweise wenigstens einen Teil seiner Ersparnisse in Gold oder Diamanten anlegen solle, und ohne den Blick von dem wissenschaftlichen paper abzuwenden, in dem sie las, antwortete sie mir, ob ich nicht vielleicht etwas paranoid würde.
Ich merke, dass ich sehr viel weniger brauche, als ich geglaubt habe. Cecilias unfehlbarer Scharfsinn besteht zur Hälfte aus reiner Intuition und zur Hälfte aus der Disziplin wissenschaftlichen Denkens. Auf jener Reise war es ihre Idee, diese Wohnung zu kaufen. Portugal war ein Land im Konkurs. Lissabon war eine Stadt der Schönheit und der Schwermut, der Pracht und des Verfalls, nicht abgeholten Mülls, leer stehender Häuser und beschmierter Mauern. Eines Morgens gingen wir spazieren und sahen diese stille unberührte Straße. Bis dahin hatten wir noch nie daran gedacht, aus New York fortzuziehen. Wir hatte unsere Wohnung, Cecilia ihr Labor, ich meine unsägliche Arbeit, von der mich zu befreien ich nie geschafft hatte, die mir nie eine Atempause erlaubt oder gegönnt hatte, um etwas anderes auszuprobieren. Cecilia ging an jenem Morgen leichtfüßiger als sonst, da sie sich Stiefel wie von einer Suffragette aus der Zeit der Jahrhundertwende gekauft hatte und weil ihr Vortrag auf dem Kongress ein Erfolg gewesen war. Sie trug ein schwarzes Kostüm mit einer weißen Gardenie aus Seide am Revers. Ahnungslos und ohne Einladung hatte ich hinten im Saal gesessen und in den allgemeinen Applaus eingestimmt, im Stillen meinen ehemännlichen Stolz ausgekostet. An einem Pult auf der im Halbdunkel liegenden Bühne wurde Cecilias Gesicht vom Bildschirm ihres Laptops beleuchtet, ihre Gestalt vor einem sehr viel größeren Bildschirm umrissen, auf dem Bilder von Gehirnströmen und Magnetresonanzen zu sehen waren, weiße Flecken, die sich fließend bewegten wie von einem Satelliten übertragene Wolkenformationen. An einer Seite des Saals wurde ein großer Vorhang aufgezogen, und hinter einer Wand aus Glas erschien die weite Tejo-Mündung. Wann immer sie wolle, könne sie einen Arbeitsplatz mit Labor in einem großen europäischen Zentrum bekommen, direkt hier in Lissabon, in diesem weißen, futuristischen Gebäude am Ufer des Flusses, in dem der Kongress stattgefunden hatte. Später stiegen wir die gepflasterten Straßen hinter dem Hotel hinauf, und als wir um eine Ecke bogen, erblickten wir plötzlich den Fluss und die Brücke, in der Ferne und ganz nah, die Türme mit ihren Balkonen, die rosafarbenen Gartenmauern. An einer Straßenecke sahen wir die Werkstatt eines Flickschusters. Wir sahen eine Frau mit dicken Brillengläsern im Fenster einer Erdgeschosswohnung, die hinter uns her schaute. Wir sahen eine Katze, die sich auf dem grasbewachsenen Balkon eines anscheinend unbewohnten Hauses sonnte. Wir sahen das Schild »Zu verkaufen« an einem Balkon dieses Hauses. Cecilia ist sehr viel reaktionsschneller als ich und telefonierte bereits.
Auf genau diesem Balkon stehe ich jetzt. Durch die Balkontür des Hauses gegenüber sehe ich manchmal einen Mann mit wirrem weißen Haar, der noch fauler zu sein scheint als ich, da er den ganzen Tag in Schlafanzug und Morgenmantel herumläuft. In den Fenstern im obersten Stock des gegenüberliegenden Hauses spiegeln sich wie Filmsequenzen die vorüberfliegenden Flugzeuge. Es ist eine stille Straße mit sehr wenig Verkehr. Flögen die Flugzeuge nicht darüber hinweg, wäre es vollkommen still. Nähert sich ein Auto, hört man den Motor schon, bevor man es sieht. Wenn ich die Balkontür offen lasse, kommt Luria von wo immer sie sich gerade aufhält angerannt und schaut auf die Straße, spitzt die Ohren, und der Schwanz wischt mit fächerartigen Bewegungen über den Boden. In manchen Nächten ist die Stille so vollkommen, dass ich mit erwartungsvoll klopfendem Herzen aufwache, wenn ein Auto um die Ecke biegt und anhält.
Von jetzt an haben wir keine großen Ausgaben mehr. Der unablässigen Beeinträchtigung, die das Leben in New York darstellt, sind wir entronnen. An jeder Straßenecke dieses Viertels findet man eine Bäckerei oder ein Restaurant mit preisgünstigem, schmackhaftem Essen. Der größte Teil der Sachen, die wir fürs tägliche Leben brauchen, kam in dem Umzugscontainer. Ich muss dabei an die Romane von unbewohnten Inseln denken, die ich mit zwölf oder dreizehn Jahren verschlungen habe, an den Moment, wenn die Überlebenden eines Schiffbruchs die Dinge zählen, die sie retten konnten oder die das Meer an den Strand gespült hat und mit denen sie von nun an auskommen müssen. Nachdem die Wohnung eingerichtet ist, mache ich Inventur meines häuslichen Besitzes, gehe von Zimmer zu Zimmer, untersuche Kartons, Regale und Schränke. Das Ergebnis ist ein Gefühl von bescheidener Opulenz. In nächster Zeit werde ich nichts Kostspieliges mehr anschaffen müssen. Unsere Sachen tauchten unversehrt aus den Kartons und Plastikverpackungen auf, die die Umzugsarbeiter wütend vor mir aufrissen. Mit einem auf dem Balkon installierten Flaschenzug wurden die Bücherkisten hochgeholt. Es hatte etwas von einem Zauber, wenn aus einer Verpackung aus Zeitungspapier und Klebeband plötzlich ein Bär aus Holz oder ein Modellsegelschiff zum Vorschein kam. Ich öffnete Kartons, als wären es mögliche Schatzkisten: unsere gerahmten Fotos, der lächelnde Seemann aus Porzellan, der eine Kiste mit einem Spardosenschlitz auf der Schulter trägt, die bemalte Holzente, die als Köder für die Jagd auf richtige Enten diente, der afrikanische Kuhkopf, der aus einem Stück von Wind und Wetter gebleichtem Treibholz geschnitzte Wal, all unsere nützlichen und nutzlosen Funde. Sogar unser alter Telefonapparat, den eingepackt zu haben ich mich gar nicht mehr erinnern konnte, mit...
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