Schweitzer Fachinformationen
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Die Angst hat mich im Innern des Bewusstseins eines anderen aufgeweckt; die Angst und die Vergiftungen der Lektüre und der Suche. Es ist, als hätte ich die Augen in einem Zimmer aufgeschlagen, welches nicht dasselbe ist wie das, in dem ich eingeschlafen bin. Noch beim Aufwachen hielt die Panik des Traums an. Ich hatte eine Straftat begangen oder wurde zumindest verfolgt und war verurteilt worden, obwohl ich unschuldig war. Jemand richtete eine Pistole auf mich, und ich war gelähmt, konnte mich weder wehren noch konnte ich fliehen. Schon bevor das Bewusstsein gänzlich schwindet, beginnt der Romancier, den jeder heimlich in sich trägt, seine Geschichte mit all ihren Ausschmückungen zu umreißen. Das dunkle Zimmer war gewölbt und hatte eine niedrige Decke wie eine Höhle oder ein Keller oder das Innere eines Schädels, in dem das Gehirn dieses Jemand untergebracht ist, der aber nicht ich bin; sein fieberndes Bewusstsein nach zu vielen Stunden des Lesens oder einsamen Grübelns, all seine Erinnerungen, seine körperlichen Eigenheiten, die Bildergalerie seines Lebens, seine Neigung zu Herzrasen, seine Einbildung, sich tödliche Krankheiten eingefangen zu haben, Krebs, Angina Pectoris, seine Angewohnheit, sich zu verstecken und zu fliehen.
Ich bin aufgewacht und hatte einen Moment lang vergessen, wo ich mich befand, und ich war wie er oder war er, weil mein Traum mehr seiner war als meiner. Mich verwirrte die Unfähigkeit, das Schlafzimmer wiederzuerkennen, in dem ich vor kaum zwei Stunden eingeschlafen war. Ich hatte keine Vorstellung, wo das Bett stand, das Fenster war, die Möbel und auch nicht von meinem Platz im plötzlich unbekannten Raum. Nur mit Mühe erinnerte ich mich, in welcher Stadt ich mich befand. Ihm wird das häufig passiert sein, nachdem er in so vielen geschlafen hat und aufgewacht ist im Laufe seiner etwas mehr als einjährigen Flucht, dreizehn Monate und drei Wochen genau, in fünf Ländern und etwa fünfzehn Städten, auf zwei Kontinenten, nicht zu reden von den Zimmern in Motels am Rand einer Landstraße und den Nächten, die er an einem Baumstamm zusammengerollt wie ein Tier verbracht hat oder unter einer Brücke, auf dem Rücksitz des Autos oder in einem nach Zigarettenqualm und Plastik riechenden Bus, der um drei Uhr morgens in der Tiefgarage eines Bahnhofs hielt. So auch in dieser bestürzenden Nacht, der ersten, die er in einem Flugzeug verbrachte; der ersten, in der er flog, starr vor Angst, den Blick durch das ovale Fensterchen nach unten gerichtet wie in einen Abgrund, auf die Wasserfläche des Ozeans, auf ihren öligen Tintenglanz im Lichtschein des Mondes.
Der Traum, aus dem ich aufgewacht bin, könnte seiner sein, obwohl er nicht darin vorkam. Zu viele Stunden habe ich mich in sein Leben versenkt, Tage schon, seit ich in Lissabon angekommen bin. Man muss nur ein paar Sekunden auf dem Laptop herumtippen, und schon kann man die Dateien aufrufen, die beinahe alles dokumentieren, was er getan hat, die Orte, an denen er gewesen ist, die Verbrechen, die er begangen hat, die Gefängnisse, in denen er Strafen abgesessen hat, sogar die Namen der Frauen, mit denen er eine Nacht verbracht oder in einer Bar getrunken hat. Ich weiß, welche Zeitschriften und Romane er gelesen hat und von welcher Marke die Tüte mit dem Salzgebäck war, die er halb leer in einem in Atlanta gemieteten Zimmer zurückließ, in dem er nicht registriert wurde, weil der Besitzer so betrunken war, dass er ihm das Gästebuch vorzulegen vergaß. Auf fotokopierten und eingescannten Seiten alter Akten findet sich eine Liste der schmutzigen Wäsche, die er am 1. April 1968 in einer Wäscherei in Atlanta abgab und am Vormittag des 5. April wieder holte, oder das Gerichtsgutachten über die Flugbahn der Kugel, die er tags zuvor, am 4. April, aus dem Badezimmer eines Gästehauses in Memphis abgefeuert hat, wobei er den Lauf eines Remington-.30-06-Gewehrs auf dem Fensterbrett aufgelegt hielt, oder auch die Erklärung eines Gesichtschirurgen, der in Los Angeles seine Nasenspitze operierte, oder die Kopie eines Fingerabdrucks auf einem aus einer Fotozeitschrift ausgeschnittenen Bestellcoupon.
Selbst ein Leben im Verborgenen hinterlässt unauslöschliche Spuren. Damals waren den Werbeanzeigen in Zeitschriften noch Bestellcoupons beigefügt, mit Kästchen, in die in Druckbuchstaben ein Name oder eine Anschrift eingetragen werden musste, und auf einer gepunkteten Linie hatte die Unterschrift zu stehen. Das Maßlose der Wirklichkeit bringt Staunen und Schlaflosigkeit ohne Maß hervor. Es ist erstaunlich, was man über einen Menschen in Erfahrung bringen kann, von dem man eigentlich nichts weiß, weil er nie gesagt hat, was zu sagen wirklich wichtig gewesen wäre: stattdessen ein dunkles Loch, eine Leerstelle; ein Foto in einer Polizeiakte; die groben Striche einer nach lückenhaften Zeugenaussagen und ungenauen Erinnerungen gefertigten Phantomzeichnung. Er lebte von löslichem Kaffee, den er mit einem Tauchsieder direkt in der Tasse erhitzte, von Milchpulver, eingemachten Bohnen, in Senf getunkten oder mit Kraft-Mayonnaise garnierten Pommes frites. Er aß in billigen Schnellrestaurants, wo er Hamburger mit viel Zwiebeln, viel Bacon, Ketchup und Käse bestellte und sich die Pommes in den Mund stopfte. Es gab welche, die erinnerten sich an ihn als Linkshänder, andere, dass er mit rechts unterschrieb und mit der Rechten auch seine Zigaretten hielt. Auf manchen Steckbriefen wird sein Haar als dunkelblond, auf anderen als schwarz mit angegrauten Schläfen beschrieben. Mitten auf der Stirn hatte er eine kleine Narbe und eine weitere auf der Handfläche. Man erinnerte sich, dass er beim Rauchen die Zigarette zwischen den Fingern der rechten Hand hielt, an deren Ringfinger er einen goldenen Ring mit dunkelgrünem Stein trug. Aber tatsächlich rauchte er weder, noch trug er Ringe. Ein Ring ist so ein Detail, das der Erinnerung gern auf die Sprünge hilft und eine Identifizierung ermöglicht. Er hat sich nie tätowieren lassen.
Bis spät in der Nacht suchte ich im schlaflosen Gedächtnis des Internets nach Spuren von ihm und war, als ich das Licht löschte, noch so erfüllt davon, dass mir die Augen brannten, mir weiter Daten, Namen, Kleinigkeiten durch den Kopf gingen, behaftet mit dem Chitin des Wirklichen, dem, was kein Mensch sich ausdenken kann. Um im Gefängnis in Form zu bleiben, lernte er, im Handstand zu gehen und sich in kleinste Hohlräume zu zwängen, indem er komplizierte Yogahaltungen einnahm. Gewicht zuzulegen und wieder zu verlieren fiel ihm leicht. Immer wieder fotografierte er sich mit einer Polaroidkamera, die er bis zum Schluss bei sich hatte: mit Sonnenbrille und ohne, mit Lesebrille, stets im Halbprofil, schräg von unten, nie von der Seite, weil das Profil zu charakteristisch war, auch nach der Nasenoperation noch, und ebenso wenig von vorn, damit man die abstehenden Ohren nicht sah. Er schickte Fotos an Kontaktbörsen und glaubte, mit ihrer Verschiedenartigkeit für Verwirrung zu sorgen, wenn es zu der unvermeidlichen Jagd auf ihn käme. Auf einer Abendschule für Hotel- und Gaststättengewerbe in Los Angeles lernte er, hundertzwanzig verschiedene Cocktails zu mixen. Mehrere Monate lang belegte er einen Fernkurs für Schlosserei an einer Schule in New Jersey. Unter seinen Papieren fand sich eine Broschüre über die Vorteile des Schlosserhandwerks als Beruf mit Zukunft. Mit neun oder zehn Jahren schreckte er nachts, geplagt von schrecklichen Albträumen, aus dem Schlaf, wobei er am meisten über die eigenen Schreie erschrak. Er hatte geträumt, er sei blind geworden. Er zwang sich, wach zu werden, schlug die Augen auf und konnte nichts sehen, weil er bereits in einem weiteren Blindheitstraum gelandet war. Er fürchtete sich so vor dem Einschlafen und der Rückkehr der Albträume, dass er bis Tagesanbruch wach zu bleiben versuchte. In der Dunkelheit hörte er vermutlich das betrunkene Schnarchen seines Vaters und seiner Mutter, die wie Säcke übereinander auf der Matratze ohne Decke und Laken lagen, zugedeckt mit Lumpen und alten Jacken. Auf Strohsäcken lagen auf dem halb herausgerissenen Bretterboden seine Geschwister wie ein Wurf junger Hunde, voller Flöhe und Läuse, hungrig, gegen die winterliche Kälte eng aneinandergeschmiegt im einzigen Zimmer, in dem ein alter Ofen toxisch vor sich hin qualmte.
Ich weiß mittlerweile so viel über ihn, dass ich mich an Dinge aus seinem Leben zu erinnern glaube, an Orte, die er sah und ich nie gesehen habe. Die Wüste von Nevada, durchzogen von einer schnurgeraden Straße, die nach Las Vegas führt; die von niedrigen Häusern gesäumten, staubigen Straßen von Puerto Vallarta; die hallenden Korridore eines Gefängnisses mit Steinmauern, zinnenbewehrten Türmen und düsteren gotischen Bögen; das flache Gebäude des Lorraine Motel, betrachtet vom Fenster eines Badezimmers aus, in dem es nach Urin und Abfluss riecht und das hinter einem vermüllten, von Gestrüpp überwucherten Grundstück in einem heruntergekommenen Viertel am Stadtrand von Memphis gelegen ist.
Ich habe beschlossen, dass ich nichts anderes tun kann, als nach Memphis zu reisen. Ich habe die Anschrift des Hotels in Lissabon notiert, in dem er vor fünfundvierzig Jahren zehn seiner Tage auf der Flucht verbracht hat. Bei der Suche auf Google habe ich entdeckt, dass das Hotel immer noch existiert und dass ich, wenn ich will, in weniger als einer Viertelstunde dort sein kann. Was bislang nur in meiner Vorstellung existierte, ist in diesem Augenblick unmittelbare Wirklichkeit geworden. Ein Traum von Verfolgung, von Gefahr und von Scham hat mich aufgeweckt, der seiner hätte sein können und den zweifellos meine Nachforschungen über ihn ausgelöst haben, die mich erst spät zu Bett gehen ließen und den Schlaf vertrieben, gegen den ich mich stemme, während ich gebannt vor dem Bildschirm meines Laptops saß, tief über den Schreibtisch...
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