Schweitzer Fachinformationen
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In der Nacht - oder in der Zeit, in der sie geschlafen hatte - war eine dicke Schicht Schnee gefallen.
Meine Mutter stand an einem großen Bogenfenster, wie man es in einem Herrenhaus oder einem altmodischen öffentlichen Gebäude findet, und sah hinaus. Sie blickte auf Wiesen und Sträucher, auf Hecken, Blumengärten und Bäume, alle mit Schnee bedeckt, der in Polstern und Kissen lag, nicht vom Wind verweht oder geebnet. Sein Weiß tat den Augen nicht weh, wie im Sonnenlicht. Es war das Weiß von Schnee unter einem klaren Himmel kurz vor Tagesanbruch. Alles war still, so still wie in der Heiligen Nacht.
Doch etwas stimmte nicht. Die Szene hatte einen Fehler. Alle Bäume, alle Sträucher und Stauden standen in vollem Sommerlaub. Das Gras unter ihnen, an vor dem Schnee geschützten Stellen, war frisch und grün. Schnee hatte sich über Nacht auf die Fülle des Sommers gesenkt. Ein Wechsel der Jahreszeit, unerklärlich, unerwartet. Auch waren alle fortgegangen - obwohl unklar blieb, wer »alle« waren, und meine Mutter war ganz allein in dem hohen, geräumigen Haus inmitten seiner Garten- und Parkanlagen.
Sie dachte, was auch geschehen war, man würde es ihr sicher bald mitteilen. Doch niemand kam. Das Telefon klingelte nicht; die Gartenpforte wurde nicht geöffnet. Sie konnte keinen Verkehrslärm hören, sie wusste nicht einmal, in welcher Richtung die Straße lag - oder der Weg, falls sie draußen auf dem Lande war. Sie musste aus dem Haus hinaus, in dem die Luft schwer und stickig war.
Als sie herauskam, fiel es ihr wieder ein. Sie erinnerte sich, dass sie das Baby irgendwo draußen gelassen hatte, bevor der Schnee gefallen war. Lange, bevor der Schnee gefallen war. Diese Erinnerung, diese Gewissheit überkam sie mit Entsetzen. Es war, als erwachte sie aus einem Traum. Innerhalb ihres Traums erwachte sie aus einem Traum, zu einem Wissen von ihrer Verantwortung und ihrem Fehler. Sie hatte ihr Baby über Nacht draußen gelassen, sie hatte es vergessen. Es irgendwo liegen lassen, wie eine Puppe, die ihr langweilig geworden war. Und vielleicht hatte sie das nicht am vorigen Abend, sondern vor einer Woche oder vor einem Monat getan. Eine ganze Jahreszeit oder mehrere Jahreszeiten lang hatte sie ihr Baby draußen gelassen. Sie war mit anderem beschäftigt gewesen. Es konnte sogar sein, dass sie von hier weggefahren und gerade erst zurückgekommen war, ohne zu wissen, zu was sie zurückkehrte.
Sie ging umher und suchte unter Hecken und breitblättrigen Stauden. Sie hatte vor Augen, wie stark das Baby eingeschrumpft sein musste. Tot, braun und verschrumpelt, sein Kopf wie eine Nuss, auf seinem winzigen, verschlossenen Gesicht ein Ausdruck nicht der Qual, sondern von schmerzlichem Verlust, von lange und geduldig ertragenem Leid. Keinerlei Anklage gegen sie, seine Mutter - nur diese Miene der Geduld und der Hilflosigkeit, mit der es auf seine Rettung oder sein Schicksal gewartet hatte.
Kummer ergriff meine Mutter, Mitgefühl mit dem Baby, wie es gewartet und nicht gewusst hatte, dass es auf sie wartete, seine einzige Hoffnung, während sie es völlig vergessen hatte. Ein Baby, noch so klein, dass es dem Schnee hilflos ausgeliefert war. Vor Kummer konnte sie kaum atmen. In ihr würde nie wieder Raum für irgendetwas anderes sein. Nur noch Raum für die Erkenntnis, was sie getan hatte.
Welch eine Erlösung für sie, ihr Baby in seiner Wiege zu finden. Auf dem Bauch liegend, den Kopf zur Seite gewandt, seine Haut hell und zart wie Schneeglöckchen, der Flaum auf seinem Kopf rötlich wie die Morgendämmerung. Rotes Haar wie ihr eigenes, also unverkennbar ihr Baby, und gesund und munter. Die Freude, Vergebung zu finden.
Der Schnee und die belaubten Gärten und das fremde Haus waren verschwunden. Das einzig Weiße war die Decke in der Wiege. Eine Babydecke aus dünner, weißer Wolle, vom nackten Rücken des Babys heruntergerutscht. In der Hitze, der wirklichen Sommerhitze, hatte das Baby nur eine Windel und darüber ein Plastikhöschen an, damit das Laken trocken blieb. Das Plastikhöschen war mit Schmetterlingen gemustert.
Meine Mutter, die zweifellos noch an den Schnee dachte und an die Kälte, die den Schnee für gewöhnlich begleitet, zog die Decke hoch über den bloßen Rücken, die Schultern, den mit rotem Flaum bedeckten Hinterkopf.
Es ist früher Morgen, als dies in der wirklichen Welt geschieht. Der Welt im Juli 1945. Zu einer Tageszeit, zu der es sonst an jedem anderen Morgen seine erste Mahlzeit fordert, schläft das Baby weiter. Meine Mutter ist zwar auf den Beinen und hat die Augen offen, ist aber viel zu schlaftrunken, um sich darüber zu wundern. Baby und Mutter sind erschöpft von einem langen Zweikampf, und die Mutter hat sogar das für den Augenblick vergessen. Einige Schaltkreise sind lahm gelegt; undurchdringliche Stille hat sich auf ihr Hirn und das ihres Babys gesenkt. Die Mutter - meine Mutter - merkt nichts von dem Tageslicht, das immer heller wird. Sie begreift nicht, dass die Sonne aufgeht, während sie dort steht. Keinerlei Erinnerungen an den Tag zuvor oder an das, was um Mitternacht geschah, rüttelten sie wach. Sie zieht die Decke über den Kopf ihres Babys, über sein sanftes, zufrieden schlafendes Profil. Sie tappt in ihr Zimmer zurück und fällt aufs Bett und ist sofort wieder bewusstlos.
Das Haus, in dem dies geschieht, ist völlig anders als das Haus im Traum. Ein anderthalbgeschossiges weißes Holzhaus, beengt, aber solide, mit einer Veranda, die fast bis an den Bürgersteig reicht, und einem Erkerfenster im Wohnzimmer, das auf ein von Hecken umgebenes Gärtchen blickt. Es steht in einer Seitenstraße einer Kleinstadt, die sich - für einen Ortsfremden - in nichts von vielen anderen Kleinstädten unterscheidet, denen man im Abstand von fünfzehn bis fünfundzwanzig Kilometern im einst dicht bevölkerten Ackerland am Lake Huron begegnet. Mein Vater und seine Schwestern wuchsen in diesem Haus auf, und die Schwestern mit Mutter lebten immer noch dort, als meine Mutter zu ihnen zog - und ich ebenfalls, groß und lebhaft in ihrem Bauch, nachdem mein Vater in den letzten Kriegswochen in Europa gefallen war.
Meine Mutter - Jill - steht am hellen, späten Nachmittag neben dem Wohnzimmertisch. Das Haus ist voller Leute, die hierher eingeladen worden sind, nach dem Trauergottesdienst in der Kirche. Sie trinken Tee und Kaffee und bringen es fertig, die Schnittchen in der Hand zu halten, die Scheiben Bananenbrot, Nuss- und Früchtekuchen. Die Eiercreme- und Rosinentörtchen mit ihrem krümeligen Teig sollen mit einer Kuchengabel von einem der Porzellantellerchen gegessen werden, die Jills Schwiegermutter in ihrer Brautzeit mit Veilchen bemalt hat. Jill nimmt sich alles mit den Fingern. Kuchenkrümel, auch eine Rosine sind auf ihr Kleid gefallen und an dessen grünem Samt kleben geblieben. Das Kleid ist für den Tag viel zu warm, und es ist gar kein Umstandskleid, sondern ein weites, wallendes Gewand, das für ihre Konzerte angefertigt worden ist, wenn sie öffentlich auftritt und Geige spielt. Der Saum ist vorn ein ganzes Stück kürzer, durch mich. Aber sie besitzt sonst nichts, was groß genug und gut genug ist, um beim Trauergottesdienst für ihren Mann getragen zu werden.
Was isst sie denn so viel? Es fällt den Leuten auf. »Isst für zwei«, sagt Ailsa zu einer Gruppe ihrer Gäste, damit die sie nicht mit Bemerkungen über ihre Schwägerin übertrumpfen können.
Jill ist den ganzen Tag lang übel gewesen, bis sie in der Kirche, als ihr durch den Kopf ging, wie schlecht die Orgel war, auf einmal merkte, dass sie urplötzlich einen Bärenhunger hatte. Während des gesamten Chorals »O tapfere Herzen« dachte sie an einen fetten Hamburger, der von Fleischsaft und geschmolzener Mayonnaise troff, und jetzt versucht sie herauszufinden, welches Gemengsel aus Walnüssen, Rosinen und braunem Zucker, welche zahnwehsüße Kokosglasur oder welcher besänftigende Mund voll Bananenbrot oder Eiercreme als Ersatz dienen kann. Natürlich alles nicht, aber sie versucht es weiter. Als ihr echter Hunger gestillt ist, quält sie weiterhin ihr eingebildeter Hunger und stärker noch eine an Panik grenzende Gereiztheit, die sie zwingt, sich den Mund voll zu stopfen, obwohl sie kaum noch etwas schmeckt. Sie ist außerstande, diese Gereiztheit zu beschreiben, kann höchstens sagen, dass sie etwas mit Pelzigkeit und Eingeengtheit zu tun hat. Die Berberitzenhecke draußen vor dem Fenster, dicht und stachelig im Sonnenlicht, das Samtkleid, das an ihren feuchten Achselhöhlen klebt, die wie zu Sträußchen aufgesteckten Löckchen - von derselben Farbe wie die Rosinen in den Törtchen - auf dem Kopf ihrer Schwägerin Ailsa, sogar die aufgemalten Veilchen, die wie Schorf aussehen, den man von den Tellern abkratzen kann, alle diese Dinge kommen ihr besonders abscheulich und bedrückend vor, obwohl sie weiß, dass sie völlig alltäglich sind. Sie scheinen eine Botschaft über ihr neues und unerwartetes Leben zu enthalten.
Warum unerwartet? Sie weiß seit einiger Zeit von mir, und sie hat auch gewusst, dass George Kirkham fallen konnte. Schließlich war er bei der Luftwaffe. (Um sie herum im Haus der Kirkhams sagen die Leute an diesem Nachmittag - obwohl nicht zu ihr, der Witwe, oder zu den Schwestern -, dass er einer von den Jungen war, von denen man wusste, sie würden fallen. Sie meinen damit, dass er ein strahlender junger Mann und der Stolz seiner Familie war, einer, auf dem alle Hoffnungen ruhten.) Sie wusste das, aber sie lebte genauso weiter wie vorher, stieg an dunklen Wintermorgen mit ihrem Geigenkasten in die Straßenbahn und fuhr zum Konservatorium, wo sie stundenlang...
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