Schweitzer Fachinformationen
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Louisa öffnete den Brief, der an diesem Tag aus Übersee eingetroffen war, im Speisesaal des Commercial Hotel. Sie aß Steak mit Kartoffeln, wie üblich, und trank ein Glas Wein. Mit im Raum saßen ein paar Handlungsreisende und der Zahnarzt, der jeden Abend dort aß, weil er Witwer war. Er hatte anfangs Interesse an ihr gezeigt, aber ihr gesagt, er habe noch nie eine Frau gesehen, die Wein oder Spirituosen anrührte.
»Ich mache es für meine Gesundheit«, sagte Louisa ernst.
Die weißen Tischtücher wurden wöchentlich gewechselt und in der Zwischenzeit mit Wachstuchsets geschont. Im Winter roch der Speisesaal nach diesen mit Küchenlappen gewischten Sets und den Kohlengasen aus dem Ofen, nach Rindersoße und angetrockneten Kartoffeln und Zwiebeln - ein Geruch, der niemandem, der hungrig aus der Kälte hereinkam, zuwider war. Auf jedem Tisch stand eine kleine Menage mit dem Fläschchen brauner Soße, dem Fläschchen Tomatensoße und dem Töpfchen Meerrettich.
Der Brief trug die Anschrift »An die Bibliothekarin, Carstairs Public Library, Carstairs, Ontario«. Er war sechs Wochen zuvor datiert - 4. Januar 1917.
Sie werden vielleicht überrascht sein, von einem Menschen zu hören, den Sie nicht kennen und der sich Ihres Namens nicht erinnert. Ich hoffe, Sie sind noch dieselbe Bibliothekarin, auch wenn es nach so langer Zeit gut möglich wäre, dass Sie fortgegangen sind.
Was mich hier ins Lazarett gebracht hat, ist nichts sehr Ernstes. Ich sehe überall um mich herum Schlimmeres und lenke mich davon ab, indem ich mir allerlei vorstelle und mich zum Beispiel frage, ob Sie noch dort in der Bücherei sind. Wenn Sie diejenige sind, die ich meine, sind Sie etwa mittelgroß oder vielleicht etwas kleiner, mit hellem bräunlichem Haar. Sie haben ein paar Monate vor meiner Einberufung die Nachfolge von Miss Tamblyn angetreten, die schon dort war, als ich mit neun oder zehn begann, in die Bücherei zu gehen. Zu ihrer Zeit standen die Bücher kunterbunt durcheinander, und es war eine echte Mutprobe, sie auch nur um die geringste Hilfe zu bitten, weil sie ein rechter Drache war. Als Sie dann kamen - was für eine Veränderung - wurde alles nach Romanen und Sachbüchern und Geschichte und Reise sortiert, und Sie ordneten die Zeitschriften der Reihenfolge nach und legten sie gleich nach ihrem Eintreffen aus, anstatt sie vermodern zu lassen, bis alles, was drinstand, veraltet war. Ich war dankbar, ohne zu wissen, wie ich es sagen sollte. Und ich fragte mich, was Sie dorthin verschlagen hatte, Sie waren eine gebildete Frau.
Ich heiße Jack Agnew, und meine Karte steckt in der Schublade. Das letzte Buch, das ich ausgeliehen habe, war sehr gut - H.G. Wells, Mankind in the Making. Ich bin bis zur zweiten Highschool-Klasse auf die Schule gegangen und habe dann wie so viele bei Douds angefangen. Ich habe mich nicht gleich gemeldet, als ich achtzehn wurde, deshalb werden Sie mich nicht für einen mutigen Mann halten. Ich bin ein Mensch, der stets zu eigenen Vorstellungen neigt. Mein einziger Angehöriger in Carstairs oder sonst irgendwo ist mein Vater Patrick Agnew. Er arbeitet bei Douds, nicht in der Fabrik, sondern als Gärtner bei ihnen zu Hause. Er ist noch mehr ein Einzelgänger als ich und geht bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bietet, raus aufs Land zum Angeln. Ich schreibe ihm von Zeit zu Zeit einen Brief, aber ich bezweifle, dass er ihn liest.
Nach dem Abendessen ging Louisa nach oben ins Damenzimmer und setzte sich an den Schreibtisch, um ihre Antwort zu verfassen.
Ich freue mich sehr zu hören, dass Sie die Ordnung zu schätzen wussten, die ich in der Bücherei hergestellt habe, auch wenn es nur die normale war und nichts Außergewöhnliches.
Bestimmt würden Sie gern Neuigkeiten aus der Heimat hören, aber für diese Aufgabe tauge ich schlecht, da ich hier im Ort eine Außenseiterin bin. Wobei ich in der Bücherei und im Hotel doch mit Leuten rede. Die Handlungsreisenden im Hotel reden vor allem darüber, wie die Geschäfte gehen (sie gehen gut, wenn man die Waren beschaffen kann), und ein wenig über ihre Zipperlein und viel über den Krieg. Es gibt Gerüchte über Gerüchte und Meinungen wie Sand am Meer, über die Sie bestimmt lachen müssten, wenn Sie sich nicht darüber ärgerten. Ich werde sie gar nicht erst niederschreiben, weil dies bestimmt von einem Zensor gelesen wird, der meinen Brief sonst in Fetzen reißen würde. Sie fragen, wie es mich hierher verschlagen hat. Das ist keine interessante Geschichte. Meine Eltern sind beide tot. Mein Vater arbeitete in Toronto bei Eaton in der Möbelabteilung, und nach seinem Tod arbeitete meine Mutter ebenfalls dort in der Wäscheabteilung, und auch ich arbeitete dort eine Zeitlang als Buchhändlerin. Vielleicht könnte man sagen, Eaton sei unser Douds gewesen. Meinen Abschluss habe ich am Jarvis Collegiate gemacht. Ich hatte eine Krankheit und lag deswegen lange in einer Klinik, aber jetzt bin ich wieder ganz gesund. Ich hatte viel Zeit zum Lesen, und meine Lieblingsschriftsteller sind Thomas Hardy, der vielen zu düster ist, den ich aber als sehr lebensnah empfinde, und Willa Cather. Ich war gerade zufällig in dieser Stadt, als ich hörte, dass die Bibliothekarin gestorben war, und dachte, vielleicht ist das der Beruf für mich.
Wie gut, dass mich Ihr Brief heute erreicht hat, denn ich soll bald aus dem Lazarett entlassen werden, und ich weiß nicht, ob man ihn mir nachgesandt hätte. Ich bin froh, dass mein Brief Ihnen nicht zu dumm war.
Wenn Sie meinen Vater oder andere treffen, brauchen Sie nichts davon zu sagen, dass wir uns schreiben. Es geht niemanden etwas an, und ich weiß, dass es jede Menge Leute gibt, die mich dafür auslachen würden, dass ich der Bibliothekarin schreibe, so wie sie bereits gelacht haben, als ich nur in die Bücherei ging. Wozu ihnen die Genugtuung geben?
Ich bin froh, dass ich hier rauskomme. So viel glücklicher dran als manche, die ich hier sehe und die nie wieder laufen können oder ihr Augenlicht wiederhaben werden und die sich vor der Welt werden verstecken müssen.
Sie fragen, wo ich in Carstairs gewohnt habe. Nun, es ist kein Haus, auf das man stolz sein könnte. Wenn Sie die Vinegar Hill Road kennen und von dort in die Flowers Road einbiegen, ist es das letzte Haus rechts, mit einem uralten gelben Anstrich. Mein Vater baut Kartoffeln an oder hat es jedenfalls früher getan. Ich habe sie früher in der Stadt auf meinem Karren feilgeboten und durfte für jede verkaufte Ladung fünf Cents behalten.
Sie schreiben von Lieblingsschriftstellern. Früher mochte ich mal Zane Grey, aber ich bin von Romanen abgekommen und lese seitdem lieber Geschichtsbücher oder Reiseberichte. Manchmal lese ich Bücher, von denen ich weiß, dass sie mir viel zu hoch sind, aber ich bekomme trotzdem einiges mit. Dazu gehören der besagte H.G. Wells und Robert Ingersoll, der über Religion schreibt. Sie haben mir viel zum Nachdenken gegeben. Wenn Sie sehr religiös sind, dann habe ich Sie jetzt hoffentlich nicht beleidigt.
Einmal, als ich in die Bücherei kam, war es Samstagnachmittag, und Sie hatten gerade erst die Tür aufgeschlossen und machten Licht, weil es draußen dunkel war und regnete. Sie waren ohne Hut oder Schirm von einem Schauer erwischt worden, und Ihr Haar war nass. Sie zogen die Nadeln heraus und ließen es herunter. Ist es zu persönlich, wenn ich Sie frage, ob Sie es noch lang tragen oder ob Sie es abgeschnitten haben? Sie gingen an die Heizung und schüttelten Ihr Haar drüber aus, und das Wasser zischte wie Fett in der Bratpfanne. Ich saß da und las in den Illustrated London News vom Krieg. Wir lächelten uns zu. (Ich wollte mit dem Geschriebenen nicht sagen, dass Ihr Haar fettig war!)
Ich habe mir die Haare nicht abgeschnitten, obwohl ich häufig darüber nachdenke. Ich weiß nicht, ob es Eitelkeit oder Trägheit ist, die mich davon abhält.
Ich bin nicht sehr religiös.
Ich bin die Vinegar Hill Road hinaufgegangen und habe Ihr Haus gefunden. Die Kartoffeln stehen gut. Ein Polizeihund hat sich mit mir angelegt, gehört der Ihnen?
Es wird schon recht warm. Wir haben das Flusshochwasser hinter uns, das, wie ich höre, jedes Jahr im Frühling kommt. Das Wasser ist in den Hotelkeller gelaufen und hat irgendwie unser Trinkwasser verseucht, so dass wir gratis Bier oder Ginger Ale bekamen. Aber nur wenn wir im Hotel wohnten oder übernachteten. Sie können sich vorstellen, dass darüber reichlich Witze gemacht wurden.
Ich sollte fragen, ob es etwas gibt, das ich Ihnen schicken kann.
Ich brauche eigentlich nichts Spezielles. Ich bekomme den Tabak und andere Kleinigkeiten, die die Damen in Carstairs für uns einpacken. Ich würde gern ein paar Bücher von den Schriftstellern lesen, die Sie erwähnt haben, aber ich glaube nicht, dass ich hier Gelegenheit dazu haben werde.
Neulich ist hier ein Mann am Herzschlag gestorben. Das war hier das Größte überhaupt. Hast du von dem Mann gehört, der am Herzschlag gestorben ist? Tag und Nacht kriegte man nichts anderes zu hören. Und dann lachten alle, was wahrscheinlich hartherzig klingt, aber es war einfach zu seltsam. Es war nicht einmal viel los, deshalb konnte keiner sagen, er sei vielleicht vor Angst gestorben. (Übrigens saß er gerade an einem Brief, als es passierte, also sollte ich lieber aufpassen.) Vor und nach ihm sind andere erschossen oder von Granaten getroffen worden, aber er ist der, den alle kennen, weil er am Herzschlag gestorben ist. Alle lassen sich darüber aus, dass er so weit reisen musste und die Army so viel Geld gekostet hat, bloß...
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