Schweitzer Fachinformationen
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Stellas Vater hatte das Haus als Sommersitz auf dem lehmigen Steilufer über dem Huron-See gebaut. Ihre Familie nannte es immer »das Sommercottage«. David war überrascht, als er es zum ersten Mal sah, weil es nichts von jenem knorrigen Kiefernholzcharme, jener wetterfesten Behaglichkeit hatte, die das Wort vermuten ließ. Als Stadtkind aus einem »anderen Milieu«, wie Stellas Familie es nannte, hatte er keine Erfahrung mit Sommerhäusern. Es war und ist ein hohes, schmuckloses Holzhaus mit grauem Anstrich - eine Nachbildung der alten Farmhäuser in der Nähe, wenn auch vielleicht weniger stabil. Vor dem Haus fällt das Steilufer ab - es ist ebenfalls nicht besonders stabil, hat aber bisher standgehalten -, mit einer langen Treppe, die zum Wasser hinunterführt. Hinter dem Haus liegt ein kleiner eingezäunter Garten, in dem Stella mit erstaunlichem Geschick und gutem Zureden Gemüse anbaut, außerdem ein kurzer sandiger Feldweg und ein Dschungel aus wildem Brombeergestrüpp.
Als David mit dem Wagen in den Feldweg einbiegt, tritt Stella aus diesem Gestrüpp, ein Sieb voll Beeren in der Hand. Sie ist eine kleine, dicke, weißhaarige Frau in Jeans und einem schmutzigen T-Shirt. Soweit er sehen kann, trägt sie darunter nichts, was ihre Rundungen an irgendeiner Stelle stützen oder im Zaum halten würde.
»Sieh dir bloß an, was mit Stella passiert ist«, sagt David aufgebracht. »Sie hat sich in einen Troll verwandelt.«
Catherine, die Stella zum ersten Mal trifft, sagt taktvoll: »Nun, sie ist schon älter.«
»Älter als was, Catherine? Älter als das Haus? Älter als der Huron-See? Älter als die Katze?«
Auf dem Pfad neben dem Gemüsegarten schläft eine Katze. Ein großer rötlich gelber Kater mit vom Kampf verstümmelten Ohren und einem trüb gewordenen Auge. Er heißt Herkules und stammt noch aus Davids Zeiten.
»Sie ist eine ältere Frau«, antwortet Catherine mit leisem Trotz. Selbst wo sie aufbegehrt, ist sie noch kleinlaut. »Du weißt schon, was ich meine.«
David glaubt, Stella habe es mit Absicht getan. Es ist nicht bloß ein Hinnehmen natürlichen Verfalls - o nein, es ist viel mehr. Stella hat schon immer alles dramatisiert. Aber Stella ist kein Einzelfall. Es gibt mehr von diesen Frauen, die in dem Alter unbedingt die weibliche Hülle sprengen und Fettpolster oder eine geschmacklose Magerkeit zur Schau stellen müssen, Warzen oder Haare im Gesicht sprießen lassen, sich weigern, käsige, von Adern durchzogene Beine zu bedecken, und das alles mit einem Vergnügen, als hätten sie das immer schon gewollt. Männerhasser von jeher. Aber so etwas darf man ja heutzutage nicht laut sagen.
Er hat zu dicht an den Brombeerbüschen geparkt - zu dicht für Catherine, die sich auf der Beifahrerseite aus dem Wagen zwängt und sofort Probleme hat. Catherine ist zwar sehr schlank, aber ihr Kleid hat einen weiten Rock und lange, bauschige Ärmel. Es ist aus hauchzarter Baumwolle in verschiedenen Pink- und Rosatönen mit einer Unmenge winziger, unregelmäßiger Fältchen, die wie zerknittert wirken. Ein hübsches Kleid, aber wohl kaum die rechte Wahl für Stellas Reich. Die Brombeerranken verhaken sich überall, und Catherine muss sich immer wieder lospflücken.
»Also wirklich, David, du hättest ihr ein bisschen Platz lassen können«, sagt Stella.
Catherine lacht über ihre Bedrängnis. »Es geht schon, kein Problem, wirklich.«
»Stella, Catherine«, stellt David die beiden einander vor.
»Nehmen Sie sich Beeren, Catherine«, sagt Stella mitfühlend. »Du, David?«
David schüttelt den Kopf, aber Catherine nimmt ein paar. »Herrlich«, sagt sie. »Ganz warm von der Sonne.«
»Ich kann sie schon nicht mehr sehen«, sagt Stella.
Aus der Nähe betrachtet sieht Stella etwas besser aus - mit ihrer glatten, gebräunten Haut, ihrem kindlichen Kurzhaarschnitt, den großen braunen Augen. Catherine, die sie leicht vorgebeugt überragt, ist eine große, zerbrechliche, knochige Frau mit hellem Haar und empfindlicher Haut. Ihre Haut ist so empfindlich, dass sie keinerlei Make-up verträgt und auf Erkältungen, gewisse Speisen oder Erregung leicht mit Entzündungen reagiert. In letzter Zeit hat sie angefangen, blauen Lidschatten und schwarze Wimperntusche zu benutzen, was David für einen Fehler hält. Durch das Tuschen der spärlichen hellen Wimpern wird das wässrige Blau ihrer Augen, die den Anschein erwecken, als vertrügen sie kein Tageslicht, und die Trockenheit der Hautpartien darunter nur noch betont. Als David Catherine vor etwa achtzehn Monaten kennenlernte, schätzte er sie auf etwas über dreißig. Er entdeckte viele Spuren von Mädchenhaftigkeit; er liebte ihre Hellhäutigkeit und die Zartheit ihres langen Körpers. Sie ist seither gealtert.
»Aber was wollen Sie damit machen?«, fragt Catherine Stella. »Marmelade?«
»Ich hab schon ungefähr fünftausend Gläser Marmelade gekocht«, sagt Stella. »Ich fülle sie in kleine Gläser mit diesen süßen karierten Tüchlein über dem Deckel und verschenke sie an alle meine Nachbarn, die zu faul oder zu klug sind, selbst welche zu pflücken. Manchmal weiß ich nicht, warum ich die guten Gaben der Natur nicht einfach an der Rebe verrotten lasse.«
»Sie hängen nicht an der Rebe«, wirft David ein. »Sie hängen an diesen gottverdammten Dornbüschen, die man mit Stumpf und Stiel ausreißen und verbrennen müsste. Dann hätte man Platz, ein Auto hinzustellen.«
Stella sagt zu Catherine: »Hören Sie sich das an, er redet immer noch wie ein Ehemann.«
Stella und David waren einundzwanzig Jahre verheiratet. Seit acht Jahren sind sie getrennt.
»Es stimmt schon, David«, sagt Stella reumütig. »Ich müsste sie rausschmeißen. Es gibt eine ganze Menge, wozu ich nie Zeit finde. Kommt doch rein, dann ziehe ich mich um.«
»Wir müssen nachher am Spirituosengeschäft vorbeifahren«, sagt David. »Ich bin nicht dazu gekommen.«
Er macht jeden Sommer einen Besuch und legt ihn so nahe wie möglich an den Geburtstag von Stellas Vater. Er bringt immer dasselbe Geschenk mit - eine Flasche Scotch. An diesem Geburtstag wird sein Schwiegervater dreiundneunzig. Er lebt ein paar Meilen entfernt in einem Pflegeheim, wo Stella ihn zwei- oder dreimal die Woche besuchen kann.
»Ich muss mich bloß noch waschen«, sagt Stella. »Und etwas Farbenfrohes anziehen. Nicht für Daddy, er ist inzwischen vollkommen blind. Aber ich glaube, den anderen gefällt es, mein Anblick in Rosa oder Blau oder dergleichen heitert sie auf wie ein Luftballon. Ihr beide habt noch Zeit für einen schnellen Drink. Eigentlich könntet ihr mir auch einen machen.«
Sie führt sie im Gänsemarsch den Pfad zum Haus hinauf. Herkules rührt sich nicht von der Stelle.
»Faules Biest«, sagt Stella. »Er ist schon fast so schlimm wie Daddy. Findest du, das Haus müsste gestrichen werden?«
»Ja.«
»Daddy hat immer gesagt, alle sieben Jahre. Ich weiß nicht - ich spiele mit dem Gedanken, es außen zu verkleiden. Das brächte mehr Windschutz. Obwohl ich das Haus winterfest gemacht habe, kommt es mir manchmal vor, als würde ich in einer offenen Kiste hausen.«
Stella wohnt hier das ganze Jahr über. Anfangs lebte oft noch eines der Kinder bei ihr. Aber jetzt studiert Paul in Oregon Forstwirtschaft, und Deirdre unterrichtet an einer englischsprachigen Schule in Brasilien.
»Aber lässt sich eine Verkleidung auch nur annähernd in der Farbe auftreiben?«, fragt Catherine. »Er ist so hübsch, dieser schöne verwitterte Farbton.«
»Ich habe an Beige gedacht«, sagt Stella.
Stella, die allein in diesem Haus, in dieser Gemeinde wohnt, führt ein vielbeschäftigtes und mitunter chaotisches Leben. Anzeichen dafür sind überall zu sehen, als sie nun über die rückwärtige Veranda und durch die Küche ins Wohnzimmer vordringen. Hier stehen ein paar Pflanzen, die sie gerade umgetopft hat, und die Marmelade, von der die Rede war - noch nicht restlos verschenkt, wie sie erklärt, sondern in Erwartung der Hausfrauenbasare und des Herbstfests. Da steht das Gerät zur Weinherstellung; dann, in dem langgestreckten Wohnzimmer mit Blick über den See, ihre Schreibmaschine, umgeben von Stapeln von Büchern und Papier.
»Ich schreibe meine Memoiren«, sagt Stella. Sie sieht Catherine an und verdreht die Augen. »Für ein hübsches Sümmchen würde ich es seinlassen. Nein, schon gut, David, ich schreibe einen Artikel über den alten Leuchtturm.« Sie zeigt Catherine, wo er steht. »Man kann ihn von diesem Fenster aus sehen, wenn man sich ganz ans Ende durchzwängt. Ich schreibe was für die historische Gesellschaft und fürs Lokalblatt. Ganz die angehende Schriftstellerin.«
Neben der historischen Gesellschaft, erzählt sie, gehört sie einem Dramen-Lesekreis an, einem Kirchenchor, dem Verein der Weinerzeuger und einer zwanglosen Gruppe, deren Mitglieder sich gegenseitig auf wöchentlichen Dinnerpartys zu einem festgelegten (niedrigen) Preis bekochen.
»Um unsere Erfindungsgabe auf die Probe zu stellen«, meint sie. »Immer stellen wir etwas auf die Probe.«
Und das ist nur der mehr oder weniger organisierte Teil ihres Lebens. Ihr Freundeskreis ist bunt zusammengewürfelt: Leute, die sich hier zur Ruhe gesetzt haben, die in umgebauten Bauernhäusern oder winterfest ausgerüsteten Sommercottages leben; jüngere Leute unterschiedlichster Herkunft, die sich auf dem Land niedergelassen und steinige alte Höfe übernommen haben, mit denen alteingesessene Farmer sich nicht mehr abplagen wollen. Und ein Zahnarzt aus dem Ort und sein Freund, die homosexuell sind.
»Wir sind jetzt fabelhaft tolerant...
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