Schweitzer Fachinformationen
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Ich wollte mit dem Auto fahren. Aber Professor Lavie meinte, da könne der Archäologe die Kelle ja gleich ins Parkett seines Wohnzimmers rammen. Also bin ich zum Bahnhof gegangen und hab den Elfuhrzehnzug genommen, gezwungenermaßen. Die Kopfhörer waren schon eingestöpselt, da besann ich mich auf den Zweck dieses Unterfangens, nahm sie ab und schaute mich um. Die Menschen im Großraumabteil schienen normal auszusehen. Studenten, die übers Wochenende nach Hause fuhren, Familien, Pensionisten. Nichts Auffälliges. Aber noch waren wir in Stadtnähe, noch stiegen Leute aus und zu, und der Flachgau zog, wie es sich für ihn gehört, flach am Fenster vorüber. Also wartete ich ab, schlief sogar ein wenig. Die Stopps wurden seltener und die Aussicht zunehmend unwirtlich. Ich hatte das Buch dabei, und als ich es aus dem Rucksack nahm, kroch ein Frösteln über meinen Rücken. Der Himmel war weg, Felswände auf beiden Seiten. Jetzt überschreiten wir die Grenze, dachte ich, und so fühlte es sich auch an, wie der Eintritt in ein anderes Land, ohne Sonne oder Gastlichkeit. Die Gleise verliefen dicht am Gestein vorbei, ich hätte die verdreckten Grasbüschel darauf von meinem Fenster aus berühren können, auf der anderen Seite brodelte der Fluss. Rechts und links nichts als Kälte. Wie er es beschrieben hatte. Ich fühlte ein unbehagliches Grollen in mir aufsteigen und ein Gefühl der Verbundenheit mit einem Toten, der dieselbe Reise vor über fünfzig Jahren antrat. Mir war schlecht. Ich rang nach Atem. Dann stieß ich auf, und es ging besser. Nach zehn Minuten ließen wir das Gebirgsmassiv hinter uns, und die Sonne schien, als wäre nichts geschehen.
Mir schräg gegenüber saß ein Mann, der eine Wurstsemmel aß. Ich versuchte, eine Vulgarität in dieser scheinbar alltäglichen Handlung zu erkennen, ein Schlingen, Stopfen oder Würgen, irgendeinen primitiven Aspekt des In-die-Semmel-Beißens, ein wüstes Fressen oder Schmatzen, aber vergebens. Kein viehisches, nationalsozialistisches, katholisches Gebaren trat hervor. Er war ein Mann, und er aß eine Wurstsemmel. Nichts weiter.
Am Bahnhof fühlte ich mich seltsam heimisch. Die Trafik, in der ich nie Zigaretten gekauft, das Bahnhofsrestaurant, in dem ich nie gegessen, die Menschen, die ich nie gekannt hatte. In Gedanken war ich kurz weit fort, in irgendeiner durchkreuzten, abgehakten Großstadt. Dann wieder zurück. Gestrandet am Kap des Heiligen Vinzenz kletterte ich die Böschung hoch. Das Ende der Welt ist gleichzeitig ihr Anfang. Mein Großvater konnte mich nicht abholen, weil mein Onkel ihm das Autofahren verboten hatte, was er ganz und gar nicht verstehen konnte, war er doch sein Leben lang - bis auf zwei, drei rauschbedingte Abstürze in Gebirgsbäche - völlig unfallfrei gefahren. Also nahm ich den Bus. Im Innergebirg verkehren die öffentlichen Verkehrsmittel in ausgedehnteren Intervallen als anderswo, nicht weil die Uhren hier langsamer laufen würden, sondern weil es nichts gibt, wohin man fahren könnte. Die Leute fahren mit dem Auto zur Arbeit und mit dem Auto nach Hause, sie fahren mit dem Auto zum Wirten und mit dem Auto nach Hause. Und die Kinder werden in der Früh in einen Bus gezwängt und in die größeren Nachbarorte verfrachtet, wo man versucht, Wissen in ihre Köpfe zu stopfen. Zu Mittag oder am Abend, je nachdem, wann die Köpfe gefüllt sind, werden sie zurückgekarrt, die Finger voller Filzstiftstriche und die Achseln sauer dünstend. Dazwischen kräht ab und zu ein Hahn, und die Alten zetern auf der Hausbank.
Die Wartezeit von fünfundvierzig Minuten verbrachte ich im Café auf der anderen Straßenseite. Vom Fenster aus konnte ich die braune Suppe von einem Fluss sehen, die jeden Abfall mit sich reißt und an die Ufer ferner Städte spült. Treibholz, Plastikflaschen, Ratten. Ich trank ein kleines Bier. Auch am Tresen tranken sie Bier, obwohl erst früher Nachmittag war. Der vertraute Klang des Dialekts machte mir die Männer augenblicklich sympathisch. Ich hörte ihnen zu, aber ich gehörte nicht dazu. Ich vertiefte mich ins Buch. Von einer Blutspur las ich und von Staub am Ärmel, von Brotbrocken und Schnee. Im Café war es schwül wie in einem Schweinebauch. Die Kellnerin hielt den Organismus am Leben, indem sie Bier zu allen Zellen pumpte. Die Männer lachten, wie man nur lachen kann, wenn man untertags schon angetrunken ist und die nächsten Tage ohne Verpflichtungen weitertrinken kann. Ich war ein Eindringling in diesem Mikrokosmos, nur ein Virus auf der Durchreise. Im WC hatte jemand ins Pissoir gekotzt. Ich zahlte und ging. Schwemmgut, das flussaufwärts treibt, ist ein schlechtes Omen.
Der Bus überquerte die Ache. Schon von Weitem sah ich das Krankenhaus, wo sie im Winter den verunglückten Skifahrern reihenweise die Füße absägen und die Ordensschwestern dem Leitspruch ihres Schutzpatrons folgend Liebe in die Tat umsetzen. Die Liebe der Ordensschwestern bekamen über Jahre hinweg auch die Schülerinnen der angeschlossenen Haushaltungsschule zu spüren, die im Internat jeden Abend das Nachthemd hochheben mussten, um zu beweisen, dass sie keine Unterwäsche trugen. Dabei wurden ihre Vaginen penibel auf Pilz- und andere Infektionen untersucht. Auch das Schlafen auf dem Bauch war strengstens verboten, da durch Reibung an der Matratze sexuelle Erregung ausgelöst werden konnte. Als ich Jahre zuvor in diesem Krankenhaus meinen Zivildienst geleistet hatte, trugen wir aus Protest keine Unterhosen, um in Kombination mit der weißen Dienstkleidung einen bleibenden Eindruck bei den liebestollen Nonnen zu hinterlassen. Die alte Lungenheilanstalt thronte noch immer am Fuße des Berges. Im Gegensatz zu früher siechten die Kranken nicht mehr in einer halbverfallenen Liegehalle, sondern vegetierten in modern gestalteten Räumlichkeiten dahin, die mit allen Annehmlichkeiten ausgestattet waren, die sich die Todgeweihten des 21. Jahrhunderts nur wünschen konnten. Kabelfernsehen bis zum allerletzten Augenblick. Verrecken am Puls der Zeit.
Dem Schatten des Heukarecks entkommen, tauchte der Bus in den nächsten, noch dunkleren Schatten ein. Der Tiefgraben führt vom Luftkurort nach Weng. Die Straße war gerade breit genug für den Bus und zog sich wie eine vernarbte Stichwunde durch die Landschaft. Weng kommt von wenig. Und viel darf man sich wahrlich nicht erwarten, wenn man die Reise ins Hinterland des Innergebirgs auf sich nimmt. Ich war mit wenig aufgewachsen und das Wenige hatte mir nie gereicht. Jetzt kam ich zurück, mit weniger in den Händen als bei meiner Abreise. Ich stieg aus dem Bus in die frische Alpenluft und hörte den Wasserfall plätschern. Weng, Heimat hasserfüllten Herzens.
Das Zimmer war klein, aber nicht ungemütlich. Vom Fenster aus konnte man den Dorfplatz sehen, die Kirche und die Berge. Es lag noch kein Schnee. Das Gasthaus war seit über dreißig Jahren geschlossen, in den Nullerjahren wurde es renoviert und ausgebaut, Wohnungen wurden an Ärzte und Krankenschwestern vermietet, die Schankanlage und die Musikautomaten verkauft. Ich wohnte im selben Stock wie mein Großvater, in der kleinsten Wohnung des Hauses, ein Zimmer, ein Vorraum mit Küchenzeile, daneben Bad und WC. Er hatte das Bett mit einem frischen Laken überzogen und Staub gesaugt, und das, obwohl er bald neunzig wurde. Den Fernseher, ein altes Röhrengerät, hatte er extra aus dem Keller nach oben getragen. Wir saßen in seinem Wohnzimmer und tranken Bier. Als ehemaliger Wirt ließ er keine Gelegenheit aus, Bier aufzutischen. Zuerst Bier, später Cognac.
»So schlecht kann das nicht sein. Schau mich an, ich lebe immer noch.«
Wenn ich meinen Großvater sah, freute ich mich. Es war dieselbe Freude, die mich als Kind beim Dreiradfahren durch den Tanzsaal hatte lachen lassen. Seitdem meine Großmutter gestorben war, lebte er allein. Er trug seit Jahren dieselben Hemden, war aber immer ordentlich gekleidet und eine stattliche Erscheinung. Bis auf seine Zeitung und zwei Mahlzeiten am Tag inklusive der passenden Getränke brauchte er nichts.
»Das zahlt sich alles nicht mehr aus. Ich müsste doch schon längst tot sein, eigentlich. So wie es die Zigeunerin vorausgesagt hat. Fünfundsiebzig wirst du, wenn's gut geht sechsundsiebzig, mit mehr darfst du nicht rechnen. Bin schon über zehn Jahre zu lange hier, warum auch immer.«
Das Gute an meinem Großvater war, dass er Dinge, die ihn nicht störten, hinnahm, ohne sich lange damit zu beschäftigen. Ich hatte ihn vor einer Woche angerufen und gefragt, ob die kleine Wohnung noch leer stehe. Ich sagte, ich brauche eine Auszeit vom Leben in der Stadt. Er fragte mich nicht weiter aus, sondern sagte nur, dass ich willkommen sei. Also fuhr ich los.
Nach dem Cognac lenkte ich das Gespräch ungeschickt auf den Autor. Wie das damals gewesen war, als er im Stüberl saß und als dann das Buch heraus kam. Mein Großvater schaute mich verwundert an. Ich fragte mich, ob er mich verstanden, ob er mich überhaupt gehört hatte. Ich wartete auf eine Reaktion, eine Schimpftirade, Verwünschungen, einen gehässigen Monolog. Ich wartete lange - er schwieg.
Weng war mir düsterer in...
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