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Es gab keine bessere Schule als die der Heiligen Jungfrau vom Nil. Auch keine höher gelegene. 2 500 Meter, verkündeten stolz die weißen Lehrer. 2 493, berichtigte Schwester Lydwine, die Geografielehrerin. »Dem Himmel ganz nah«, flüsterte die Mutter Oberin und faltete die Hände.
Der Beginn des Schuljahres fiel mit dem Einsetzen der Regenzeit zusammen, und die Schule verschwand in den Wolken. Manchmal aber, sehr selten, klarte es auf. Dann sah man weit unten den großen See, wie eine Pfütze, im bläulichen Licht.
Die Schule war ein Mädchenpensionat. Die Jungen blieben unten in der Hauptstadt. Sie war weit oben und weit weg gebaut worden, um die Mädchen vor dem Bösen zu beschützen und von allen Versuchungen der großen Stadt fernzuhalten. Diese Schülerinnen verhießen nämlich eine gute Partie. Sie sollten jungfräulich bleiben oder zumindest vor der Ehe nicht schwanger werden. Jungfräulich war besser. Heiraten ist eine ernsthafte Angelegenheit. Die Mädchen, die hier ihre Bildung genossen, waren die Töchter von Ministern, hochrangigen Militärs, Geschäftsmännern und reichen Händlern. Ihre Vermählung war Politik. Die jungen Damen waren stolz darauf: Sie wussten, was sie wert waren. Schönheit alleine zählte schon lange nicht mehr. Als Mitgift empfingen ihre Familien nicht nur ein paar Kühe oder die traditionellen Bierkrüge, sondern auch Koffer voller Geld und ein gut gefülltes Konto bei der Belgolaise Bank in Nairobi oder Brüssel. Dank ihrer Töchter konnte eine Familie sich bereichern, ein Clan seine Macht festigen, eine Sippe ihren Einfluss erweitern. Sie wussten, was sie wert waren, die Schülerinnen an der Heiligen Jungfrau vom Nil.
Die Schule befand sich ganz in der Nähe des Nils. Bei seiner Quelle, genauer gesagt. Um dort hinzugelangen, musste man einer steinigen Piste entlang der Kammlinie folgen, die auf einem kleinen Plateau endete, wo die vereinzelten Land Rover der Touristen parkten, die sich bis hier hinauf wagten. Auf einem Schild stand: NILQUELLE → 200 m. Ein abschüssiger Pfad führte zu einem Geröllfeld, aus dem zwischen zwei Felsen ein schmales Bächlein entsprang. Das Wasser der Quelle wurde zunächst in einem zementierten Becken aufgefangen, floss dann über einen winzigen Wasserfall als dünnes Rinnsal weiter, das man zwischen den Gräsern am Hang und den Baumfarnen im Tal schnell aus den Augen verlor. Rechts neben der Quelle war eine Pyramide errichtet worden, mit der Inschrift: »Nilquelle, Mission de Cock, 1924«. Nicht besonders hoch, die Pyramide. Die Schulmädchen konnten mühelos ihre schartige Spitze berühren, das bringe Glück, sagten sie. Doch die Schülerinnen kamen nicht wegen der Pyramide zur Quelle herauf. Nicht als Ausflüglerinnen waren sie hier, sondern als Pilgerinnen. Zwischen den großen Felsen, die das Quellbecken überragten, befand sich nämlich die Statue der Heiligen Jungfrau vom Nil. Eine richtige Grotte war das nicht. Die Statue wurde lediglich durch ein Wellblechdach geschützt. Auf ihrem Sockel hatte man eingraviert: »Heilige Jungfrau vom Nil, 1953«. Der Apostolische Vikar hatte beschlossen, hier eine Statue zu errichten. Der König erhielt vom Pontifex Maximus das Recht, das Land dem Christus-König zu weihen. Und der Bischof schließlich weihte den Nil der Jungfrau Maria.
Bis heute war die Enthüllungsfeier in lebendiger Erinnerung. Schwester Kizito, die alte, gebrechliche Köchin, hatte an ihr teilgenommen. Jedes Jahr erzählte sie den neuen Schülerinnen davon. Ja, eine schöne Feier, wie man sie sonst nur im Weihnachtsgottesdienst in der Hauptstadt oder am Nationalfeiertag im Stadion sah.
Der Resident ließ sich vertreten, doch der Generalgouverneur war da, mit einer zehnköpfigen Militäreskorte. Einer der Soldaten trug ein Signalhorn, ein anderer die belgische Fahne. Es kamen die Stammesführer und deren Stellvertreter, auch die Häuptlinge der angrenzenden Gebiete. Sie wurden begleitet von ihren Frauen und Töchtern mit perlenverzierten Hochfrisuren, ihren Tänzern, die löwengleich die Mähnen schüttelten, und natürlich ihren Inyambos, Rindern mit langen Hörnern, die mit Blumengirlanden geschmückt worden waren. Bauern drängten sich am Hang. Die Weißen aus der Hauptstadt hatten sich den schlechten Weg zur Quelle nicht hinaufgewagt. Nur Monsieur de Fontenaille, den Besitzer der angrenzenden Kaffeeplantage, sah man neben dem Generalgouverneur sitzen. Es war Trockenzeit. Doch der Himmel war klar. Bis hier auf die Gipfel kam der Staub nicht.
Die Versammelten mussten lange warten. Schließlich zeigte sich auf dem Kammweg eine schwarze Linie, von der Loblieder und gemurmelte Gebete zu hören waren. Allmählich konnte man Details ausmachen. Den Apostolischen Vikar erkannte man an seiner Mitra und seinem Stab. Er sah aus wie einer der Heiligen drei Könige, wie man sie von Bildern aus dem Katechismus kannte. Ihm folgten die Missionare: Sie trugen Tropenhelme wie alle Weißen damals, doch hatten sie Bärte und waren in lange weiße Gewänder gekleidet, die mit einem großen Rosenkranz umwickelt waren. Eine Schar Kinder von der Legion Mariens bestreute den Weg mit gelben Blütenblättern. Dann kam die Heilige Jungfrau. Vier Seminaristen in kurzen Hosen und weißen Hemden trugen sie auf einer Sänfte aus geflochtenem Bambus, mit der üblicherweise frischvermählte Bräute zu ihrer neuen Familie oder Tote zu ihrer letzten Ruhestätte gebracht wurden. Die Madonna konnte man aber noch nicht sehen. Sie war in einen blauweißen Schleier gehüllt. Dahinter drängte sich der »eingeborene Klerus«, es folgten die Katechismusschüler mit ihrem Kirchenbanner und der gelb-weißen Fahne des Vatikans, die trotz der Stöcke ihrer Erzieher neben dem Weg über die Hänge liefen.
Die Prozession erreichte das kleine Tal, in dem die Quelle entsprang. Noch immer verhüllt wurde die Madonna auf ihrer Sänfte neben dem Bächlein abgestellt. Der Generalgouverneur trat vor den Prälat und grüßte ihn militärisch. Beide wechselten ein paar Worte, während sich der Festzug um die Quelle und die auf einem kleinen Podest platzierte Madonna gruppierte. Der Monseigneur, begleitet von zwei Missionspriestern, stieg die fünf Stufen zu ihr hinauf. Er segnete die Menge, wandte sich zur Statue und begann, im Wechsel mit den beiden anderen, ein lateinisches Gebet zu sprechen. Sodann zog einer der beiden Ministranten auf sein Zeichen den Schleier mit einem Ruck von der Statue herunter. Das Signalhorn erklang, die dreifarbige Fahne neigte sich. Langanhaltendes Raunen ging durch die Menge. Die schrillen Freudenschreie der Frauen erfüllten das kleine Tal, die Tänzer brachten ihre Knöchelschellen in Bewegung. Unter dem Schleier kam eine Madonna zum Vorschein, die in gewisser Weise an die Madonna von Lourdes erinnerte, wie man sie aus der Missionskirche kannte, mit dem gleichen blauen Schleier und dem gleichen gelblichen Kleid, doch war diese Heilige Jungfrau vom Nil schwarz, ihr Gesicht war schwarz, ihre Hände waren schwarz, ihre Füße waren schwarz, die Heilige Jungfrau vom Nil war eine schwarze Frau, eine Afrikanerin, eine Ruanderin, warum nicht. »Es ist Isis«, rief Monsieur de Fontenaille aus, »sie ist wiedergekehrt!«
Mit einem kräftigen Weihwasserwedel segnete der Apostolische Vikar die Statue, segnete den Nil, segnete die Menge und hielt eine Predigt. Nicht alles verstand man. Er sprach von der Heiligen Jungfrau, die hier die Heilige Jungfrau vom Nil hieße. Er sagte: »Die Tropfen dieses geweihten Wassers vermischen sich mit dem Quellwasser des Nils, werden sich mit den Wassern der anderen Flüsse vermischen, die zum großen Strom werden, sie werden Seen und Sümpfe durchqueren, Wasserfälle hinabstürzen, sich gegen die Sandmassen der Wüste behaupten, ehemalige Mönchszellen umspülen und an der staunenden Sphinx vorbeifließen, diese gesegneten Tropfen von Gnaden der Heiligen Jungfrau vom Nil werden ganz Afrika taufen, damit ein christliches Afrika unsere bedrohte Welt errette. Und ich sehe, ja ich sehe viele Menschen aus allen Ländern hierhin kommen, die hier zu uns in die Berge pilgern werden, um der Heiligen Jungfrau vom Nil ihren Dank zu sagen.«
Als der Stammesführer Kayitare an der Reihe war, trat er vor das Podest, rief seine Kuh Ratamu herbei und schenkte sie der neuen Königin von Ruanda. Er verband seine Lobpreisung auf diese mit der auf die Jungfrau Maria, indem er sagte, beide schenkten Milch und Honig im Überfluss. Die Jubelschreie der Frauen und das Klingeln der Glöckchen bestätigten das Geschenk als gutes Vorzeichen.
Ein paar Tage später kamen Arbeiter von der Mission und errichteten eine Plattform zwischen den zwei großen Felsen über der Quelle. Darauf stellten sie die Statue und schützten sie mit einer Nische aus Wellblech. Kurz danach wurde in zwei Kilometern Entfernung die Mädchenschule gebaut. Genau im Jahr der Unabhängigkeit.
Vielleicht hatte der Monseigneur darauf gehofft, das Wasser der gesegneten Quelle würde, wie das in Lourdes, Wunder bewirken. Dem war aber nicht so. Nur Kagabo, der Heiler oder Giftmischer, je nachdem,...
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