1
September 2015
Linda schnaubte wie ein asthmatisches Eichhörnchen, als sie mit ihren hohen Absätzen hastig über den Gehweg tippelte. Diese hallten geräuschvoll auf dem Asphalt wider und überzeugten Linda mit jedem Schritt ein wenig mehr davon, dass ihr Schädel augenblicklich zu platzen drohte. Mit hektischen Bewegungen fingerte sie ihr Smartphone aus der Handtasche, die am Kinderwagen baumelte, um die Uhrzeit in Erfahrung zu bringen. Ihre langen Fingernägel klapperten wie Storchenschnäbel gegen das Display, als sie den Code für die Tastensperre eingab, um ihre Nachrichten zu checken. Ein Blick auf die digitale Anzeige bestätigte all ihre Befürchtungen. Sie war wieder einmal viel zu spät dran. Ohne das Tempo zu drosseln, ließ sie das Handy in ihre Handtasche zurückgleiten und sah sich nach einer geeigneten Stelle um, die Straße zu überqueren.
Ihre Tochter Luisa hatte es geschafft, sich kurz bevor sie aufbrechen wollten ihren Saft komplett über die Hose zu kippen, und dann war auch noch das Glätteisen kaputtgegangen. Gestresst pustete sich Linda eine krause Haarsträhne aus dem Gesicht, als sie den Kinderwagen über die Straße rollte, und stellte mit Entsetzen fest, dass sie anfing zu schwitzen. Es war wesentlich wärmer, als es aussah, und Linda hatte sich eine viel zu dicke Jacke übergeworfen. Gepaart mit dem Glätteisen-Drama waren das alles in allem fatale Voraussetzungen für ihr Vorhaben. Sie seufzte angestrengt und hielt für einen Moment inne. Mit geschlossenen Augen atmete sie einmal tief durch und mahnte sich zur Ruhe.
Das Schicksal schien ihr wohl genau das bestätigen zu wollen, was ihr Gewissen ihr ohnehin schon permanent ins Ohr brüllte. Nämlich dass das, was sie vorhatte, eine blöde Idee war. Nicht, dass ihre Freundinnen Ella und Nadine genau diese Erkenntnis nicht bereits hätten durchblicken lassen, als Linda von ihrer Idee, sich heimlich mit einem anderen Mann zu treffen, berichtet hatte.
Besonders Nadine war sichtlich empört gewesen, auch wenn sie sich zunächst aufrichtig Mühe gegeben hatte, dies vor Linda zu verbergen. Linda musste mit dem Kopf schütteln, wenn sie an den Moment auf der Holzbank am Spielplatz zurückdachte. Stocksteif hatte sie ihr gegenüber gesessen, hatte verlegen an ihrer Haarlocke herumgekaut und Linda noch nicht einmal in die Augen sehen können. Linda kannte Nadine erst seit fünf Monaten. Sie hatten sich beim Babyschwimmen kennengelernt, und seither verbrachten sie viel Zeit miteinander. Zuerst, weil sich die Kinder so wahnsinnig gut miteinander verstanden hatten, doch mit der Zeit hatte sie den schüchternen Lockenkopf richtig lieb gewonnen. Gemeinsam mit Ella trafen sie sich regelmäßig, damit die Kinder spielen und sie sich austauschen konnten. Nadine war eher der ruhige, in sich gekehrte Typ Frau. Wenn Ella und Linda heiklere Themen besprachen, hielt sie sich meist im Hintergrund, weshalb Linda absolut nicht damit gerechnet hätte, dass Nadine zu Lindas neuem Abenteuer derart vehement Stellung beziehen würde. Doch als Linda versucht hatte, ihrer Freundin die Beweggründe ihres Vorhabens begreiflich zu machen, da hatte Nadine ihre Meinung deutlich zum Ausdruck gebracht und Linda mit unangenehmen Fragen gehörig in die Ecke gedrängt. Es war beinahe so, als hätte sie sich persönlich betroffen gefühlt. »Was ist mit Luisa?«, »Findest du das nicht egoistisch?«, »Wenn das jemand mit dir machen würde .«
Linda schnaubte bei dem Gedanken an all diese in moralische Sätze gepackten erhobenen Zeigefinger verächtlich. »Wenn das jemand mit dir machen würde .«, äffte sie ihre Freundin nach, als wäre sie ein bockiger Teenager, und beschleunigte trotz ihrer Vorsätze, runterzukommen, wieder ihren Gang. »Pah!« Was Dennis schon alles mit ihr gemacht hatte!, verteidigte sie sich vor sich selbst. Beziehungsweise was er NICHT gemacht hatte. Sie wollte sich nicht schuldig fühlen wegen dem, was sie vorhatte. Wollte nicht über die Folgen nachdenken. Sie hatte keine Lust mehr, über den aktuellen Stand ihrer Ehe zu lamentieren und zu verhandeln. Sie hatte es satt zu hoffen, und diese faulen Kompromisse kotzten sie einfach nur an. Wenn das egoistisch war, bitteschön. Dann war sie eben egoistisch. Die Rolle des Buhmanns beherrschte sie seit ihrer Jugend aus dem Effeff, dieser Stempel konnte sie nicht mehr schocken. Wenn sie jemand verurteilen wollte, nur zu. Trotzig reckte Linda ihr Kinn nach vorne und straffte ihre Schultern, so als würde sie sich einem imaginären Gericht gegenüber erklären.
»Autsch!« Ein gequälter Aufschrei kam von dem Mann vor ihr. Sie war ihm vor lauter Hektik volle Granate mit dem Kinderwagen in die Hacken gerauscht. Mit einem entrüsteten Schnauben warf er einen bösen Blick hinter sich. Als er von Lindas unschuldigem Augenaufschlag eingefangen wurde, wich das Böse aus seinen Gesichtszügen, und an seine Stelle trat ein anzügliches Grinsen.
»Verzeihung«, säuselte Linda gekonnt und hob entschuldigend die Schultern. Der Mann vertiefte sein Grinsen, trat einen Schritt zur Seite und ließ sie, ganz Gentleman, mit einer galanten Armbewegung an sich vorbeiziehen. Linda erwiderte das Lächeln und schwelgte eine Weile in dem Bewusstsein, dass er ihr hinterhergaffte. Ja, sie war nicht bloß eine Mutti, sie hatte es immer noch drauf. Das schien ganz München zu realisieren. Nur Dennis nicht.
Die romantische Beziehung zu ihrem Ehemann hatte den Puls eines Igelkadavers auf einer Autobahn, seit ihre gemeinsame Tochter auf der Welt war. Linda hatte seither immer wieder mal zaghafte Versuche gestartet, der Beziehung neuen Schwung zu verpassen, doch war der Erfolg bisher ausgeblieben. Mit einem verschmitzten Grinsen dachte sie an den roten Spitzen-BH, den sie provokant unter ihrer Bluse versteckte. Farblich abgestimmt mit dem Hauch von Nichts in ihrer Unterleibsgegend war es die perfekte Seitensprung-aus-Rache-Uniform und brachte ihre üppigen Rundungen optimal zur Geltung. Ursprünglich war es für einen anderen Zweck gedacht gewesen, aber das spielte jetzt auch schon keine Rolle mehr. Es war ein Set, das sie sich noch vor der Schwangerschaft gegönnt hatte und das bisher fünfmal getragen worden war, ohne jedoch jemals gewürdigt zu werden. Heute würde sie schon dafür sorgen, dass es nicht zu übersehen wäre. Dennis wollte nicht? Fein! Wer nicht will, der hat schon. Sie würde jedenfalls nicht zur Nonne mutieren, nur weil sich Dennis wie ein impotenter Gockelhahn aufführen musste. Sie würde ihren Bedürfnissen entsprechend leben, und dieses Outfit würde ihr dabei helfen, diese Mission zu erfüllen.
Was Nadine wohl zu ihren Dessous sagen würde? Linda und sie waren so unterschiedlich, dass sich Linda eigentlich hätte denken können, dass Nadine sie nicht verstehen würde. Nadine war groß und grazil und wirkte mit ihrem jugendlichen Gesicht so zart wie eine Elfe. Die Männer mussten früher verrückt nach ihr gewesen sein. Linda konnte einfach nicht glauben, dass ihrer Freundin dieser Teil des Frauseins überhaupt nicht fehlte. Doch Nadine schien ihre Libido im Kreißsaal zusammen mit der Nabelschnur ihres Sohnes durchtrennt zu haben. Seit Linda sie kannte, war sie in einer mütterlichen Bindungshormonwolke versunken und wiegte ihren Sohn 80 Prozent ihrer Zeit auf dem Schoß, als wäre er immer noch drei Monate alt. Wenn man die beiden beobachtete, konnte man meinen, Nadine wollte sich ihren Sohn an die Hüfte binden, um mit ihm siamesische Zwillinge zu spielen. Linda versuchte das schlechte Gewissen, das langsam wieder ihren Nacken hinaufkrabbeln wollte, abzuschütteln.
Gott sei Dank hatte sich Ella loyal gezeigt und ihrer Freundin mit neutralem Schweigen den Rücken gestärkt, als sich Linda ihren Freundinnen anvertraut hatte. Linda hatte sich schwer ins Zeug gelegt und ein regelrechtes Plädoyer für das Wiederentdecken der eigenen Weiblichkeit gehalten, und Ella hatte reglos auf die spielenden Kinder gestarrt und stumm zugehört. Wenn Linda ehrlich war, hätte sie sich gewundert, wenn es anders gewesen wäre. Sie kannte Ella schon seit ihrer frühen Jugend. Und auch wenn lange Zeit Funkstille zwischen den beiden Frauen geherrscht hatte, sich ihre Wege erst vor Kurzem wieder gekreuzt hatten und viel passiert war, seit sie sich das letzte Mal vor knapp 14 Jahren gesehen hatten, so war Ella dennoch dieselbe geblieben. Sie war schon immer ruhig, sachlich und nüchtern gewesen. Eine emotionale Reaktion, so wie bei Nadine, wäre untypisch für sie gewesen. Ella ging grundsätzlich jede Situation erst einmal analytisch an. Sie war bereits, als sie Teenager gewesen waren, der ruhige gesetztere Typ gewesen und bildete einen auffälligen Kontrast zur leidenschaftlichen, lauten und bunten Linda. Sie war damals Lindas Hafen gewesen. Ihr Ruhepol. Ihr Fels.
Ella konnte das, was Linda fühlte, wie keine andere in Worte fassen, der Situation damit die unbändige Emotionalität rauben und sie auf ein kontrolliertes Niveau herunterschrauben. Wenn man so wollte, war Linda diejenige, die Kaugummiblasen mit ihrem Mund formte, und Ella diejenige, die mit ihrem Finger hineinpikste, um die Luft herauszulassen, bevor die Blase platzen und Linda das klebrige Zeug um die Ohren fliegen konnte.
Bei dem Gedanken an Ella packte das schlechte Gewissen die schwitzende Linda nun doch am Kragen und verpasste ihr eine ordentliche Gänsehaut. Während Linda an besagtem Tag nämlich damit beschäftigt gewesen war, ihren Freundinnen anzuvertrauen, dass sie hinterhältige betrügerische Pläne hegte, hatte Ella ihren Freundinnen offenbart, dass sie selbst Opfer eines solchen Plans geworden war. Ralf hatte sie doch tatsächlich betrogen! Lindas Gesicht verfinsterte sich, als sie an diese schreckliche Szene auf der Holzbank zurückdachte. Ihre beste Freundin hatte...