Prolog
August 2011
Das Hotel »Alte Mühle« am Ortsrand von Knollenburg erglühte in einer traumhaften Farbexplosion aus flammendem Sonnen-untergangsrot.
Auf den Tischen flackerten die Kerzen in großen Windlichtern im Takt des Sommerwinds und brachten die daneben als Dekoration angerichteten Wildblumen zum Leuchten. Das Rauschen des Baches, welcher sich um das Grundstück schlängelte, vermischte sich mit dem ausgelassenen Stimmengewirr der Gäste. Laubbäume in üppigem Grün drängten sich dicht an dicht wie ein schützender Umhang um das Anwesen und trennten die angrenzenden Maisfelder vom Grundstück ab. Die Abendsonne tanzte durch ihre Baumkronen und landete schließlich in schrägem Einfall auf Ella, die gerade vom Fenster der Hochzeitssuite aus auf den Innenhof hinabblickte. Sie hatte ihr schwarzes Haar zu einem klassischen Dutt nach oben gebunden, so dass ihre leuchtenden Mondstein-Ohrhänger zusammen mit ihren strahlend blauen Augen besonders gut zur Geltung kamen. Der seiden glänzende Stoff ihres hochgeschlossenen, schlichten Brautkleides umschmeichelte ihre zarte Figur und ließ sie sehr edel und anmutig wirken. Beinahe zärtlich fuhr sie mit ihren feinen Fingern die Glasscheibe entlang, hinter der sich all die vielen Gäste tummelten. Alles geliebte Menschen, die nur wegen ihr und Ralf da waren. Alle hatten sich versammelt, um gemeinsam mit dem Brautpaar zu feiern. Alle, bis auf eine .
Ein Seufzer erfüllte den Raum, und Ellas Kopf sank kraftlos gegen das von der Sommersonne erhitzte Glas. Sanfte Hände antworteten prompt und umfassten mit stützendem Griff ihre zierliche Taille. Ella schloss ihre Augen und genoss die tröstliche Wärme von Ralfs Körper, der sich von hinten an ihren Rücken schmiegte, und ließ sich bereitwillig gegen ihn sinken. Sie konnte sein Herz durch den dünnen Stoff ihres Kleides pulsieren spüren, und ein wohliges Kribbeln breitete sich auf ihrer Haut aus. Mit einem Lächeln auf den Lippen reckte sie sich ihm entgegen.
»Na, Frau Steinbeck, was gibt es da am Hochzeitstag zu seufzen?«, raunte er ihr ins Ohr, und Ella bekam eine Gänsehaut, weil sein Atem ihren Nacken kitzelte. Wie ein schüchterner Teenager hob sie ihre Schultern an und wand sich verspielt im Radius seiner Umarmung, um ihm ins Gesicht blicken zu können. Ralfs sanfte Augen versenkten sich in den ihren, und der leise Anflug von Trübsal war mit einem Mal wie weggeblasen. Ella betrachtete die vertrauten Gesichtszüge ihres Mannes, die ihr nun schon seit zehn Jahren das Liebste auf der Welt waren. Zärtlich, beinahe ehrfürchtig glitten ihre Fingerkuppen über das glatt rasierte Kinn und hinauf zu seinem kräftigen dunklen Haar, das ihm lässig in die Stirn fiel. Er roch nach Aftershave - roch so vertraut. Ihre Blicke trafen sich erneut, und Ella konnte spüren, wie die Ernsthaftigkeit, die ihre Augen eben noch fest im Griff hatten, von Ralfs Güte hinfortgespült wurde. Sie tauchte ein in dieses sanfte Braun, das wie ein Meer aus flüssiger Zartbitterschokolade funkelte, und fühlte sich in diesem Moment unendlich dankbar und glücklich. Sie küssten sich lange und zärtlich im rötlichen Schein der Abendsonne, bevor ihrer beider Aufmerksamkeit zurück auf den Innenhof gelenkt wurde. Die Band hatte nach ihrer Pause wieder begonnen zu spielen, und lautes Gelächter dröhnte zum Brautpaar hinauf.
»Wir sollten wieder runtergehen, findest du nicht?«, meinte Ella und klang dabei weniger motiviert. Der schönste Teil des Tages war vorüber. Sie hatte »Ja« zu ihrem Traummann gesagt und in der Freude und den Glückwünschen von Familie und Freunden gebadet. Jetzt warteten die üblichen Brautspielchen und eine Brautentführung auf sie. Ella war nicht der Typ, der derlei Traditionen zu schätzen wusste. Ralf schmunzelte, als wüsste er genau, was im Kopf seiner Frau vorging, und verschränkte seine Finger mit den ihren.
»Wir haben gesehen, wie Onkel Albert eingeschlafen und von der Kirchenbank gerutscht ist, wie sich der Dackel von meiner Großmutter beinahe selbst im Bach ertränkt hat und den kleinen Kevin, der mitten auf die Wiese vor das Buffet gepinkelt hat. Ich würde sagen, das sind genug Höhepunkte für einen Tag.« Sie kicherte leise an seiner Brust. »Und sollte tatsächlich noch etwas Weltbewegendes geschehen, bin ich mir sicher, dass es mit den ganzen Einwegkameras, die du auf den Tischen verteilt hast, genug Beweisfotos für uns geben wird«, setzte er nach und stahl sich einen weiteren Kuss von Ellas Lippen.
»Du willst nicht live dabei sein, wenn der erste Volltrunkene in die Torte fällt, oder eine der Brautjungfern anfängt, Karaoke zu singen?«, witzelte sie und hob mit gespielter Empörung eine Augenbraue. Seine Mundwinkel zuckten amüsiert, doch seine Augen blieben ernst, als er sagte:
»Wir haben die Tanzfläche eröffnet und den Kuchen angeschnitten. Unser Job ist damit erledigt. Lass mich dich entführen, bevor es die Jungs dort unten tun.«
Ella, die noch nicht so recht glauben wollte, dass ihr Ehemann diesen Vorschlag tatsächlich ernst meinte, amüsierte sich über die Vorstellung. »Das wäre toll, wenn wir einfach so verschwinden könnten«, sinnierte sie. Sie spielte die Szene bereits in ihrem Kopf durch, und sofort wurde ihr Hochgefühl durch einen entscheidenden Eckpunkt dieser Geschichte getrübt. Nämlich die Tatsache, dass sie ihrer besten Freundin am Ende nicht von diesem Abenteuer würde berichten können. Das Lächeln auf ihren Lippen schrumpelte zusammen, und zurück blieb nichts weiter als ein verhärmter Strich.
»Was ist los?«, erkundigte sich Ralf alarmiert und hob mit besorgter Miene Ellas Kinn an, damit sie seinem forschenden Blick nicht ausweichen konnte.
Ella versuchte sich an einem beschwichtigenden Lächeln, um Zeit zu gewinnen. Sie hatte Angst, die Stimmung zu ruinieren, indem sie mit dem Thema Linda anfing, aber andererseits wollte sie Ralf auch nicht anlügen. Ralf würde nicht locker lassen. Nicht heute. Seine Augen auf ihrem Gesicht machten sie ganz nervös. Schließlich gab sie nach. »Ich wünschte einfach, Linda wäre gekommen«, erklärte sie mit resigniertem Tonfall und blickte wehmütig auf die Gästeschar zu ihren Füßen.
Ralf folgte ihrem Blick. Mit zusammengezogenen Augenbrauen, die ihn auf einmal sehr mürrisch aussehen ließen, starrte er aus dem Fenster und kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe herum. Er zog seine Braut schützend in die Arme und gab ihr einen langen Kuss auf die Stirn. Seine Augen hatten sich gefährlich verdunkelt, als er sie schließlich wieder freigab. Dann reichte er ihr die Hand. »Komm, wir gehen«, bestimmte er, und sein Tonfall ließ keinerlei Zweifel daran, dass er es ernst meinte.
»Jetzt?« Ella blinzelte ungläubig, als sie die Entschlossenheit in seinen Augen erkannte.
»Ja, jetzt«, versicherte er tonlos und zog sie mit sich, bevor sie überhaupt reagieren konnte.
Ella war so aufgeregt wie eine Fünfjährige am Weihnachtsmorgen, als sie die knarrenden Stufen der Holztreppe hinunterhuschte. Hastig sah sie sich nach allen Seiten um, doch es schien sie niemand zu bemerken. Ralf marschierte zielstrebig voraus und zeigte keinerlei Bedenken, erwischt oder aufgehalten zu werden. Ella imponierte diese überraschend rebellische Attitüde ihres Mannes, die so gar nicht zu dem sonst so gewissenhaften Ralf passen wollte.
»Was hast du mit mir vor?«, verlangte sie zu wissen, und ihre Augen leuchteten voller Erwartung. Ralf überging ihre Frage mit einem vielsagenden Lächeln und hielt ihr die Tür des Hintereingangs auf.
»Für Vegas ist es jetzt zu spät Cowboy, wir haben schon JA zueinander gesagt«, gab sie belustigt zu bedenken, als sie an ihm vorbei ins Freie schlich.
»Für Vegas ist es nie zu spät«, widersprach er und zwinkerte ihr dabei zu.
Von der Sommersonne war lediglich ein feuriges Glimmen am Horizont übrig geblieben, als Ralf mit seiner Angetrauten direkt auf das Maisfeld zusteuerte. Ella runzelte verwirrt die Stirn, während sie sich zwischen den hohen Maisstauden hindurchwanden. »Was hast du vor?«, fragte sie, und leises Misstrauen schwang in ihrer Stimme mit. Als Ralf nicht antwortete, wurden ihre Schritte zögerlicher, und ihre Hand versteifte sich in der seinen.
Ralf dachte gar nicht daran, sich mit Erklärungen aufzuhalten, und zog sie mit selbstbewusster Bestimmtheit durch das grüne Dickicht. »Es wird Zeit für dein Hochzeitsgeschenk«, war die einzige Andeutung, zu der er sich hinreißen ließ.
Ella konnte erkennen, dass er lächelte, und ein nervöses Flattern in ihrer Brust sorgte in ihrem Inneren für helle Aufregung. Das alles war derart aufregend und abenteuerlich, dass sie ganz feuchte Hände bekam. Ralf und sie waren ein vernünftiges, fast schon spießiges Paar. Niemals hätte sie sich träumen lassen, dass sie ausgerechnet an ihrem Hochzeitstag klammheimlich zur Hintertür eines Gasthauses hinausschleichen und in einem Maisfeld verschwinden würden.
Als Ralf plötzlich mitten im Feld innehielt, wäre sie beinahe in ihn hineingerannt, so abgelenkt war sie. Sie hielt sich mit beiden Händen an seinen Schultern fest und folgte seinem Blick. Als sie die ganzen Kissen und LED-Teelichter am Boden erkannte, die mitten in dem ganzen Grünzeug wirkten wie ein Legostein in einem Moosgeflecht, blieb ihr vor lauter Überraschung der Mund offen stehen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie dort stand, ohne sich bewegen zu können, doch nach einer Weile tätschelte ihr Ralf die rechte Hand und meinte: »Keine Angst: Ich weiß, wie wichtig dir bleibende Erinnerungen sind. Deshalb habe ich bereits im Vorfeld alles abfotografiert.«
Ella war noch immer viel zu baff,...