Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
«Na, wie geht es uns heute, Herr Weber?» Schon in diesem gesprächseinleitenden Satz bestätigen sich die vielen Vorurteile, die Heiri, seines Zeichens Ex-Kommissar der Kripo Bern, gegenüber der Psychiatrie im Allgemeinen hegt. Anstelle einer frechen Antwort, die ihm auf der Zunge brennt («mir geht es gut, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht.»), bringt er nach einigem Zögern ein nichtssagendes «gut» über die Lippen. Wenn er mich jetzt fragt, ob wir immer noch Albträume haben, verlasse ich den Laden gleich wieder, nimmt er sich vor. Rita hat es bestimmt gut gemeint mit dieser geschenkten ersten Therapiestunde bei ihrem Psychiater. Sie hat ihn jedoch zu diesem Schritt genötigt.
Aus dem unternehmungsfreudigen Frührentner, der den größten Teil der neuen Freiheiten mit Rita verbracht hat, ist in den letzten Monaten ein ausgepowerter, grübelnder Griesgram und Stubenhocker geworden, der beim stundenlangen Fernsehen öfter mal zu tief ins Glas schaut.
«Ich halte das nicht mehr aus.», hat sich Rita schon mehr als einmal beschwert. «Lass dir doch helfen. Mit so wenig Schlaf wirst du nie mehr aus deinem Loch finden. Nächstens deponiere ich dich im Altersheim, verkaufe die Hütte und nehme mir irgendwo eine kleine schicke Stadtwohnung. Ich lasse mir mein Leben nicht von dir versauen!»
«Dumme Frage, ich weiß!» Meistens kommen Menschen mit irgendeinem Problem zu mir», versucht der kleine dickliche Mann mit dem strähnigen weißmelierten Haar das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Nicht gerade vertrauenerweckend, dieser Anblick, denkt Heiri. Auch kein Wunder, dass ihn seine Frau schon vor fast zwanzig Jahren verlassen hat, wie er von Rita weiß. Bald kommen wir zwei an den von mir viel zitierten Punkt, dass man sich beim Psychiater oft fragen müsse, wer genau jetzt wen therapiere. Bestimmt hat Rita als seine «Dauer»-Patientin ihm geholfen, sich über den Zerfall seiner Familie hinwegzutrösten. Armer Kerl!
Was nun folgt, gleicht einem Verhör auf der Polizeistation. Im Spital würden sie einem das Krankenkassenkärtchen abnehmen und hätten die Personalien innert Sekunden in ihrem System erfasst, findet Heiri. Er gibt aber artig Auskunft über sein Alter und seine Gesundheit. Gesundheit? Ist doch gut, oder?
«So, das hätten wir! Ihre Frau hat mir erzählt, dass Sie unter Albträumen leiden und manchmal noch den ganzen Tag das Bild einer entsetzlich entstellten Leiche mit sich tragen. Das gilt es nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. All das Unverarbeitete, Abscheuliche, drängt sich in Ihr Bewusstsein. In Ihrem Beruf bei der Kripo hätte ich keinen Tag überlebt, wissen Sie. Ich kann nämlich kein Blut sehen! Aber item. Wenn ich daran denke, dass Sie all die Jahre bestimmt noch ohne Coaching, Supervision oder anderweitige Unterstützung arbeiten mussten, bewundere ich Sie. Vierzig Jahre lang Gewalt, Schrecken, Ungerechtigkeiten und so weiter hautnah miterleben zu müssen! Unglaublich, was sich da wie eine Art Atommüll-Endlager in Ihnen angesammelt haben muss und erst jetzt in Form von Träumen durch Ihre selbst aufgebaute Schutzmauer rinnt.»
Atommüll-Endlager? Das hat er gut formuliert, findet Heiri.
Aus meiner Optik gibt es zwei Ansätze, wie wir in einer Therapie vorgehen könnten. Die erste wäre: Wir versuchen das Leck zu verschließen, verstärken also die Schutzmauer. Der zweite: Wir versuchen das Endlager umzulagern, es zu entgiften, um ihm sozusagen in Ihrem Denken und Fühlen einen anderen Platz zu geben.»
Ohne es zu bemerken, nickt Heiri anerkennend und muss sich eingestehen, dass er Herrn Bühler wohl etwas falsch eingeschätzt hat. Warum nur habe ich solche Widerstände in mir, mir helfen zu lassen? Hat die Erfahrung und Devise, sich beim Ermitteln oft nur auf sich selbst verlassen zu können, zu dieser Blockade geführt? Ist dieser Schutzschild, den ich mir unbewusst aufgebaut habe, gegen innen und außen wirksam und verhindert auch den Zugang von gutgemeinten Ratschlägen?
Hat Rita eventuell doch recht, wenn sie mich manchmal als unbelehrbar und unnahbar beschreibt? Wie hat sie mir doch heute Morgen, vor dem Gang hier in die Praxis, vorgeworfen: Keine Hilfe annehmen zu wollen, sei hochnäsig und feige. Hat sie eventuell bereits mit Herrn Bühler über meine Verhärtung gesprochen? Er scheint jedenfalls gut mit meinem Fall vertraut zu sein, grübelt Heiri und merkt nicht, dass der Psychiater mit seiner Ausführung bereits bei den nächsten Schritten angelangt ist.
Hilfe zur Selbsthilfe sei die wichtigste Doktrin in der Psychologie. Er habe höchstens eine Beraterfunktion. Schon Freud habe. Eigentlich sehe er nur bei der zweiten Variante eine Chance, also indem man den Sondermüll aufarbeite und nicht versuche, noch dickere Mauern.
Ja, hier liegt das Grundproblem, spürt Heiri, und auf einmal sieht er sich unwillentlich in die Therapie einsteigen: «Genau hier, Herr Bühler, habe ich große Ängste.» Der sonst eher wortkarge Heiri beginnt nun zu debattieren. Beginnt, wie zuvor Herr Bühler, Vergleiche heranzuziehen. Anstelle des Sondermülls hält er es eher mit dem Zauberlehrling: «Die Kräfte, die ich rief, werde ich nie mehr los. Wie bei allem im Leben, gibt es auch in mir zwei Seiten. Meine erlernte Einstellung, im Beruf schreckliche Anblicke und Erlebnisse zu ertragen, indem ich sie zwar aufnahm, um sie aber nüchtern und möglichst ohne eigene Emotionen in meiner Schublade abzulegen, wirkt sich jetzt wie ein überfüllter Magen aus. Mein Ich sträubt sich dagegen, loszulassen, so quasi den Finger reinzustecken, um erleichterndes Erbrechen zu bewirken.»
Diese Selbstanalyse beeindruckt Herrn Bühler offensichtlich. «Sehr treffend, aus Ihnen wäre ein guter Psychologe geworden. Ja, Sie haben Angst davor, dass die Aufarbeitung dieser bösen Geschichten diese reanimiert und dadurch ihrer Psyche noch mehr Schaden zufügen könnte. Das verstehe ich. Es mag sein, dass Sie schlimme Momente nochmals durchleben müssen, doch nur, wenn es uns gelingt, sie aufzuwecken, können wir den Kampf gegen sie aufnehmen. Sie müssen sichtbar werden, erst so werden sie auch fassbar. Es ist Ihnen offensichtlich nicht gelungen, in Ihren drei Rentnerjahren genügend Distanz zu finden. Die Zeit heilt leider nicht alle Wunden, wenn Sie verstehen, was ich meine.»
Heiri ist beeindruckt, obwohl er diesen Lösungsansatz des Aufarbeitens irgendwie auch erwartet hat. Zum ersten Mal scheint ihm, dem kritischsten aller Patienten, die Hilfestellung dieses Mannes als mögliche Option. Längst hat er sich nämlich eingestehen müssen, dass er die Horrorträume nicht einfach ausblenden kann. Und wie er sie loswerden könnte, weiß er nicht. Langsam hat er auch vom Gedanken Abschied genommen, dass sie sich eines Tages von allein verflüchtigen würden. Die Schlafqualität hat immer mehr gelitten, ist er sich bewusst, und hat als Folge oft negativen Einfluss auf seine Laune. Es ist eine Beeinträchtigung von Ritas und seiner Lebensqualität, das muss er sich eingestehen. Also lieber wenigstens den Strohhalm packen und den Schritt wagen, als sich damit abzufinden. Im besten Fall lebe ich noch zwanzig Jahre, und die möchte ich, verdammt nochmal, glücklicher leben.
«Gut, einverstanden! Einen Versuch ist es mir wert, wenn Sie mir jederzeit die Möglichkeit gestatten, auszusteigen, bin ich bereit für eine Therapie!», hört er sich sachlich und schon beinahe locker sagen.
«Gut, dann starten wir doch gleich mit einem ersten Meditationsversuch! Welches Bild verfolgt Sie am meisten, Herr Weber?»
Erstaunlicherweise erzählt Heiri bald von diesem fassungslosen, aber auch vorwurfsvollen Blick einer jungen Frau. Zu keinem Wort fähig, starre sie ihn an und irgendwie auch durch ihn hindurch ins Leere. Die Mischung aus Entsetzen, Wut und Ohnmacht lasse ihn erschauern und meist auch mi einemSchuldgefühl aufwachen. «Wenn sie wenigstens geschrieen hätte, mir die Leviten gelesen, mich gepackt oder geschlagen hätte, aber dieser Blick!», fügt Heiri mit angespanntem Gesichtsausdruck hinzu. «Wenn ich in der Lage gewesen wäre, sie auf ihren Blick anzusprechen. Der Traum geht nie weiter, Herr Bühler? Und so lange werde ich ihn auch nicht los, das spüre ich! Verstehen Sie?»
Der Psychiater nickt. «Bestimmt haben Sie bei Ihren Ermittlungen auch Fehler gemacht. Darüber müssen wir nicht diskutieren. Hier scheint Sie eine mögliche Mitschuld zu belasten, welche eventuell auch keine war. Denn Ihr Job war die Wahrheitssuche und nicht die Suche nach Gerechtigkeit. Anders gesagt: Sie sind berufshalber erst eingeschritten, als das Böse bereits geschehen war und haben laut Ihrem guten Ruf bestimmt sehr überlegt und vorsichtig gehandelt. Vergessen Sie das bitte nicht!»
Heiri entspannt sich ein wenig.
«Wir können eigentlich erst mit der Therapie beginnen, wenn Sie sich an eine oder die mögliche Auslösung für den Traum erinnern, was Sie vermutlich nicht so einfach...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.