Schweitzer Fachinformationen
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Genüsslich vergräbt sich Heiri Weber nach dem Erwachen nochmals in den warmen Kissen. Rita hat ihr gemeinsames Nest bereits verlassen. Aus Erfahrung weiss Heiri, dass es jetzt etwa sieben Uhr ist. Längst hat er ihre «senile Bettflucht» akzeptiert, ja sogar schätzen gelernt. Er geniesst nämlich das Privileg, als Frühpensionierter liegen bleiben zu dürfen und noch fast zwei Stunden Zeit für sich zu haben. Seit gut einem Jahr begibt sich Rita beinahe täglich auf ihre grosse Walkingrunde, von der sie erst gegen neun Uhr zurückkehrt. Heiris Aufgabe besteht bis dahin einzig darin, den Tisch zu decken und Kaffee zu machen, was nur knapp fünf Minuten in Anspruch nimmt und ergo fast bis um neun warten kann.
Heiri hat es sich zur Gewohnheit gemacht, den Tag mit Musik einzuläuten. Nach dem Aufstehen setzt er sich mit einem doppelten Espresso an seinen Steinway-Flügel. Die Lust am Klavierspielen ist wieder in ihm erwacht. Aus Zeitmangel und auch ein wenig aus Groll seinen Eltern gegenüber, die ihn daran gehindert haben, Berufsmusiker zu werden, hat er während fast dreissig Jahren keinen Ton gespielt. Sein musikalischer Nachholbedarf ist daher riesig. Er hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt und will mindestens sein früheres Niveau erreichen. Er geniesst es auch, mit Musik sanft in den Tag zu gleiten. Immer wieder staunt er, wie wach und gelöst er dabei wird. Zur guten Laune trägt auch das bevorstehende Frühstück mit Rita bei. Das alte Ehepaar Weber zelebriert dieses nämlich. So gegen elf macht sich Heiri in der Regel auf zu seinem Rundgang mit dem Velo ins Aarberger Stedtli. Freunde treffen, im Tearoom Steffen Zeitungen lesen und kleine Einkäufe tätigen steht auf seinem Programm.
An diesem Morgen findet Heiri jedoch nicht zum Schlaf zurück. Zu sehr fühlt er sich gedrängt, einen Versuch mit seiner neu erstandenen Begleitstimmen-CD zu wagen. Kaum hat Rita das Einfamilienhaus als «Stockente», wie man im Volksjargon die Walkerinnen mit Stöcken nicht gerade charmant nennt, verlassen, begibt sich Heiri ins Wohnzimmer, legt die CD mit Beethovens Klavierkonzert ein und beginnt, den Solopart zu spielen. Zu seiner freudigen Überraschung gelingt es ihm auf Anhieb, mit der orchestralen Begleitung mitzuhalten. Er spielt sich langsam in einen Rausch hinein und wähnt sich als Solist auf einer grossen Bühne. Treffsicher setzt er die mächtige Akkordfolge, bis ihn etwas Feuchtes im Nacken beinahe erstarren lässt.
«Spinnst du, mich so zu erschrecken!», faucht Heiri, in der Meinung, Rita sei vorzeitig heimgekehrt und habe ihn ohne Vorwarnung auf den Nacken geküsst. «Willst du mich umbri.?» Das letzte Wort bleibt ihm im Hals stecken, denn nun kratzt ihn jemand auch noch ganz unsanft am Rücken. Heiri fährt herum und erschrickt erneut, als er den mit dem Schwanz wedelnden und winselnden Hasso entdeckt, der auf den Hinterpfoten steht und wie Espenlaub zittert. «Du kannst doch deinen Hund nicht einfach reinlassen, Paul!», ruft er vorwurfsvoll in Richtung Hauseingang. «Bist du bescheuert?! - Was willst du in dieser Herrgottsfrühe, ich bin noch im Pyjama! Du hättest wenigstens klingeln können!»
Als aber das leichenblasse Gesicht seines Freundes im Türrahmen auftaucht, hält Heiri inne. Etwas Schreckliches muss geschehen sein. Paul wankt durch die Zimmertür und sucht nach entschuldigenden Worten für seinen Überfall. «Du hast die Klingel, es ist.»
«Schon gut, komm, setz dich», erwidert Heiri und führt den völlig verstört wirkenden Freund am Oberarm zum Sofa.
«Hasso, hast du mich erschreckt», sagt er zum immer noch aufgeregt herumtänzelnden Dalmatiner. «Ja, ja, beruhige dich doch!» Heiri tätschelt dem Hund den Hals. «Ja, ja, du bist ein Braver», fügt er an. Aus den Augenwinkeln betrachtet er seinen vor Schreck erstarrten Freund. «Geht es dir nicht gut?», fragt er vorsichtig. «Ist es wegen deiner starken Medikamente? Ist dir schwindlig? - So sag schon, vor wem hast du Angst? Bist du auf der Flucht?! Warum kommst du zu mir?»
Paul scheint über diese Fragen lange nachdenken zu müssen. «Was - warum?», bröselt er hervor.
«Warum hast du deinen Hund auf mich gehetzt?», fragt Heiri nach, in der Hoffnung, Paul auf scherzhafte Art aus seiner Starre befreien zu können.
«Weiss nicht!», antwortet dieser, «habe es vergessen», und starrt mit weit aufgerissenen Augen an die gegenüberliegende Wand.
Ist Paul nun völlig übergeschnappt? Ist seine Demenzerkrankung schon so weit fortgeschritten?!
«Da hängt einer am Baum! Es ist Jens!», stottert Paul. «Hilf mir! Wir müssen ihn runterholen!»
Heiri zieht den Freund aufs Sofa zurück. «Komm, erzähl mir, was geschehen ist. Wer oder was hängt am Baum? Und wo.?»
«Er hat sich auf der Bargenschanze erhängt. Komm schnell!», drängt Paul, «bevor ihn Kinder entdecken - es ist ein furchtbarer Anblick! Sein Gesicht ist völlig verzerrt. Er trägt einen zerknitterten schwarzweissen Anzug. Warum hat er sich umgebracht? Ist es meine Schuld? Du weisst, wir hatten im Frühjahr einen grossen Streit! Gestern ist Traore, sein Geschäftspartner spurlos verschwunden, wie mir sein Vater gemeldet hat, und heute erhängt sich mein Ziehsohn Jens.»
«Hast du die Polizei schon verständigt?», fragt Heiri und greift beinahe instinktiv zum Telefonhörer. «Nein, ich dachte.»
«Schon gut», erwidert Heiri und wählt die Nummer der Polizei. Er meldet den schrecklichen, von Paul zufällig entdeckten Fund und den Verdacht, dass es sich beim Opfer um seinen Nachbarssohn Jens Zesiger aus Bargen handle. Nach Rücksprache mit Paul nennt er auch den genauen Fundort und gibt für Rückfragen seine wie auch Pauls Adresse an. «Ja, der frühere Hauptkommissar Weber ist am Apparat, Ihr früherer Kripo-Kollege. Deshalb schlage ich Ihnen vor, dass ich sogleich eine Absicherung der Fundstelle auf der Bargenschanze vornehme und oben mit Paul Krebs auf die Ankunft von Hauptkommissar Boselli und Laura warte. Sie sollen sich verdammt noch mal beeilen. Die Bargenschanze ist ein beliebtes Ausflugsziel für Schulklassen - besonders bei solchem Wetter. Das Verhindern eines Schreckensszenarios hat oberste Priorität, verstanden?!» - «Nein, wir werden bestimmt nichts anfassen!», erwidert er auf den schulmeisterlich wirkenden Belehrsatz etwas ärgerlich und beendet das Telefonat.
Heiri drängt nun zum Gehen. «Es gilt, keine Zeit mehr zu verlieren. Komm! Ich hole noch rasch einen Rest Absperrband, den ich kürzlich in einem Kellerschrank gesehen habe, dann gehen wir», erklärt er sachlich. «Die Polizei wird wohl zirka eine halbe Stunde benötigen, bis sie auf der Bargenschanze eintrifft.»
Rasch geht es die kurze Strecke bergauf. Beide geraten innert Kürze ausser Atem. Hasso scheint gar nicht erpicht zu sein, nochmals an die unheimliche Fundstelle zurückzukehren. Immer wieder muss ihn Paul zum Weitergehen antreiben. Als sie das kleine Waldstück mit der Feuerstelle erreichen, werden auch seine Schritte langsamer. «Muss ich mir den schauerlichen Anblick wirklich nochmals antun?», fragt Paul besorgt.
«Nein, entschuldige, dass ich nicht selber darauf gekommen bin. Sichere du hier den Zugangsweg und lass niemanden passieren. Da, nimm dieses Stück Absperrband, damit kannst du dich besser als Polizeihelfer ausweisen!», ordnet Heiri an.
Dankbar bleibt Paul mit Hasso zurück, während sich Heiri gedankenversunken Richtung Fundstelle macht. Haben mein ungutes Gefühl, mein Instinkt mich gestern doch nicht getäuscht? Paul hatte zum wiederholten Mal von Jens' undurchschaubaren Machenschaften erzählt und seine Skrupellosigkeit betont. Auch erwähnte er, dass die Börsenhelden Jens und Traore, der Sohn des nigerianischen Botschafters, mit ihren gemeinsamen Geschäften wohl in einen mächtigen Strudel geraten seien. Wenn man so rasch reich wird, kann es ja nicht mit rechten Dingen zu- und hergehen, erwähnte er. Viel Spekulatives geht Heiri durch den Kopf, und er erschrickt beinahe über seine Gedanken. Bei der Feuerstelle auf der Bargenschanze angelangt, schaltet sein Hirn wieder ins Hier und Jetzt um. Er starrt vor sich auf den Boden, um sich zu sammeln. Das hat er immer so gehalten, wenn ihm schreckliche Anblicke schwer verletzter Opfer oder entstellter Leichen bevorgestanden sind. So, von hier aus kann ich die nähere Umgebung überblicken, denkt er, und bleibt stehen. Auf das Schlimmste gefasst, hebt er langsam seinen Blick und sucht die umliegenden Bäume nach dem Erhängten ab - und findet nichts. Wie ist das möglich?, fragt er sich. Hatte Paul heute Morgen Halluzinationen? Haben seine «Medikamentenhämmer» diese ausgelöst? Verunsichert und beinahe etwas verzweifelt dreht er sich um und ruft Paul herbei. «Komm, Paul, da hängt...
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