Schweitzer Fachinformationen
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Sie waren da. Es hatte geklappt. Augenblicklich begann ihr Puls zu rasen. Das Herz schlug so schnell und heftig, dass das Pochen von außerhalb zu kommen schien. Der Mund fühlte sich trocken an, und ihr wurde übel. Oh Gott. Schüler hasteten vorbei. Rennende Füße. Schreien. Lachen. Begrüßungen. Türenschlagen. Sie stand einfach da. Wie gelähmt. Jemand rempelte sie von hinten an. »Ui, sorry.« Um sich aufzufangen, machte sie einen Schritt nach vorne. Weitergehen. Los. Die Befehle wirkten. Mechanisch stieg sie die Treppe hoch. Da war das Klassenzimmer. Sie betrat es, setzte sich an ihren Platz. Immer noch wie in Trance. Als wäre das eine andere Person, die hier funktionierte, als würde sie sich selber zuschauen. Ihre Hände waren nass von kaltem Schweiß. Angst. Einige der Mitschüler waren schon da. Niemand nahm sie wahr, machte auch nur die kleinste Bemerkung. Man ließ sie in Ruhe. Und sie war froh um diese Unsichtbarkeit. Langsam packte sie ihre Sachen aus. Legte sie ordentlich vor sich auf das Pult. Jedes an seinen Platz. Automatisch. In der rechten Ecke oben das Etui mit den Stiften. Direkt vor ihr der Notizblock, rechts davon ein gespitzter Bleistift. Links die Schulbücher. Das Zimmer füllte sich. Es wurde so laut, dass man die Schulklingel leicht überhörte. Plötzlich klatschte jemand in die Hände. »Meine Damen und Herren, bitte setzen Sie sich.« Sie hatte gar nicht bemerkt, dass der Lehrer im Raum anwesend war. Er musste noch einmal in die Hände klatschen. »Bitte, meine Damen und Herren.« Sie atmete tief durch. Einmal. Zweimal. Dreimal. Allmählich begann sie, sich zu beruhigen. Sie war sicher. Es war alles wie gewöhnlich. Das Rauschen in den Ohren ließ nach. Puls und Herzschlag normalisierten sich. Die Stunde begann und nahm ihren Lauf. So normal, wie es eben möglich war in der ersten Lektion nach fünf Wochen Sommerferien.
Um 8.35 Uhr schrillte die Glocke. Wie auf Kommando begann das Stuhlrücken, Bücherzuschlagen, Reden, Lachen, Füßescharren. Niemand hörte den Lehrer, wie er noch vergeblich versuchte, die nächste Hausaufgabe bekannt zu geben. Resigniert schloss er seinen Mund, schrieb eine Seitenzahl mit weißer Kreide an die Wandtafel und deutete mit dem rechten Zeigefinger darauf. Damit hatte er etwas von einem unfreiwilligen Pantomimen. Sie packte ihre Sachen und verließ im Pulk einer Schülergruppe das Zimmer. Die lebhafte Präsenz der anderen verschluckte sie. In ihrem Lärmpegel ging sie so vollständig unter, als würde sie selbst keine Geräusche verursachen. Die homogene Masse bewegte sich den Korridor entlang. Wich einer entgegenkommenden Gruppe aus, zog sich in die Länge, kam an der Treppe wieder zusammen, wurde schließlich im Nadelöhr der Zimmertür zählbar klein und löste sich im Inneren des Raumes wieder in Individuen auf. Latein. Frau Habegger stand mit dem Rücken zur Wand und lächelte den Hereinströmenden tapfer zu. Kaum jemand lächelte oder grüßte zurück. Taschen wurden auf Tische gepfeffert, man schubste sich, packte wieder aus, fläzte sich auf seinen Sitz. Dieses Schulzimmer ging auf die andere Seite raus, nach Westen. Bevor sie sich setzte, fiel ihr Blick auf das beruhigende Grün der Ulme vor dem Fenster.
Irgendwann wurde es Mittag. Sie verzog sich an einen schattigen Platz im Park. Die Mädchen ihrer Klasse waren verschwunden. Sie würden sich in der nahe gelegen Migros etwas besorgen und dann gemeinsam verzehren. Sie war froh, allein zu sein. Mit einem flüchtig mitleidigen Blick bedachte sie die verlorenen Erstklässler, die mit fragenden Gesichtsausdrücken verunsichert herumirrten. Sie setzte sich auf den Rasen unter der Ulme, wo sie sich ungestört wähnte, und griff in den Rucksack. Dabei streifte ihre suchende Hand den Taugenichts, und sie zog das gelbe Reclambüchlein heraus. Als Nächstes fand sie die kleine, mit Wasser gefüllte Petflasche und danach die Lunchbox. Das Brot war trocken. Bedächtig zermalmte sie es und nahm zusätzlich einen Bissen Apfel in den Mund. Sie liebte diese Kombination, wenn das Brot begann, süßlich zu schmecken. Zwischendurch ein Schluck Wasser. Wieder ein Bissen Brot, dann der Apfel. Kauen. Schlucken. Beißen. Hatte sie wirklich jemanden gesehen heute Morgen? Oder hatte sie sich geirrt? Sie ließ ihren Blick über das Schulgelände schweifen. Alles schien wie immer zu sein. Essende, plaudernde Schülergruppen, hastende Lehrer. Niemand, der nicht hierhergehörte. Sollte sie sich alles nur eingebildet haben? Sie begann zu zweifeln. Hatten ihr ihre Augen und ihre Fantasie einen Streich gespielt? War das möglich?
Um Gewissheit zu erhalten, blieb ihr nichts anderes übrig, als auf der Toilette nachzuschauen.
Noch hatte sie etwas Zeit, bevor die Nachmittagslektionen begannen. Es war heiß draußen, und selbst im gut isolierten Schulhaus war es warm geworden. Wieder klopfte ihr Herz heftig, als sie auf der Toilette kontrollierte, was sie heute Morgen angenommen hatte. Also doch. Jemand hatte sich an der Zeichnung zu schaffen gemacht. Sie war verblasst, aber immer noch gut sichtbar. Das Schwarz des wasserfesten Filzstifts hatte sich zu tief in die weißen Fliesen eingefressen, als dass es einfach so weggeputzt hätte werden können. Alles war gut. Alles war so, wie sie es wollte. Dennoch kribbelte es in ihrem Magen unkontrolliert, und er zog sich unangenehm zusammen. Die Nervosität breitete sich in ihrem Körper aus und drohte, sie zu überwältigen.
Sie betrat das Schulzimmer. Jemand hatte vorsorglich die Sonnenstoren heruntergelassen. Sie dämpften das Licht im Raum. Es war trotzdem heiß.
Sie setzte sich auf ihren Stuhl, und die Nachmittagsstunden begannen, schlichen dahin. Lektion reihte sich an Lektion. Endlich 17.20 Uhr. Die Schulglocke schrillte heute zum letzten Mal. Es war vorbei. Sie hatte den ersten Schultag überstanden. Überlebt. Sie konnte nach Hause fahren.
In der Wohnung war es still. Und zu heiß. Wieder hatte ihr Vater vergessen, die Rollläden zu schließen. Die Sonne hatte den ganzen Vormittag bis in den Nachmittag hinein die Räume aufgeheizt. Nun hockte sie in Teppichen, Polstermöbeln, Stoffkissen und ließ sich nicht mehr vertreiben. Selbst wenn sie jetzt die Fenster öffnete, käme nur noch mehr Hitze von draußen rein. In diese 60er-Jahre-Blockwohnung mit Klinkerböden, Buchenparkett und braun gesprenkelten Spannteppichen. Außer ihnen wohnten im ganzen Haus nur alte Leute, die seit jeher hier lebten und nichts vertrugen. Immer musste sie ruhig und still sein. Sie schlichen durch die Zimmer und sprachen mit gedämpfter Stimme. Und wehe, wenn sie einmal die Musik ein paar Dezibel höher drehte. Sofort wurde reklamiert, rügend an den Boden oder an die Decke geklopft. Längst hatte sie sich Kopfhörer besorgt, um die Musik in ihrem Kopf dröhnen lassen zu können, so laut sie es wünschte.
Von draußen drang das rhythmische »Tschigetschigetschige« der Rasensprenger herein. Der Kühlschrank war, abgesehen von einer angebrochenen Tetrapackung Milch, einer krummen Käsescheibe und einem Stück ranzig gelber Butter, leer. Die letzte Schnitte Brot musste ihr Vater mitgenommen haben. Sie hatte ohnehin keinen Hunger. Beim Verlassen des Raums schien sie das überlaute Ticken der billigen Plastikuhr von der Wand herab zu verhöhnen. In ihrem Zimmer war es stockfinster. Sie brauchte einen Moment, bis sich die Augen von der sonnigen Helligkeit unvorbereitet an die Dunkelheit gewöhnten. Ihre Höhle. Sie trat hinein und drückte auf den Knopf der Stereoanlage. Dazu brauchte sie nichts zu sehen, hier fand sie sich mit verbundenen Augen zurecht. Das rote Stand-by-Lämpchen erlosch, stattdessen blinkte die Digitalanzeige auf und verbreitete ein eigentümlich unnatürlich grünes Licht. Sie stülpte sich die Kopfhörer über, warf sich aufs Bett und wartete. Dazu starrte sie ins Leere. Langsam begann das Lied. Sie war ganz alleine mit der Musik. Es gab nur noch die Dunkelheit, Reamonn und sie.
War richtig, was sie akribisch vorbereitet hatte? Worauf sie nun seit Monaten hinlebte? Würde der Plan aufgehen? Das Lied steigerte sich. Jetzt kam die Stimme. Sie kannte den Text auswendig. Die Worte über Freiheit, Ewigkeit, Zerrissenheit und Heimkommen.1
Sie passten ganz genau zu ihr und ihrem Leben.
Was für ein beschissenes Jahr sie gehabt hatte.
Sie war immer brav und angepasst gewesen. Und man hatte sie dementsprechend in Ruhe gelassen. Sie leben gelassen, wie ein lästiges Insekt, das zwar da war und das man jederzeit zertreten konnte, sollte es einen Mucks machen, das man aber duldete, solange es sich unsichtbar hielt.
Wieder lauschte sie eine Weile den Worten im Lied.
Es war richtig, was sie vorhatte. Sie wusste, was richtig und was falsch war. Keine Angst mehr. Keine Schmerzen. Und seit sie sich entschieden hatte, war es tatsächlich, als könnte sie heimgehen. Im Prinzip hatte sie sich schon lange nicht mehr mit dem Warum befasst. Seit Wochen ging es nur um Organisatorisches. Haarklein hatte sie alles geplant und wusste bis ins Detail, wie sie vorzugehen hatte.
Das Alleinsein hatte ihr nie viel ausgemacht. Sie kannte nichts anderes. Seit sie sich erinnern konnte, waren ihr Vater und ihr Großvater in der Backstube gewesen und ihre Mutter mit der Großmutter im Laden. Solange sie klein gewesen war, hatten die Eltern sie in der Bäckerei gehabt. Ihr einen kleinen Tisch in den hinteren Teil des Ladens gestellt, und da hatte sie gebastelt, gezeichnet, ihre Hausaufgaben erledigt. Und als sie größer geworden war, hatte sie ihren Schlüssel gehabt und sich alleine in der Wohnung aufgehalten. Das war in Ordnung gewesen. Und damit hätte sie auch hier klarkommen können. Selbstverständlich hätte sie gerne eine...
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