Schweitzer Fachinformationen
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Am Rand steht ein Kind und faucht. Es hat die Arme ausgebreitet, die Finger zu Krallen gekrümmt, treibt die Tauben vor sich her über den Bahnsteig und hin zu den Gleisen.
Das Kind stampft mit dem Gummistiefel auf den Boden. Jetzt flattern die Tauben, und das Kind lacht. Ein paar fliegen bis unters Dach, auf das noch immer der Regen schlägt. Eine Frauenstimme verkündet die Einfahrt des Zuges auf Gleis acht. Ich schlucke den Rest Kaffee herunter. Er ist kalt, auf dem Rand des Pappbechers sind Abdrücke von meinen Zähnen. Ich schließe die Augen.
Wir liegen nebeneinander. Elena schnauft im Schlaf, vielleicht bekommt sie Schnupfen. Kein Wunder, so wie der Regen auf das Dach schlägt. Ich ziehe uns die Decke über die Schulter, klemme sie mir unters Kinn. Die Heizung gluckst.
Wir liegen schon eine ganze Weile. Auch Pasolini hat sich kaum gerührt, liegt da, die Schnauze auf den Pfoten. Elena ist nicht zur Arbeit gegangen. Und jetzt atmet sie in die kleine Kuhle über meinem Schlüsselbein. Ihr Atem geht langsam und gleichmäßig. Draußen vor dem Fenster schüttelt der Wind die Kastanie.
Am Morgen ist Elena aufgestanden, ich sah sie vor dem Kleiderschrank stehen, auf einem Bein balancierend, das andere zog sie zu sich heran, um mit dem Fuß in die Strumpfhose zu schlüpfen. Sie schwankte, und ich wünschte, dass alles stillhielte, die Wolken am Himmel, die Blätter der Kastanie, die rasende Zeit.
Strippe ist tot. Es gibt nichts mehr zu retten außer uns.
Ich sah zu, wie Elena über ihre Haut eine zweite zog, die perfekt passte, von den Zehen über die Ferse, hoch zu den Knöcheln. Aber von weitem, vom Bett aus, wirkte es, als würde sie nichts drüberziehen, sondern eine tiefere Schicht freilegen, die nicht milchweiß, sondern schwarz war. Ich sah ihr zu und dachte an nichts. Oder so was wie: Ach guck, so ist das, so fühlt sich das an.
Da fiel Elena hin, so richtig auf den Hintern. Wir mussten beide lachen. Pasolini war hochgeschreckt, riss das Maul auf und gähnte.
Das ist ein Zeichen, sagte ich und drehte die Heizung auf.
Wir legten uns wieder hin. Ich las Meriggio, ein Gedicht von der Hitze eines Mittags an der Küste vor Livorno, ein Mann steht in völliger Flaute an der Mündung des Arno, das Schilf reglos, das Meer spiegelglatt, über allem ein Flirren, das es unmöglich macht, das eine vom anderen zu unterscheiden. Vor der vierten Strophe, als die warme Heizungsluft über uns strich, schlief Elena wieder ein. Ihr Arm über meiner Brust, und ich hielt ihn wie ein Ertrinkender oder wie jemand, der Angst hat, keine Luft zu kriegen.
Wir haben Absprachen. Sie geht zur Arbeit, ich spüle das Geschirr, gieße die Pflanzen, sauge den Teppich, besorge das Nötigste: Obst und Gemüse, Nudeln, Pfirsichjoghurt, Bitterschokolade.
Wir gewöhnen uns. Wir trinken und rauchen gemeinsam, Primitivo unter der Woche und Gin am Wochenende. Wir liegen viel auf dem Teppich, der mit dem Licht die Farben wechselt, irgendwann unbekleidet, sehen aus dem Dachfenster, auf das jetzt der Regen fällt, hinaus zu den kolossalen Schiffen, die ganz nah kommen, wenn sie aus dem Hafen auslaufen, und höher sind als das Haus. Wir fahren auf dem obersten Container mit, von dort überblicken wir die salzigen Elbwiesen, wir steuern ans Horn von Afrika und weiter nach China.
Das Kind hat eine Papiertüte entdeckt, in der wohl noch etwas Brot ist, eine der Tauben ist ganz versessen darauf. Sie sitzt auf der Werbetafel hinter dem Gleis, die Flügel gespreizt. Das Kind stellt den Fuß auf die Tüte, steckt die Hände in die Taschen der Daunenjacke. Da sind sie warm.
Jetzt hat das Kind Zeit. Es dreht sich um, schaut an einer Gruppe älterer Damen mit Wanderstöcken und Rucksäcken vorbei. Es schaut zu mir, denke ich. Neben mir steht ein Mann im Anzug, er beachtet es nicht, telefoniert und raucht, sein Koffer parkt in Reichweite, der Henkel der Laptoptasche ist über die ausgezogenen Griffe gefädelt. Schon praktisch.
Es ist der sechste April, ein Donnerstag. Ich habe einen Anruf in Abwesenheit, mein Vater. Für das Berliner Umland sind drei Grad Celsius, gefühlte null, angesagt. Im weiteren Tagesverlauf ist mit Nieselregen zu rechnen. Strippes Mutter schreibt, sie freue sich, dass es endlich klappt.
Der Mann im Anzug bläst den Rauch mit vorgeschobenem Unterkiefer an seinem Gesicht vorbei nach oben. Er hat das Telefon noch immer am Ohr. Zwischendurch zeigt er energisch in die Richtung, aus der der Zug kommen muss. Er bleibt im markierten Bereich. Qualmkringel stehen über seinem Kopf, die Kälte macht den Rauch dicht und königsblau. Jetzt blickt er zu Boden, sagt: Das ist keine Lösung. Sagt dann: Das werde ich so nicht hinnehmen! Dabei verlagert er das Gewicht vom linken auf den rechten Fuß. Ich schließe die Augen, vielleicht ist es ein Traum, und ich muss ihn nur aushalten.
Steh auf, sagt Elena. Du zappelst im Schlaf. Du musst etwas tun.
Sie kann dir helfen, sagt sie. Warum willst du das mit dir allein ausmachen?
Ich muss, sage ich.
Vor ein paar Tagen kam Elena mir im Flur entgegen, drückte mir das Telefon in die Hand und erklärte, Strippes Mutter sei dran. Bis ich verstand, hatte ich das Gerät schon am Ohr und hörte mich sagen: Hallo, Frau Weiser. Schön, dass Sie anrufen.
Es war nicht schön, dass sie anrief. Sie sprach von der Beerdigung, Trauerfeier, sagte sie, als hätte irgendjemand gefeiert. Elena und ich hatten uns gleich davongemacht. Ich sah sie vor mir, Strippes Mutter mit dem grausig gewellten Krähenhaar. Ich schwieg und brummte an den richtigen Stellen in den Hörer, damit sie wusste, dass ich noch dran war. Sie bat mich zu sich, nach Berlin, sagte, wir sollten uns aussprechen.
Elena war dafür. Aber Elena hat keine Ahnung. Sie kennt die Frau nicht. Nicht wie ich. Angenommen, heute Abend spaziere ich mit Strippes Mutter um den Block, die Sonne geht unter, der Himmel leuchtet in allen Farben, und dann schlägt sie mir ins Gesicht. Sie schreit: Deine Schuld, deine Schuld, es ist alles deine Schuld. Sie tritt mich mit spitzen Schuhen, bis ich leuchte in allen Farben.
Der Zug kommt. So will es der Fahrplan, die Weichen werden andernorts gestellt. Summend gleitet er in die Bahnhofshalle.
Darauf hat das Kind gewartet. Es schiebt die Tüte mit dem Fuß über die Kante, nur ein bisschen, hinten hat es noch immer den Fuß drauf. Die Taube stürzt herunter, fliegt eine Steilkurve und steht auf Armlänge und Augenhöhe über dem Gleisbett in der Luft, rudert mit den Flügeln. Gleich renkt sie sich was aus. Die macht einen Höllenlärm mit ihrem Gekreische. Natürlich, jetzt sehe ich: Es ist keine Taube. Eine Möwe, orangeroter Schnabel. Was will sie hier, warum ist sie nicht draußen, beim Fischmarkt oder sonst wo, wo sie hingehört?
Der Zug fährt ein. Das Kind rührt sich nicht, oder doch, es hebt den Stiefel, aber nur zum Schein. Was für ein Biest, wo sind die Eltern, jemand muss dazwischengehen.
Der Anzugträger rollt den Koffer vor sich her zur Bahnsteigkante. Er geht mitten durch die Damenreisegruppe, sie machen widerwillig Platz. Eine mit Zipfelmütze schließt den Reißverschluss ihrer schwarz-roten Wetterjacke, eine andere betastet prüfend ihre Taschen, sie rufen sich Chiffren zu, Wagennummer, Sitzplatz, machen Uhrenvergleich.
Der Mann geht auf das Kind zu, packt es an der Schulter. Matilda, sagt er, wir fahren. Er zieht es an der Jacke neben sich her. Das Kind wirft bockig den Kopf zurück und sieht zu, wie die Möwe sich die Tüte schnappt. Dann ist der Zug da. Die Bremsen quietschen.
Jetzt ist es zu spät. Hätte ich vorhin nur den Mund aufgemacht und gerufen: Elena, es hat keinen Sinn, sag alles ab. Berlin ist keine Lösung. Ich stand im Treppenflur, schon eine Weile. In ihrem Frotteepyjama sah sie so gemütlich aus, ich hätte alles gegeben, wieder zu ihr hineinzudürfen. Sie schloss ihre Arme um meinen Rücken, zog mich an sich. Sie hat erstaunlich viel Kraft. Ihr Atem war warm in meinem Ohr. Als sie zurücktrat, musste ich mich an der Wand festhalten. Sie lächelte, was mehr ein Kopfschütteln war, holte eine Blechbüchse hervor und zeigte auf das mit Edding schraffierte Rote Kreuz. Drückte mir die Dose in die Hand. Jetzt geh, sagte sie und küsste mich auf den Mund.
Dann war die Tür zu. Auf Kopfhöhe in einem Metallring saß das reglose Auge des Spions und beobachtete mich. Ich konnte nichts erwidern, meine Lippen waren verklebt von ihrem Labello und ihrer Verbannung.
Eine Hand berührt meine Schulter, ich zucke zusammen. Ein alter Mann mit einem Stirnband, in dem eine weiße Feder steckt. Er hält mir seinen Kaffeebecher hin. Zittert. Es ist nichts drin, also stecke ich meinen Kaffeebecher in seinen Kaffeebecher hinein. Er wirkt überrascht. Ich schultere die Tasche, tippe mir an die Stirn.
Ahoi, sage ich und drücke mich an ihm vorbei.
Schöne Jacke, ruft er. Echtes Leder?
Ich antworte nicht.
Alles in Ordnung?, ruft er. Du hast ganz schön gelbe Augen.
Ich schüttle den Kopf.
Nur noch die in Uniform stehen auf dem Bahnsteig, schauen links und rechts, nicken sich zu, dann machen sie kehrt. Sie stehen schon an den Türen. Ich sehe zum Hallendach, auf das der Regen schlägt und wo irgendwo die Möwe sitzen muss.
Pass auf dich auf, ruft der Alte. Ich drehe mich um, und er winkt.
Du auch. Du auch auf dich.
Die Plätze sind fast alle besetzt, bleich und fettig glänzen die Glatzköpfe vor den blauen Polstern. Sobald ich den Gang runterkomme, schauen sie...
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