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LONDON
Wäre es nach ihm gegangen, hätte er den Sonntag in einem roten Samtsessel verbracht. Das Everyman Theatre in Hampstead öffnete um halb fünf, das Programm lief durchgehend bis zehn Uhr abends, die Liste von Filmen, die er sehen wollte, war lang, und in sechs Wochen legte sein Schiff ab. Sooft John in sich hineinhorchte, um nach dem vielbeschworenen Abschiedsweh zu fahnden, fühlte er sich bestätigt: In London hielt ihn nichts. Wer kein Kricket- oder Rugby-Fan ist, gilt in England als seltsam, brachte er wie zu seiner Verteidigung vor, mit seiner Statur hätte er sich als Geräteturner versuchen können, aber organisierte Leibesübungen waren ihm nicht geheuer, und er fand, dass er sich auf dem Weg zur Arbeit ausreichend bewegte. Lieber verbrachte er seine Zeit in virtuellen Welten, scherzte er im Abstand von Jahrzehnten. Er zeichnete und fotografierte, vertiefte sich, und manchmal flüchtete er in Bücher, oder er ging für ein paar Pence ins Kino, das hielt er 1951, mit vierundzwanzig, genauso wie in seiner Kindheit. Wären die Umstände anders gewesen, hätte er sich an der Royal Academy of Arts beworben oder wie Alfred Hitchcock von einer Produktionsfirma anheuern lassen. Vielleicht hätte er sogar - auf den Gedanken hatte ihn seine Mutter gebracht - bei Sándor Korda einen Fuß in die Tür bekommen, seinem Landsmann und Idol, Sir Alexander Korda, Immigrant aus Ungarn und als Produzent und Regisseur einer der bedeutendsten Akteure der britischen Filmindustrie. Stattdessen hatte John auf seinen Vater gehört und sich in Rekordzeit zum Maschinenbauingenieur ausbilden lassen. Dass man sich über ihn und sein oft isoliertes Leben wundern konnte, fiel ihm erst seit dem Tod seiner Eltern auf. Mehr Familie hatte er in London nie gehabt.
Einer der abzählbar wenigen Freunde, von denen John der Abschied schwerfallen würde, war Henry. Nach den Novemberpogromen 1938 war er mit einem der Kindertransporte aus Nazideutschland gerettet worden, jetzt überlegte er, sich in Israel einbürgern zu lassen, weil er »endlich kein alien mehr« sein wollte. Für Kino-Marathons gebe es bestimmt noch Gelegenheiten, vertröstete er John. An diesem Sonntag zog es ihn nach Hampstead Garden Suburb im Londoner Nordwesten zu einem Treffen der zionistischen Jugendbewegung, und John sollte mitkommen, er wehrte jedoch ab. I am zero interested. Als Henry ihm statt der politischen Versammlung mit enger Agenda, wie John sich das Treffen sicher vorstelle, eine legere Party im Garten eines Freundes in Aussicht stellte und dazu, so habe der Wetterdienst es versprochen, einen blauen Himmel, zuckte John, typisch für ihn, kaum sichtbar mit den Schultern und begleitete ihn dann doch.
Es war ein Julinachmittag, der sich in Tagebücher einträgt, so selten kommt er in London vor. Strahlend sonnig, die Luft nur so warm, dass John nicht zu schwitzen anfing, und im Garten, der zu einer stattlichen Villa gehörte, blühten überschwänglich die Strauchrosen. Henry hatte nicht zu viel versprochen.
John kannte keine Menschenseele. Er schlenderte umher, ziel-, nicht orientierungslos, seine Rolle des Beobachters war keine Frage der Wahl, aber er war geübt, und irgendwie gefiel der Künstler in ihm sich darin. Seine Augen bewegte er dann wie das Objektiv einer imaginären Kamera, er prüfte Perspektiven, Blickwinkel und Fluchtpunkte, legte Ausschnitte fest und verwarf sie wieder. Jetzt nahm er die Silhouetten mehrerer junger Damen im Gegenlicht wahr, die eine von den anderen nicht zu unterscheiden, die ausgestellten Röcke ihrer Einheitskleider, ihre in braven Wellen liegenden Einheitsfrisuren, ihre hell auf?lachenden Einheitsstimmen, um sie herum junge Männer in einem auf sich selbst konzentrierten Wettstreit, wer die jungen Damen nachdrücklicher beeindrucken könne. Von Weitem sah er Henry in ein Gespräch vertieft. Eigentlich hätte John sich danebenstellen, zuhören, mitreden können, aber darauf kam er nicht. Dass alien im Englischen nicht nur den Ausländer bezeichnet, sondern auch den Außerirdischen, hatte ihn das je gewundert? Dann fiel sein Blick auf eine junge Dame, die für sich stand, als nehme sie sich eine Pause von der Menge, und sofort bedauerte er, dass seine Leica auf seinem Nachttisch lag. Er schaute ihr zu, wie sie ihr Kleid zurechtzog, dessen lichtblauer Stoff die Sonnenstrahlen auf sich zu ziehen schien, wie sie ihre Jacke auszog, die aus demselben Stoff war wie das Kleid, wie sie die Jacke mit mechanisch sorgsamen Handbewegungen faltete und auf ihrem angewinkelten Unterarm ablegte. Wie ein seltener Moment in der Filmgeschichte sei es für ihn gewesen, die Szenerie in Schwarzweiß und eine einzige Figur in Technicolor-Farben.
Sie stand da, und ich bewunderte ihren Blick, der nichts verriet, genau genommen war ich überwältigt.
Und dann? Dann bist du auf sie zugegangen und hast sie angesprochen?
Wo denkst du hin. In England wartet man, bis man einander vorgestellt wird, sagte John. Zur Erklärung fiel ihm ein Witz ein: Zehn Jahre lebten zwei gestrandete Briten auf einer unbewohnten Südseeinsel nebeneinanderher, ohne ein Wort zu wechseln. Und warum? Weil niemand da war, um sie miteinander bekannt zu machen.
Du hast deine Chance verstreichen lassen?
Ich habe sie den Rest des Nachmittags aus meinem Augenwinkel beobachtet. Irgendwann kam sie in meine Richtung - Kann jemand von euch mir sagen, wie ich von hier zur Busstation komme? -, und ich hörte mich als Ersten antworten: I'd be happy to take you.
Ihre Schritte waren forscher und ausgreifender als seine. An ihrer Seite musste er sein Tempo erhöhen. Die zehn Minuten Fußweg zur Haltestelle an der Hauptstraße verrannen in einem Sturzbach von Abwägungen eines Unerfahrenen. Darf ich Sie ins Kino einladen, Miss? Ich könnte Konzertkarten besorgen. Lacht sie mich an, oder lacht sie mich aus? Sie lächelt so schön. Für die Konversation mit ihr musste das Wetter herhalten; dass man damit nichts falsch machte, wusste er von George, eigentlich György Mikes, noch so ein herausragend erfolgreicher Ungar, einer, von dem John sich verstanden fühlte, weil er »die Engländer« für Menschen ohne Seele hielt, aber mit Understatement und mit Sinn für Ironie und Komik. Hunderttausendfach hatte er ihnen How to be an Alien (in Großbritannien) verkauft und sie darin so liebevoll verspottet, dass sie ihn dauerhaft großartig fanden. In George Mikes' schmalem Buch las John, wenn er Aufheiterung brauchen konnte, also oft. Lovely day, isn't it? - So nice and hot! - Gorgeous, I must say. - I adore it, don't you? Immerhin entlockte er ihr noch, dass sie Nanette hieß, aus Amsterdam kam, während des Kriegs in Deutschland war, in einem Lager, und dass sie noch keine drei Jahre in London lebte.
Beim Abschied fiel sein Blick auf den Ring an ihrem Finger. Sind Sie verlobt? Und ohne auf ihre Antwort zu achten, sagte er noch: No worries, kein Problem, you are not my type anyway. Dann stieg sie in den Bus, und er wollte hinter ihr herrufen, natürlich ist das ein Problem, ich habe gerade kein größeres, und außerdem will ich dich heiraten, aber er sagte nichts, der Bus fuhr los, sie schaute sich nicht mehr um, und er stand da mit diesem missglückten Satz: Sie sind ohnehin nicht mein Typ.
Ich kenne niemanden, der den Verlobungsring an der rechten Hand trägt, hatte Nanne auf Johns Frage erwidert. Im Bus überlegte sie für einen Augenblick, ob er ihren Tonfall gehässig gefunden haben könnte, hochnäsiger als von ihr gewollt, aber dann dachte sie nicht mehr an ihn.
Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie den Sonntagnachmittag zu Hause verbracht, statt sich auf einen Zwist mit jemanden einzulassen, der nichts von ihr wusste und sie nichts von ihm. Lieber wäre sie auf ihrem Bett sitzen geblieben und hätte gestrickt, sie fror immer noch leicht, und die nächsten klammen Nebeltage waren selbst an einem idealen Julitag eine reale Bedrohung für sie. Vielleicht wäre Ruth vorbeigekommen, wie sonntags oft, sie hätte ihr beim Nähen geholfen und später hätten sie mit den Tanten Bridge gespielt. Vielleicht hätte sie auch noch gebügelt, nicht nur ihre Kleider, alle im Haus verließen sich inzwischen auf ihre Sorgfalt, und sie mochte den sauberen Geruch von Bügelwasser und Bügelstärke und den Anblick präzise gefalteter Hemden und Blusen. Obendrein hätte sie sich wahrscheinlich eine Lektion in ihrem Französischbuch vorgenommen oder deutsche Grammatik wiederholt, Deutsch fiel ihr leichter als Französisch. Seid froh, dass ihr Sprachen lernen dürft, hatte die Mutter gesagt, und wirklich, an den meisten Tagen war sie froh, dass sie schon als Kind fast fließend Englisch sprechen konnte, sonst würde sie wahrscheinlich nicht mehr leben. An den schlechten Tagen, wenn das Weiterleben besonders viel Kraft kostete, nahm sie sich besonders viel vor, der Mensch braucht Ziele, war ein Leitsatz ihres Vaters gewesen, er hatte ihn nicht nur an ihren Bruder gerichtet, ihr hatte er nicht weniger zugetraut, und dass das nicht selbstverständlich war, war ihr als Kind nicht aufgefallen. Im Sommer 1943 war sie zum letzten Mal in der Schule gewesen, mit vierzehn.
Tante Marion hatte es gut gemeint und sie im Queen's College eingeschrieben, der ersten britischen Privatschule, an der ausschließlich Mädchen unterrichtet wurden, und zwar nicht nur in den Regeln der Konversation und Etikette für ihre Bestimmung als vorzeigbare Ehefrauen, sondern mit dem Ziel, sie zur Hochschulreife zur führen. Neben Art of Writing,...
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