Schweitzer Fachinformationen
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Jedes Wort der Briefe kannte Saphira auswendig. Sie zog das Bündel unter ihrem Kopfkissen hervor. Küsste es. »Guten Morgen, Liebster. Guten Morgen, Tam.« Wieder hatte sie von ihm geträumt. Es half, wenn die Briefe unter dem Kopfkissen lagen. Die Erinnerungen an den Traum flatterten wie samtweiche Falter durch ihren Kopf: Umarmungen, Geständnisse, Blicke. Am Ende der lange Kuss. Nie hatten sie sich bisher geküsst. Würde es sein wie im Traum? Sie spürte immer noch seine Lippen auf ihrem Mund, obwohl es doch gar nicht wirklich geschehen war.
Sie seufzte. Noch im Bett sprach sie das Morgengebet: »Ich danke dir, lebender König, dass du mir voller Erbarmen meine Seele zurückgegeben hast, denn deine Treue ist groß.« Sie stand auf. Die Sonnenflecken wärmten ihre Füße. An den Fußsohlen blieben Sandkörnchen und kleine Steine haften, sie hatte ihr Zimmer lange nicht gefegt. Der Krug und die Schüssel standen bereit. Dreimal übergoss sie sich die rechte, dreimal die linke Hand mit Wasser.
Es roch nach angebranntem Haferbrei. Vater hatte sich das Frühstück selbst gerichtet. Er achtete den Glauben der Christen und verbot den Mägden, am Sonntag zu arbeiten. Saphira hatte ihm schon ein Dutzend Mal erklärt, dass die Christen ihren Ruhetag nicht so streng handhabten wie die Juden, aber er antwortete stets, sie versuchten auf ihre Weise Gott zu ehren, und es sei seine Pflicht, das zu würdigen. Wie sonst solle er erwarten, dass die Christen auch ihm das Ausleben seines Glaubens ermöglichten? Ein alter Jude, der sich Haferbrei kochte. Er gelang ihm selten.
Saphira lauschte. Das Haus war still. Vater war schon zur Synagoge gegangen, um im Minjan zu beten, im Kreis der zehn Männer. Sie zog sich an, griff das gefaltete Leinentuch und sprang die Treppe hinab. Heute würde sie Tam sehen.
In der Küche kostete sie vom Haferbrei. Der Vater hatte ihn nicht nur anbrennen lassen, er hatte ihn außerdem noch versalzen. Es kostete Überwindung, den Holzlöffel abzulecken. Wie konnte ein kluger Geschäftsmann in der Küche ein solcher Tollpatsch sein? Sei's drum. Hunger hatte sie sowieso nicht. Die Vorfreude füllte ihren Bauch.
Sie schlüpfte an der Haustür in ihre Holzschuhe. Als sie nach draußen trat, kreischte die Tür in den Angeln. Gedankenverloren berührte Saphira die Mesusa am Türpfosten, die kleine Tora-Abschrift, die so gefaltet war, dass das Wort Schadai zu sehen war: Allmächtiger. Im Schritt auf die Straße führte sie die Hand an die Lippen, wie es das Gesetz befahl.
Es war noch kühl. Saphira liebte diese Stunde. Die Nachtwächter brachten die Pfandstücke ins Zunfthaus, die sie den Säufern für Lärmschlagen und Prügeleien abgenommen hatten: Mützen, Ringe, Gürtel. In den Ritterhöfen entlang der Stadtmauer schöpften die Dienstmägde Wasser, die Brunnenwinden quietschten. Hühner und Ziegen, Hunde und Tauben erwachten.
Niemand achtete darauf, ob eine Jüdin den blaugestreiften Schleier trug. Noch hockten die geschwätzigen alten Weiber nicht hinter ihren Fenstern. Saphira war in dieser Stunde eine Bürgerin der stolzen Stadt Basel, eine Federhändlerin, jung und frei.
An der Ecke knarrte die Mühle. Der Bach, der entlang der Trennmauer die Gasse hinabfloss, führte wenig Wasser. Wenn es mittags wieder so heiß wurde und das noch ein paar Tage lang, würde das Mühlrad irgendwann stocken. Dann mussten sie alle zur Klingenthalmühle pilgern, um ihr Getreide gemahlen zu bekommen.
Sie folgte der Grünpfahlgasse hinunter zum Rindermarkt. Die Holzschuhe klapperten auf dem Pflaster und klatschten bei jedem Schritt gegen ihre Fersen. Ob sich Vater gerade vor dem Toraschrank der Synagoge verbeugte? Am prachtvollen Synagogenhaus blieb sie stehen. Gesang drang durch die Mauern: Der Herr der Welt, er hat regiert, eh' ein Gebild geschaffen war.
Die Kanalputzer arbeiteten heute nicht. Man roch den Birsigkanal bis hier oben, der Gestank von Abfällen und Unrat war beißend. Eine Schande, dass an diesem fauligen Ufer Menschen leben mussten. Auch Juden wohnten dort, arme Familien, die sich kein Steinhaus leisten konnten. Sie waren tagein tagaus dem Pfeifen der Ratten und dem stechenden Geruch des Birsigs ausgesetzt und starben früh. Niemand wurde alt am Kanal.
Bei der Tränke vor der Synagoge hockte ein Krüppel. Krücken lehnten neben ihm. Ein Ritter beugte sich zu ihm hinunter, sein Schwert berührte fast den Boden, ein großes Schwert und ein großer Mann. Das Prunkgewand für die heutige Bürgermeisterwahl, einen roten Waffenrock mit dem Stern im Wappen, hatte er bereits angelegt. Das war ein Sterner, einer der Ritter, die sich in der Trinkstube »Zum Seufzen« versammelten und die Habsburger unterstützten. So zeitig war er auf den Beinen? Saphira hatte kein Geld und keinen Brotkanten bei sich, gut, dass der hohe Herr sich um den Krüppel kümmerte.
Aber warum redete er so lange mit ihm? Für gewöhnlich warfen die Menschen im Vorbeigehen eine kleine Münze ab. Sie sahen die Bettler kaum an, geschweige denn, dass sie mit ihnen sprachen. Hatte er nicht - er hatte die Hand an der Kehle des Alten! Saphira wich zurück. Sie drückte sich gegen die Wand der Synagoge. Wenn sie fortlief, würde der Ritter ihre Holzschuhe klappern hören. Warum war er nicht längst hochgeschreckt von ihren Schritten? Leise schlüpfte sie aus den Schuhen und bückte sich, um sie aufzuheben.
Der Krüppel zappelte an der Hand des Ritters, er wurde von ihm hochgehoben. Sein Gesicht verfärbte sich. Er begann wild zu nicken und röchelte unverständliche Worte. Der Ritter ließ ihn los. Hart fiel er zu Boden. Während der Misshandelte sich aufrappelte, fasste sich der Ritter an den Gürtel. Gold blinkte auf.
Er gab dem Krüppel einen Goldgulden! Niemand verschenkte so viel Geld. Bettler bekamen Pfennige. Rheinische Gulden wurden gebraucht, um Jahreslöhne auszuzahlen. Schweigegeld, schoss es ihr durch den Kopf. Erst hatte er ihn bedroht, jetzt gab er ihm Schweigegeld. Sie umklammerte ihre Holzschuhe und wagte nicht, sich zu rühren.
Der Bettler zog die Krücken heran und richtete sich auf. Er machte eine Geste mit der rechten Krücke. Rasch drehte der Ritter sich um.
Saphira schrak zusammen. Das kantige Gesicht Ramsteins!
»Was tust du hier, Weib?«, fragte er barsch.
»Ich gehe zur Mikwe, um mich unterzutauchen.«
»Ein Bad? So früh am Morgen?« Er trat auf sie zu, langsam, drohend.
Wie zum Beweis hielt sie ihm das Leinentuch entgegen. »Es . ist ein rituelles Tauchbad. Jüdische Frauen müssen sich nach der Monatsblutung reinigen.«
»Jüdin, und ohne Schleier.« Nun stand er dicht vor ihr. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu sehen. Der Ritter fragte: »Weißt du, wer ich bin?«
Ramstein, rechte Hand des Sternerführers und Bürgermeisters Münch, ein Mann, der nie auch nur einen Blick auf Bettler warf. »Ein Ritter, der einem armen Krüppel ein Almosen gegeben hat«, wisperte sie.
»Du bist eine kluge Frau.« Er wies auf die Mikwe. »Geh, nimm dein Bad.«
Zitternd schlich sie zur Tür. Der Ritter und der Krüppel standen da, ohne sich zu rühren. Gern hätte sie die Mikwe hinter sich geschlossen, aber sie musste zuerst eine Talglampe entzünden, es gab hier keine Fenster. Feuerstein und Stahl klickten. Endlich Licht. Sie zog die Tür zu.
Ramstein würde nicht wagen, in das jüdische Bad einzudringen. Das konnte er nicht tun, ohne den Zorn der Juden auf sich zu ziehen. Saphira stellte die Schuhe ab und ging mit der Lampe die Wendeltreppe hinunter. Schritt für Schritt ertasteten ihre Füße die kalten Steine. Das Becken befand sich tief im Erdreich, tiefer, als die Keller der Christen reichten, bei einer Quelle. Still war es in der Mikwe. Kalt.
Unten angekommen, entzündete sie weitere Lampen. Dann entkleidete sie sich. Sie fror, an den Armen und am Bauch bekam sie Gänsehaut. Eigentlich mochte sie das rituelle Reinigungsbad. Sie fühlte sich immer wie neugeboren, wenn sie aus dem eisigen Quellwasser stieg. Heute aber fürchtete sie sich. Was, wenn er ihr doch folgte? Auch ein Ramstein konnte nicht auf dem Rindermarkt vor den Fenstern der Bürgerhäuser töten. In der Mikwe waren sie ungestört. Niemand würde sie schreien hören. Hatte er sie deshalb losgeschickt?
Sie stieg in das Becken. Das Verlangen, aus dem vor Kälte beißenden Wasser wieder herauszuspringen, überwand sie mit der Übung der vergangenen Jahre. Als sie bis zum Bauch im Becken stand, hielt sie die Luft an, hockte sich nieder und verharrte mit dem Kopf unter Wasser. Dann tauchte sie auf und schöpfte zitternd Atem. Die Regel war, zweimal unterzutauchen, um sicherzugehen, dass wirklich jedes Haar und jeder Fetzen Haut benetzt waren.
Sie ging erneut in die Hocke. Mit Eisfingern versuchte die Kälte, ihren Schädel zu knacken. Keuchend tauchte Saphira auf. Befolgte sie denn die Regeln sonst so streng? Den Gesetzen gemäß hätte sie das Bad bereits gestern Nacht nehmen müssen, nachdem die sieben reinen Tage vorüber waren, Tage, an denen sie mit einem Stoffstreifen keinen Blutstropfen mehr entdecken konnte. Nach den Gesetzen musste sie sich überhaupt nicht untertauchen als unverheiratete Frau. Sie tat es ihrem Vater zuliebe und - ihr Herz schlug schneller, als sie sich das eingestand - weil sie hoffte, dass Tam sie einmal zärtlich umarmte, sie streichelte, dass sie sich küssten, sich entkleideten und ihre Körper fühlten, warm und weich. Konnte es nicht geschehen, dass sie die Beherrschung verloren und miteinander schliefen? Natürlich wäre es eine Sünde, eine abscheuliche Sünde,...
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