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Kapitel 1
Montag, 25. Juni 2012
Die Dunkelheit wurde immer dichter. Vielleicht hätte sie sich doch zu ihrem Auto fahren lassen sollen. Nein. Nicht nach diesen Vorwürfen. Ich lasse mir nicht vorschreiben, wie ich zu arbeiten habe!
Ihr Fuß stieß an etwas Hartes, und sie sah zu Boden. Eine Reihe größerer Steine quer über der Straße. Etwa fünf oder sechs, wenn auch nicht alle auf einer geraden Linie.
Zufall?
Seltsam, dass ihr das vorhin auf dem Weg zum Lokal nicht aufgefallen war.
Die Straße führte jetzt steil bergan, und sie atmete schwer. Der Wein und das gute Essen machten sich bemerkbar. Vor zwei Stunden, am Ende des Konzerts auf der Burg, war es noch hell gewesen. Paolo war mit seinem Wagen zum Restaurant etwas weiter unterhalb gefahren, aber sie hatte ihr Auto stehenlassen und den kurzen Spaziergang zum Lokal genossen. Jetzt bereute sie ihre Entscheidung. Nicht einmal Straßenlaternen gab es auf diesem Abschnitt. In einiger Höhe über ihr leuchtete die Burg im Licht ihrer Scheinwerfer, doch die darunter liegende Straße war in tiefe Nacht getaucht.
Sie blieb stehen und kramte in ihrer Tasche nach dem Smartphone. Kurz darauf fiel der weiße Kegel der Lampe vor ihr auf den Weg. Doch es war kaltes Licht, und dort, wo es endete, lauerte das Nichts, schwarz und undurchdringlich. Keine Konturen. So, als ob es hinter dem schmalen Korridor aus Licht keine Welt mehr gäbe. Energisch lief sie weiter. Es konnten jetzt nicht mehr als 200 Meter bis zu ihrem Wagen sein. Sie hatte ihn am Straßenrand direkt unterhalb des Castello di Arechi geparkt.
Die Straße machte eine Biegung, und diesmal sah sie sie sofort. Ihr helles Grau leuchtete im starken Licht der Taschenlampe. Eine holprige Reihe aus Steinen.
Die zweite!
Sie blieb stehen und zählte. Es waren fünf. Groß wie Boccia-Kugeln. Wie beim ersten Mal lagen sie auf einer unregelmäßigen Linie quer über der Straße. Sie sah sich um, doch da war niemand. Kein Geräusch drang aus der tief unter ihr liegenden Stadt nach oben. Jetzt war sie sicher. Diese Steine waren vor wenigen Stunden noch nicht da gewesen. Jemand hatte sie seitdem auf die Straße gelegt. Warum?
Sie ging weiter, langsamer als zuvor, bedächtiger. Mit einem Schauer wurde ihr bewusst, dass die Taschenlampe sie für ihre Umgebung sichtbar machte, während sie selbst für die Welt außerhalb des Lichtkegels völlig blind war. Einen Augenblick lang erwog sie, die Lampe auszuschalten, aber die Angst vor der Dunkelheit war stärker.
Dann fiel ihr Blick auf die dritte Linie aus Steinen, doch diesmal blieb sie nicht stehen. Sie wusste nicht, warum ihr diese Steine solche Angst machten. Instinktiv wurde sie schneller, joggte beinahe, die Tasche an die Hüfte gepresst. Ihre Schritte hallten auf der Straße. Das Licht der Lampe hüpfte hektisch im Takt ihrer Bewegungen.
Als die vierte Linie vor ihr auftauchte, begann sie zu rennen. Wo zum Teufel bleibt das Auto? Ihr Atem kam stoßweise, und ihre Seite schmerzte. Sie zwang sich vorwärts - und kam abrupt zum Stehen.
Ihr Körper hatte reagiert, noch bevor die Wahrnehmung ins Bewusstsein vordringen konnte. Am Ende des Korridors aus Licht, an der Grenze zwischen hellem Raum und völligem Schwarz, stand ein Mensch. Er musste wohl schon vorher da gewesen sein, aber erst in dem Moment, als ihre Lampe ihn erfasste, war er wie aus dem Nichts aufgetaucht. Keine drei Meter von ihr entfernt. Es dauerte einige Sekunden, bis sie einordnen konnte, was sie sah. Ein Schrei entfuhr ihrer Kehle, und sie wollte rennen, doch die Beine versagten den Dienst. Wie gebannt starrte sie auf die regungslose Gestalt im schwarzen, enganliegenden Taucheranzug, der nur das fahle Gesicht im gleißenden Licht der Lampe freigab. Farblos, ausdruckslos. Jetzt öffneten sich die Lippen. Der Taucher begann leise zu singen. Zart, kaum hörbar. Dann lauter, deutlicher. Eine Melodie. Jetzt erst bemerkte sie die Linie zu seinen Füßen, und während sie dem stetig lauter werdenden Gesang lauschte, begann sie die Steinzeichen zu lesen. Eines nach dem anderen, bis es nicht mehr Steine waren, die sie vor sich sah, sondern die Melodie. Sie hatte sie erst gestern zum letzten Mal gehört, und wie von selbst formten sich die Worte in ihrem Kopf. Schöne, alte Worte, die von Schmerz und Tod sangen.
Ihrem Schmerz.
Ihrem Tod.
*
Normalerweise schlief Massimo Maiori gut, wenn er am Abend getrunken hatte, aber heute hatte ihn etwas geweckt. Wahrscheinlich die Paarungsschreie der verdammten Katzen. Jedenfalls lag er seitdem wach. Ein Blick auf die Uhr. Nicht einmal Mitternacht.
Er stand auf, ging in die Küche und füllte sich ein Wasserglas mit Rotwein aus der grünen 5-Liter-Flasche. Dann lehnte er sich an die Anrichte, nahm einen kräftigen Schluck und betrachtete missmutig das schmutzige Geschirr in der Spüle. Von außen sah das Haus schon seit Jahren heruntergekommen aus. Seit seine Frau nicht mehr lebte, hatte sich die Verwahrlosung auch im Inneren breitgemacht. Er gab sich einen Ruck und verließ die Küche. Einen Augenblick lang erwog er, den Wein mit ins Schlafzimmer zu nehmen und im Bett weiterzutrinken, doch dann entschied er sich anders.
Die Holztür war nicht abgeschlossen. Er war der Einzige, der noch hier oben am Hang unterhalb des Castellos lebte. Nur ein ungepflegter Schotterweg führte von der asphaltierten Straße zu seinem Haus. Diebe würden sich nicht zu ihm verirren. Abgesehen davon, dass es nichts zu holen gab. Vor vielen Jahren hatte seine Frau ihn eine Zeit lang bedrängt zu verkaufen, und vielleicht wäre es damals auch noch möglich gewesen. Heute war das Haus zu baufällig. Keine Infrastruktur. Weitab von allem. Massimo Maiori wusste, dass der Zug abgefahren war.
Er ließ sich am Holztisch auf dem Hof nieder, streckte die Beine unter dem Tisch aus und sah an sich herunter. Er war barfuß und im Schlafanzug nach draußen gekommen, doch die Nächte waren so warm, dass es keinen Unterschied machte. Er trank einen Schluck Wein. Unter ihm lagen die funkelnden Lichter der Stadt und der erleuchtete Hafen. Dahinter breitete sich der Golf aus. Der Mond warf einen breiten Streifen weißen Lichts auf die leicht gekräuselte Wasseroberfläche, und der Himmel war wolkenlos, ein durchsichtiges Dunkelblau. Einige Minuten saß Massimo regungslos. Dann fühlte er eine Brise im Haar und auf der Haut. Sie wehte vom Berg her Richtung Meer, und mit ihr drangen Töne an sein Ohr.
Klavierspiel.
Oben auf der Burg zog sich das Konzert offenbar in die Länge. Er selbst war nie auf einer Veranstaltung im Castello gewesen. Wozu auch? Er hörte sie von hier unten, leise und verschwommen. Aber selbst das war mehr, als er brauchte. Die Töne verklangen, kamen wieder, und er lauschte. Das Spiel klang vage, seltsam unbestimmt, als müsste sich der Pianist erst noch an das Stück herantasten. Aber traurig war es. Eine Klage.
Minuten vergingen. Die Klänge wurden lauter, heftiger, verloren sich aufs Neue. Massimo Maiori wurde sich bewusst, dass er selten so aufmerksam einer Melodie gelauscht hatte. Falls man das, was da herüberwehte, als Melodie bezeichnen konnte. Es wirkte bruchstückhaft, zerbrechlich. Und war doch auf flüchtige Art und Weise schön.
Dann war es zu Ende.
Er trank den letzten Schluck Wein und erhob sich. Als er sich der Tür zuwandte, glitt sein Blick den Berghang hinauf. Das von Scheinwerfern angestrahlte Castello di Arechi war der einzige helle Punkt vor dem in tiefer Dunkelheit liegenden Berg. Er sah den Sternenhimmel, und einen Augenblick lang meinte er, die Klänge noch einmal zu hören, aber der Wind hatte sich gelegt, und er war sich nicht sicher. Erst als er nach der Tür griff, fuhr ihm ganz unerwartet eine neue Brise ins Gesicht. Stärker diesmal. Und plötzlich war sie zurück. Die Melodie. Fließender jetzt, beinahe drängend. Doch sie hatte nichts Trauriges mehr.
Sie war grausam.
Bedrohlich. Gewalttätig. Oder waren es die Schmerzen, die die Töne verzerrten? Jeder Klang, jeder Anschlag vibrierte im Inneren ihres Schädels, pulsierte wie ihre Wunden, aus denen das Blut strömte. Wie lange, bis man verblutet?
Sie war auf der Straße unterhalb des Castellos gewesen, um ihr Auto zu holen. Dann er .
Der Taucher!
Hatte er sie in die Burg zurückgebracht? Sie erinnerte sich nicht. Auch nicht daran, wie oft er zugestochen hatte. Jetzt lag sie auf der Bühne. Am Rand ihres Blickfelds standen die Stühle der Musiker und ein Flügel.
War er es, der da spielte?
Der Druck hinter ihren Lidern nahm zu. Warmes Blut rann an ihrem Körper herab. Trotzdem fühlte sich ihre durchnässte Bluse kalt an. So wie der Schweiß, der ihr in den Augen brannte. Sie versuchte, den Kopf abzuwenden, um das gleißende Licht des Scheinwerfers auszublenden, aber es gelang ihr nicht. Nur die Lider gehorchten noch. Sie presste sie fest zu und empfand eine vage Erleichterung. Dann war plötzlich etwas anders.
Stille.
Oder doch nicht? Sie konzentrierte sich.
Tick.
Tack.
Leise und regelmäßig. Doch es hatte nichts Beruhigendes. Ganz im Gegenteil. Je länger sie dem Ticken lauschte, desto lauter schien es zu werden. Panisch riss sie die Augen auf, starrte bewusst in das weiße Scheinwerferlicht, bis es sie ganz ausfüllte. Nur nicht mehr hören müssen! Ihr flacher Atem kam stoßweise. Dann veränderte sich der Rhythmus, geriet aus dem Takt. Nein, das war es nicht. Er vermischte sich mit etwas...
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