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Das Meer am Sonntag
Sonntagmorgen, ganz früh, weit und breit nur unser Peugeot auf der Strandkoppel. Wenn sich alle Autotüren gleichzeitig öffneten, dann kullerten wir sieben aus dem Inneren, Mama, Papa und wir Kinder. Meine Mutter war noch immer schlank, und man sah ihr die vielen Geburten innerhalb von sieben Jahren nicht an. Adrett sah sie aus im gestreiften rosafarbenen Leinenanzug von der Schneiderin. Sie trug ihre große Sonnenbrille, wie die abgebildeten Filmstars in den Zeitschriften im Praxiswartezimmer, und sie hatte ein Kopftuch umgebunden, als sei sie eine Frau von Welt, dabei hatte Mama ihre Heimat, die nun die unsere, aber nicht die unseres Vaters geworden war, nie verlassen. Nur für ihr kurzes Studium in Freiburg, das ja durch Sven im dritten Semester bereits wieder beendet wurde. »Ich bin aber noch staatlich geprüft in Volkstanz und Rudern«, sagte Mama oft mit diesem speziellen Grinsen, bei dem ihre blauen Augen leuchteten vor Schalk. Sven hatte Mama und Papa endgültig zusammengebracht, zusammengezwungen, oder wie sollte man es sagen? Sven hatte Fakten geschaffen, auf jeden Fall bedingte seine Existenz die unsere, die von Irene, mir, Hendrik und Claas. Man konnte vielleicht sogar so weit gehen zu behaupten, dass wir ohne Sven jetzt nicht zu siebt an den Strand gefahren wären, um eines jener Sonntagmorgenpicknicke zu machen, die gerade Sven so gar nicht leiden konnte. Jimi Hendrix, sein Idol, wäre vermutlich nie in aller Herrgottsfrühe zum Frühstücken an einen Strand mitgefahren. Ich mochte meinen großen Bruder, wenn er so verpennt war, wehrlos, mit offener Flanke, verletzlich und noch Schlaf zwischen seinen langen, dichten Wimpern, wenn seine Gliedmaßen schlaff an ihm herunterhingen.
Papa trug eine Lee und ein kurzärmeliges, weißes Hemd, sodass seine Schuppenflechte am Ellenbogen zu sehen war. Für mich gehörten die roten Stellen an der Haut und die weißen Schuppen, die immerzu von ihm rieselten, zu meinem Vater dazu, als wenn jeder Vater eine Schuppenflechte hätte. Er holte aus dem Kofferraum die große Korbtasche mit dem Proviant und den Windschutz heraus, wir Kinder griffen unsere Handtuchrollen, von unserem Vater darauf gedrillt, zu Hause schnell die Badesachen in ein Handtuch zu rollen, mehr durften wir nicht mitnehmen, höchstens noch einen Ball. T-Shirts und Shorts hatten wir an, und unsere Schuhe ließen wir alle im Auto. Jetzt gingen wir barfuß auf dem noch taufeuchten Boden den schmalen Weg Richtung Wasser, eine kleine Freizeit-Freiwilligen-Armee, die als erste den Strand eroberte. Dieser ganz besondere Duft nach Heckenrosen und Strandhafer, nach Gräsern und feuchtem Sand. Und dann lag es vor uns. Das Meer. Der Grund, warum wir uns zu siebt ins Auto gequetscht hatten und über zwanzig Kilometer gefahren waren.
Die Ostsee schien, wie mein großer Bruder, auch noch nicht richtig wach. Sie wirkte unentschieden, ob sie heute lieber blau oder grün sein wollte. Es war erstaunlich, wie viele Farben das Meer haben konnte. Manchmal wirkte es auch grau. Unser Windschutz dagegen knallte richtig. Orange, zur Freude der Marienkäfer, Gewitterfliegen und Rapskäfer. Als Erstes wurde immer der Windschutz aufgebaut, alle halfen mit. Mein Vater befeuchtete seinen Zeigefinger und hielt ihn in die Luft, bestimmte, aus welcher Richtung der Wind kam und wie der Windschutz aufgestellt werden musste. Die Metallstäbe wurden erst ineinander, dann in die Tunnelbahnen im Stoff geschoben, die Leinen befestigt und die Heringe mit Steinen in den Sand geschlagen. Und schon stand unsere Burg, die uns schützte, vor dem Süd-Ost-Wind, zu viel Sonne und vor Blicken.
Die Badesachen an, noch vor dem Frühstück das erste Bad, nur wir Kinder und Papa. Papa lief wie immer mit einem lauten »Jappadappaduh!« ins Wasser, stürzte sich dann freudig in die Fluten, als umarme er das Meer, das Leben. Mama saß im Sand auf einer Decke und schaute uns von ferne zu, dabei rauchte sie Lord Extra. Sie liebte die sonntäglichen Ausflüge, ließ uns jedes Mal im Auto noch auf sie warten, und dann endlich kam sie als Letzte, wohlduftend und mit Lippenstift stieg sie ein, und Papa, der ungeduldigste Mensch, sagte: »Das wurde aber auch mal Zeit«, und konnte doch nicht verbergen, wie stolz er war und wie schön er unsere Mama fand. Sie lehnte sich auf dem Beifahrersitz zurück, und noch während unser Vater den Wagen rückwärts aus der Einfahrt fuhr, rief sie diesen einen bestimmten Satz, ohne den ein Ausflug kein richtiger Ausflug war: »Ach, Kinners, ist das schön, dass wir losgekommen sind!«
Das Wasser war sonntags anders als sonst. Keiner konnte mir erzählen, dass die Ostsee nicht wusste, dass Sonntag war. Selbst der Militärhafen am Ende der Bucht wirkte heute verlassen. Wenn der Russe schlau war, dachte ich, dann kam er an einem Sonntag. »Lieber tot als rot!«, sagte Herr Boysen immer. Boysen war Bauer und Patient bei Papa, und wir besuchten ihn regelmäßig. Herr Boysen sagte auch nicht »die Russen«, sondern »der Russe« oder »der Iwan«.
Gemeinsam mit den anderen und doch allein schwamm ich hinaus Richtung Horizont. Vielleicht war meine Mutter beim ersten Schwimmen aber doch dabei, zum Schutz der Frisur die Badekappe mit den bunten Plastikblumen auf, die sie so alt machte und die wir alle deswegen nicht mochten. Mit der Badekappe sah sie aus wie eine, die es nie von hier oben weggeschafft hatte, höchstens ins nächste Kaff, und genau das sagte Mama ja selbst von sich: »Ich hätte mir doch niemals in meinem Leben träumen lassen, später mal ausgerechnet in Schallerup zu landen!« Unser Vater hasste die Badekappe besonders und machte immer einen abfälligen Kommentar, Mama sähe aus wie aus einem Krampfadergeschwader.
Ich fand meine drei Brüder schön, wenn sie nass waren, ihre Augen glänzten, umrahmt von nassen Wimpern, die Haare lagen zurück am Kopf, und sie hatten auf einmal eine Stirn. Meine Schwester schwamm schon sehr gut, und ich eiferte ihr nach, blieb aber, wie immer, etwas zurück und konnte die drei Jahre nie aufholen, was ich aber auch nicht schlimm fand.
Papas sonst weiße Schuppenflechte auf der Kopfhaut leuchtete im Wasser rot durch das Haar. Er kraulte Richtung Dänemark, und man sah seine Fersen abwechselnd wie helle Tennisbälle auf- und abtauchen. Ich hatte immer etwas Angst, dass er nicht mehr zurückkehrte. Jedenfalls ließ er uns Kinder zurück, und wir tauchten gegenseitig durch unsere geöffneten Beine hindurch und spielten, wer am weitesten tauchen konnte, bis uns kalt wurde und wir bibbernd an Land gingen. Und dann tauchte Papa wie Jonny Weissmüller aus den Fluten wieder auf und winkte uns, »Kommt, Kinder!«, und nun liefen wir fünf der Größe nach hinter ihm am Ufer her, ich den Blick auf die Waden meiner Schwester, ein kleiner Dauerlauf zum Trocknen über Kiesel und Sand. Und Sven, jetzt wach vom frischen Ostseewasser, lief voran und schien Jimi Hendrix ganz vergessen zu haben. Mama sah uns Strandläufern stolz hinterher, gleichzeitig glücklich, noch einen Moment für sich zu haben.
Nach dem kleinen Dauerlauf streiften wir die nassen Badesachen ab und die trockenen über, das war ein Gebot, nie durften wir die nassen Sachen anbehalten. Über den Bikini zog ich das so weiche T-Shirt aus Frottee an. Hungrig waren wir, und jetzt kam das Allerbeste: belegte Brote, hart gekochte Eier, Kaffee für meine Eltern aus der Thermoskanne. Dieser besondere Duft: Nach Salami, Graubrot, Kaffee und nach Süd-Ostwind roch es, nach der Sonnenmilch Delial, Faktor zwei, nach Strandhafer, dem Stoff des Windschutzes, ja, sogar leicht nach dem Dachboden, auf dem er überwintert hatte. Wer uns so sah, musste uns für eine glückliche Familie halten.
Nach dem Frühstück gingen wir Kinder am Strand entlang zum nördlichen Ende Richtung Mole. Die Mole ragte weit ins Meer hinein, setzte dem Strand ein abruptes Ende. Das Wasser hier hinten war flach und fast türkis, doch der Seetang am Ufer stank faulig in der Hitze. Auf den Felsen im Wasser kletterten wir entlang an der Mauer der Mole, darüber ein Nato-Stacheldrahtzaun, wie Papa uns einmal erklärte hatte. Es war ein anderer Stacheldraht als der an Koppeln, und ein Schild war daran angebracht: »Betreten und Fotografieren verboten!« Und immer versuchten wir, einen Blick nach drüben zum Militärhafen zu erhaschen, gaben uns gegenseitig eine Räuberleiter. Es lagen große graue Schiffe im Hafen, die uns im Ernstfall gegen den Russen verteidigen sollten. Seltsamerweise sahen wir aber nie jemanden da drüben im Marinehafen, als lägen die Boote nur zur Abschreckung da, Geisterschiffe, ohne Besatzung. Das konnte natürlich nicht sein, denn ab und zu fuhren die Schiffe raus auf die Ostsee, und wir sahen sie am Horizont. Vielleicht mussten sie einfach nur bewegt werden, oder sie sollten dem Russen zeigen, dass wir da waren und uns wehrten, wenn er angriff.
Beim Klettern bestaunten wir die besonders schönen Exemplare an Seesternen, die lila und rosa unter Wasser an den Felsen klebten, zwischen Algen, Seepocken und Muscheln. Ich fragte mich, ob Seesterne echte Tiere waren, Lebewesen mit einem Herzen, und wenn ja, wo das Herz der Seesterne saß.
An die Mauer der Mole hatten Liebespaare ihre Namen geschrieben und Herzen darum gemalt. »Michaela + Rüdiger« oder »Claudia + Ralf« stand da, mit Datum versehen, manche verblasst und eines ganz frisch. So gut wie wir Kinder alle die Mole und jeden ihrer Felsen kannten, genau wussten, von welchem Stein man am besten auf den nächsten sprang, so gut kannte ich die Liebespaare und bekam immer mit, wenn ein neues Paar dazugekommen war. Es schien mir ein Beweis für eine wirklich große, romantische Liebe zu sein, sich an einer Wand zu verewigen, und ich sehnte mich, obwohl erst sechs Jahre alt, schon jetzt nach genau so einer Liebe später. Vielleicht...
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