Schweitzer Fachinformationen
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Es bleibt immer und zu allen Zeiten ein Gefühl mangelnder Deckung zwischen öffentlichem und eigentlichem Leben; kann aber überhaupt irgend etwas von öffentlichem Geschehen dessen wahrer Ausdruck sein? Bin denn selbst ich Einzelner das, was ich tue, oder ist es ein Kompromiß zwischen unartikulierten Kräften in mir und bereitstehenden, umformenden Formen für die Verwirklichung? Beim Verhältnis zum Ganzen gewinnt diese kleine Differenz vertausendfachte Bedeutung.
Robert Musil, »Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit«
Wie schon im 18. Jahrhundert ist das Volk nur ein Konstrukt, mit dem die politische Theorie Geschlossenheit erreicht. Oder anders: wer würde es merken, wenn es gar kein Volk gäbe?
Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft
Was ist Populismus? Die Antworten auf diese Frage offenbaren einen außergewöhnlichen konzeptionellen Defätismus. Nikolaus Werz zum Beispiel schreibt: »Eine definitive Klärung dessen, was Populismus ist, dürfte nicht möglich sein, im Grund gilt für den Populismus, was Peter Alter einmal für den Nationalismus festgestellt hat. >Den Populismus gibt es nicht, sondern nur dessen vielgestaltige Erscheinungsformen<.«17 Hans-Jürgen Puhle, der sich mit vielen Studien, vor allem zu Lateinamerika, um das Verständnis des Populismus außerhalb Europas verdient gemacht hat, konstatiert, der Begriff »Populismus« sei »ungenau, schillernd und impressionistisch« - nur um letztendlich bei folgender These zu landen: »Der Urgrund für alle populistischen Versuchungen demokratischer Politik liegt schon im Kern der modernen Demokratie: im gleichen Wahlrecht. Politik, die breiter Zustimmung bedarf, tendiert dazu, populistisch zu sein.«18
Ist moderne Politik demnach immer irgendwie populistisch? Oder nur bestimmte Formen bzw. »Erscheinungsformen«, um das Wort von Werz und Alter aufzugreifen? Doch was genau haben diese Formen dann gemeinsam? Mein Vorschlag wäre, vor der Beantwortung dieser so simpel klingenden wie schwierig zu klärenden Frage erst einmal landläufige, aber letztlich irreführende Kriterien zur Bestimmung von Populismus aus dem Weg zu räumen. In einem zweiten Schritt soll dann eine klare Abgrenzung des Populismus zu anderen Phänomenen stattfinden. Meine These lautet, dass Kritik an Eliten ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für die Bestimmung von Populismus ist. Mit anderen Worten: »Anti-Establishment-Attitüde« greift zu kurz. Zum Anti-Elitären muss noch das Anti-Pluralistische hinzukommen. Was ich als den Kernanspruch aller Populisten bezeichnen möchte, lautet stets ungefähr so: »Wir - und nur wir - repräsentieren das wahre Volk.« Und dies ist, ich habe bereits darauf hingewiesen, als moralische, nicht als empirische Aussage gemeint - ein Punkt, auf den mit der Unterscheidung zwischen symbolischer Repräsentation und der Repräsentation eines politischen Willens noch zurückzukommen sein wird. Wer poltert, simple wirtschaftliche Lösungen anbietet oder auf »die da oben« schimpft, dabei jedoch keinen solchen moralischen Alleinvertretungsanspruch für sich reklamiert, mag ein Demagoge sein oder ein ökonomischer Dilettant - aber ein Populist ist er nicht. Ebenso gilt: Wer auf der Grundlage moralischer Absolutheitsansprüche agiert, sich jedoch nicht über das Kollektivsubjekt Volk legitimiert, ist ebenfalls kein Populist - man denke an islamistische Terroristen, welche über Brückenbegriffe wie »Radikalismus« oder »Extremismus« oder auch nur »Antiliberalismus« oft in einem Topf mit Populisten landen. Terroristen dieser Art mögen an ein als homogen gedachtes Kollektiv, beispielsweise das der Rechtgläubigen weltweit, appellieren, aber sie sehen das Volk gerade nicht als - im Kontrast zu korrupten Eliten - »moralisch rein«, sondern als seinerseits korrumpiert und erweckungs- oder gar erlösungsbedürftig. Dies zeigt auch, dass sich die Unterscheidung zwischen Populismus und Demokratie nicht mit der zwischen Extremismus und einer wie auch immer definierten liberalen Mitte deckt: Vor allem in Mittel- und Osteuropa haben politische Unternehmer mit relativ moderaten politischen Positionen manchmal gleichzeitig einen Alleinvertretungsanspruch angemeldet und alle politischen Mitbewerber als illegitim abqualifiziert; ein Begriff wie »Populismus des Zentrums« (Grigore Pop-Eleches) ist daher kein Widerspruch in sich. Ja, man kann sogar mit liberalen Werten wie Freiheit und Toleranz populistische Politik betreiben - bestes Beispiel ist hier Geert Wilders, der diese Werte allein dazu benutzt, von oben herab zu dekretieren, wer zum wahren niederländischen Volk gehört und wer nicht.
Erst auf der Basis eines solchen Populismusverständnisses lassen sich dann auch zumindest jene Bruchteile der modernen Politikgeschichte, welche für die Entwicklung des Populismus wichtig zu sein scheinen, richtig verstehen. Vor allem soll gezeigt werden, dass einige der immer wieder als »populistisch« bezeichneten Bewegungen - die von Farmern getragene People's Party am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert in den USA oder die die Bauern idealisierenden Narodniki in Russland - im hier vorgeschlagenen Sinn größtenteils gar nicht populistisch waren. Dies ist insofern nicht unwichtig, als, wie Helmut Dubiel einmal bemerkte, die theoretische Kategorie des Populismus zumindest in der angelsächsischen Soziologie ein »metaphorisches Abziehbild des einen sozialgeschichtlichen Falles der amerikanischen Agrarier« ist, weshalb sie in den USA bis heute vor allem positive, ja explizit progressive Konnotationen hat.19 Man muss also den Populismusbegriff zunächst einmal von den ursprünglich deskriptiven, in der Folge dann jedoch unterschwellig normativ gewordenen Aspekten reinigen, die er in der Sozialgeschichte häufig hat. Man sollte auch erklären, warum ein Europäer, der Populismus als undemokratisch bezeichnet, in den USA auf erstaunte, wenn nicht gar empörte Gesichter trifft; schließlich, so viele linke Amerikaner, sei Populismus doch gerade eine Graswurzel-Bewegung für mehr Demokratie oder zumindest eine erzdemokratische Verteidigung der Interessen der »Main Street« gegen jene der »Wall Street«.
Das soll nicht heißen, Populismus sei so etwas wie ein zeitloses »Gespenst«. Populismus ist eine spezifische, der modernen repräsentativen Demokratie inhärente Gefahr. Populisten machen sich einige der Versprechen der modernen Demokratie - vor allem die Vorstellungen kollektiver Autonomie - zunutze, ohne diese Versprechen jemals einlösen zu können. Insofern ist es irreführend, von Populismus als notwendigem Korrektiv einer wie auch immer defekten Demokratie zu sprechen. Um diesen Gedanken plausibel zu machen, sollen in einem dritten Schritt die Unterschiede zwischen Populismus und Demokratie noch einmal so deutlich wie möglich herausgearbeitet werden. Wobei durchaus zuzugestehen ist, dass Teile der modernen repräsentativen Demokratie in der Tat undemokratische Elemente haben (etwa das Prinzip der Repräsentation) und den normativen Idealen kollektiver Autonomie lediglich mit Abstrichen gerecht werden. Nur ist Populismus der falsche Weg, um einer Verwirklichung dieser Ideale näher zu kommen.
Vor allem liberale Beobachter machen es sich zu einfach, wenn sie Populismus anhand scheinbar eindeutiger soziologischer Kriterien dingfest machen wollen. Besonders beliebt ist die Vorstellung, Populisten ließen sich ohne Weiteres an ihren Wählern erkennen: Diese fänden sich vor allem in der unteren, abstiegsbedrohten Mittelschicht oder, wie es früher etwas unverblümter hieß, im Kleinbürgertum. An diese politsoziologische Diagnose schließt sich häufig eine sozialpsychologische These nahtlos an: Die Unterstützer populistischer Parteien wiesen ein eindeutiges sozialpsychologisches Profil auf; sie seien von »Wut«, »Ressentiments« und »Ängsten« vor sozialem Abstieg getrieben. Antisemitismus, bemerkte August Bebel einmal, sei der Sozialismus der dummen Kerls; heute, so ließe sich analog schlussfolgern, wendeten sich die »dümmeren« Mitglieder der Mittel- und Unterschichten dem Populismus zu, anstatt mithilfe sozialistischer Theorien ihren wahren Gegner im Kapitalismus zu erkennen.
Und dann stellt sich noch ein weiterer Gedanke fast automatisch ein: Bei populistischen Politikern handele es sich stets um große Vereinfacher, welche den verunsicherten Massen simple Versprechungen machten oder gar so etwas wie Erlösung von allen Alltagssorgen durch politische Willensakte propagierten.20 Populisten, so die These, würden stets unterkomplexe, unverantwortliche, wenn nicht gar gleich unlautere Politikangebote machen oder zu »irrationalem Politikverhalten« einladen (Udo di Fabio). Der Populismus sei einfach, so Ralf Dahrendorf einmal, die Demokratie jedoch komplex.21
Diese Diagnose ist freilich selbst nicht sonderlich komplex.22 Man wird nicht automatisch zu einem Polit-Relativisten, der die Existenz einer Trennlinie zwischen verantwortlicher und unverantwortlicher Politik leugnet, wenn man feststellt, dass sich der Verlauf dieser Trennlinie nicht immer ganz so eindeutig bestimmen lässt. Sicherlich gibt es Fälle, wo man kein Experte sein muss, um stümperhafte, wenn auch symbolisch vielleicht geschickte Politik klar identifizieren zu können. Man denke an den venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro, den...
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