Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
In ähnlicher Weise, wie wir als Lebewesen in einer >Biosphäre< leben - als dem Raum um die Erde, in der Leben möglich ist - könnten wir auf gesellschaftlich-politischer Ebene sagen, wir leben in einer >Narratosphäre<: Unsere soziale Welt ist ein Gespinst aus Erzählungen und Geschichten darüber, wer wir sind, woher wir kommen, wie wir geworden sind, was und wie wir heute sind, in welchen Bezugsgruppen (Familie, Religion, Ethnie, Staat) wir leben, wie diese geworden sind, was sie heute sind, und Geschichten darüber, wohin wir gehen wollen und was wir uns von der Zukunft erhoffen. All diese Geschichten (die wir explizit erzählen oder erzählt bekommen) und Narrative (die unseren Überzeugungen und Diskursen zugrunde liegen) zusammen erzeugen unsere soziale Welt, die Kultur, in der wir leben, die Grundannahmen über das, was >bei uns< möglich und unmöglich, was wünschenswert oder abzulehnen ist. Diese Geschichten und Narrative bestimmen einen großen Teil dessen, was wir als unser >Weltbild< bezeichnen könnten. Dass dahinter tatsächlich zum großen Teil Geschichten oder Narrative stecken, kann man sich leicht klarmachen, wenn man darüber nachdenkt, woher bestimmte Grundüberzeugungen und Identitätsmerkmale kommen, die wir als Gesellschaft oder Gruppe haben: Wenn wir unsere Identität im >christlichen Abendland< finden, bauen wir auf den biblischen und allen anderen Geschichten rund um die christliche Religion auf; wenn die Aufklärung des 18. Jahrhunderts unser Referenzpunkt ist, beziehen wir uns auf die Narrative und Geschichten vom Sieg der Vernunft oder der Entstehung der Wissenschaft.
Die Tatsache, dass der >Sinn< größerer Gemeinschaften narrativ konstruiert ist und Narrative fundamentale Voraussetzungen für das Funktionieren größerer sozialer Gruppen überhaupt ist, hat der israelische Historiker Juval Noah Harari in seinem Buch Eine kurze Geschichte der Menschheit (HARARI 2013) herausgearbeitet: Kleinere soziale Gruppen, bis etwa 150 Mitglieder, sind auch nach den Erkenntnissen der Organisationspsychologie durch Alltagskommunikation, durch >Klatsch und Tratsch< zu organisieren. Größere Gruppen brauchen ein gemeinsames Sinn-Narrativ, eine fiktionale Geschichte, die den gemeinsamen Sinn garantiert. Laut Harrari ist dies der Grund, warum der Homo sapiens als Spezies so erfolgreich war und so komplexe Kulturen und soziale Systeme wie etwa die frühen Stadtkulturen in Mesopotamien oder in China gründen konnte: »Nur der Mensch kann über etwas sprechen, das gar nicht existiert [.]; mit der fiktiven Sprache können wir uns nicht nur Dinge ausmalen - wir können sie uns vor allem gemeinsam vorstellen. Wir können Mythen erfinden, wie die Schöpfungsgeschichte der Bibel, die Traumzeit der Aborigines oder die nationalistischen Mythen der modernen Nationalstaaten. Diese [.] Mythen verleihen dem Homo sapiens [.] die Fähigkeit, flexibel und in großen Gruppen zusammenzuarbeiten.« (HARRARI 2013: 37). Dies entspricht auch den Erkenntnissen der narrativen Psychologie, die ebenfalls soziale oder nationale Identitäten über Narrative definiert (vgl. z.B. LÁSZLÓ 2008: 163ff.). Geschichten definieren nicht nur größere Gesellschaften und ihre Identitäten, sondern auch den Sinn, den sich Gesellschaften als Ganzes, Gruppen oder Individuen geben: Auch hinter scheinbar banalen Sinnstiftungen wie >Ich will Millionär werden< (banal im inhaltlichen Anspruch, nicht bezüglich der Realisierung, wie die meisten von uns wissen) stecken Narrative. Das können Geschichten darüber sein, welche Möglichkeiten man als Millionär hat. Oder welche Macht. Vielleicht beruht der Wunsch, Millionär zu werden, sogar auf einem gesellschaftlichen Basis-Narrativ (wie in dem legendären amerikanischen Narrativ vom Tellerwäscher, der jederzeit Millionär werden kann).
Man kann sich vielleicht vorstellen, dass in kleineren vormodernen Gesellschaften diese identitätsstiftenden Sinn-Narrative eher einfach und einheitlich waren (obwohl der Blick in die Vergangenheit oft Dinge einfacher aussehen lässt, als sie es tatsächlich waren). Aber wenn man diesen vereinfachenden Blick über die europäische nach-antike Geschichte wandern lässt, kann man diese Geschichte (auch) als ein Anwachsen von Komplexität und Ausdifferenzierung von Sinn-Narrativen sehen: War im Mittelalter das gemeinsame Sinn-Narrativ ganz klar das christliche, differenzierte sich dieses mit der Reformation zumindest in zwei Varianten - die katholische und die protestantische. Im 17. Jahrhundert kam dann das Rationalismus-, im 18. das Aufklärungs-Narrativ als direkte Konkurrenz zumindest zu den orthodox-christlichen Narrativen hinzu. Spätestens seitdem haben Mitglieder der europäischen Gesellschaften immer mehrere Sinn-Narrative zur Verfügung, für die sie sich - je nach Ausprägung der jeweiligen Machtstrukturen - mehr oder weniger frei, mit mehr oder weniger Gefahr für das eigene Leben, entscheiden konnten: Das Erlösungs-Narrativ des Christentums oder das Selbst-Erlösungs-Narrativ der Aufklärung. Natürlich konnte sich auch ein Bewohner des Mittelalters gegen das christliche Narrativ entscheiden - eine Kommunikation dieser Entscheidung kam jedoch einem Suizid gleich.
Im 19. Jahrhundert entstanden dann patriotisch-nationalistische Narrative, die auch als Versuche gewertet werden können, innerhalb der nun als >Nationalitäten< konzipierten Sprach- und Herrschaftsgemeinschaften wieder eine starkes gemeinsames Sinn-Narrativ zu schaffen. Konterkariert wurde dies jedoch von Anfang an von dem entstehenden anarchistisch-sozialistischen Narrativ, das immer internationalistisch war und Identitätsgrenzen zwischen sozialen Schichten und nicht ethnischen oder imperialen Gebilden zog. Unter dieser - zugegeben und naturgemäß stark vereinfachenden - Perspektive können die totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts - vom Stalinismus über den Nationalsozialismus bis hin zum real existierenden >Kommunismus< (was auch immer das hier bedeuten soll) Chinas - als Versuche gesehen werden, mit Gewalt etwas herzustellen, was es eben seit dem 18. Jahrhundert gar nicht mehr geben kann: ein einfaches, allgemeines, alle gesellschaftlichen Gruppen einigendes Sinn- und Identitäts-Narrativ.
Die Epoche seit dem Zweiten Weltkrieg ist - zumindest außerhalb totalitärer Regimes, aber auch dort durch wachsende Dissidentengruppen - geprägt durch eine ständige Zunahme sinnstiftender Identitäts-Narrative, mit deren Hilfe sich zahlreiche Gruppen und >Milieus< innerhalb der Gesellschaft definieren und ihre Sinnangebote ausdifferenzieren. Es scheint - so zumindest die gängige Gesellschaftsdiagnose - als ob sich die >großen Erzählungen< auserzählt hätten, wie von Jean-François Lyotard beschrieben (LYOTARD 72012), und einer postmodern-beliebigen Menge von kleinen, individuellen Erzählungen Platz gemacht hätten, die jeder und jede sich nach eigenem Gusto erzählt. Das ist die zutreffende eine Seite unserer Gesellschaften: Es gibt eben zahlreiche Milieus, Lebensstile, ästhetische Modelle, Gruppen, Ideologien, deren >Follower< jeweils sich auf andere Sinn-Narrative verständigen können: Konservative, Veganer, Technikgläubige, Umweltschützer, Astrologen, Rechte, Schamanen, Sozialisten, sich nach der Vergangenheit sehnende, Kunstjünger und so weiter bilden ein unentwirrbares Feld von narrativen Teil- und Schnittmengen (denn diese Narrative sind natürlich nicht trennscharf, sondern berühren und überschneiden sich auf vielfältige Weise). Die Vielfalt von gesellschaftlichen Narrativen ist einer der Gründe, warum politische Überzeugungsarbeit - ähnlich wie das Vermarkten von Produkten - so schwierig geworden ist: Es gibt eben nicht mehr nur einige wenige Narrative (das konservative, das sozialdemokratische, das liberale und das grüne), die durch die Programme von Parteien noch bis in die 1960er-Jahre abgebildet werden konnten, sondern unzählige Geschichten-Welten und narrative Konglomerate, die quer zu den klassischen Stammwählern der Parteien liegen. Und dennoch gibt es auch in unserer postmodern-vielfältigen Gesellschaft einige Basis- oder Meta-Narrative, die einen Großteil aller dieser vielen Sinn-Narrative beeinflussen und grundieren, wie etwa das Leistungs-Narrativ, das Entwicklungs- und Wachstums-Narrativ oder das kapitalistische Markt-Narrativ. Doch dazu später.
Grundsätzlich kann man sagen, dass die narrative Struktur die Form ist, wie wir Menschen Veränderungen und Entwicklungen denken, und wie wir damit Sinn in unserem Leben schöpfen, indem wir uns selbst (und anderen) erzählen, >wie wir geworden sind, was wir heute sind<. Mit solchen autobiografischen Erzählungen erklären wir, welchen Sinn unsere derzeitige Situation macht - oder...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.