Schweitzer Fachinformationen
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Eines meiner Lieblingslieder ist TRAVELIN' LIGHT von J. J. Cale. Gekühlter Bluesrock, etwas Funk in der Gitarre, ruhige Stimme, sparsames Arrangement. Die Musik vermittelt mühelos, wovon der Song handelt - vom befreienden Gefühl, mit leichtem Gepäck loszuziehen. J. J. Cale meint wohl beides: sinnbildlich den unbeschwerten Aufbruch ohne die Last der Vergangenheit, wörtlich die kleine Reisetasche. Letzteres gelingt mir nie. Ich packe immer zu viel ein. Und ich brauche lange, bis die Kleider, die Bücher und die Dokumente beisammen sind. Kaum denke ich, es geschafft zu haben, fällt mir die wichtigste Frage ein: Welche Musik kommt mit? Es hat mich schon halbe Nächte gekostet, im letzten Moment die richtigen Tapes für den Walkman aufzunehmen. Später gab es für die Compact Disc Albummappen aus dünnem PVC, in die man die Discs schieben konnte, die Verpackungen aus Hartplastik waren zu sperrig für den Koffer und gingen schnell kaputt. Als man mit Programmen wie iTunes endlich auch CDs brennen konnte, wurden die Nächte noch länger. Welche Musik passt zur Reise, welche Songs in welcher Reihenfolge? Welche Mischung stellt möglichst alle Mitreisenden im Mietauto zufrieden?
Heute reisen alle leicht, zumindest was die Musik betrifft, die in der Streaming-App bereitsteht. Das Gepäck wäre bedeutend schwerer, wenn das unfassbar große Musikarchiv ein messbares Gewicht hätte, vom CO2-Verbrauch der Serverfarmen einmal abgesehen. Heute braucht es aber keinen feierlichen Grund mehr wie eine Urlaubsreise oder ein Geschenk für Freund:innen, um eine besondere Liste zusammenzustellen. Playlists, nach Stil oder nach Stimmung gruppiert, laufen täglich bei rund einer Milliarde Menschen, beim Kochen, beim Entspannen, beim Sport.
Richtig leicht bewege ich mich nur, wenn ich die Laufschuhe schnüre und losrenne. Im Park begegne ich Läufer:innen, die DJs und Tänzer:innen ähneln. Die Bewegungen wirken geschmeidig, rhythmisch. Die Mehrheit ist mit Kopfhörern unterwegs. Wahrscheinlich hören sie Musik von einer Liste - von ihnen selbst zusammengestellt, von einem Algorithmus oder von einer Fachkraft bei Spotify und Co. Ein eleganter Laufstil hat viel mit Tanzen gemeinsam, die federnden Bewegungen im Takt und den Schweißfilm auf der Haut sieht man so ähnlich auch im Club. Nur weiß ich auf der Laufstrecke nicht, was die anderen hören. Wie interessant es wäre, sich in ihre Smartphones einklinken zu können! Oder wenn in der Mitte des Parks riesige Lautsprecher stünden, die auf die Playlists der Läufer:innen zugreifen könnten. Vielleicht würde aus dem einsamen Individualsport ein spontaner, kollektiver Rave entstehen, wie sie unter schattigen Bäumen und hinter blickgeschützten Gebüschen manchmal morgens in die Verlängerung gehen. Ich freue mich immer, drehe eine kleine Runde um die ausglühenden Partys und dehne in Hörnähe die Beine. In den letzten Jahren haben Outdoorworkouts, angeleitet von hochmotivierten Trainer:innen, die Raves im Park verdrängt. Ob Party oder Fitnesstraining, die Musik unterscheidet sich dabei nicht grundlegend.
Musik und ihre Geräte greifen auf unsere Körper zu, etwa beim Bewegen im Freien oder bei der gespannten Vorfreude auf den Urlaub. Sie sind auch der Soundtrack auf dem Weg, eine Persönlichkeit zu entwickeln und dabei Autonomie zu gewinnen. Später helfen sie, unsere Erinnerung zu organisieren, bieten uns akustische Reize, die ganze Szenerien der Vergangenheit heraufbeschwören können. Sie prägen unsere Biografien. Diese Beziehungen - zwischen Musik, Geräten und Körpern - nennt dieses Buch Pop. Denn Pop ist nie nur Musik, sondern eine Erlebnisweise, die erst mit dem Einsatz von Technologie möglich wird. Die Aufnahmetechnik, die Wiedergabegeräte, der Konsum zu Hause, unterwegs oder beim Konzert: Das ist mindestens so wichtig wie die Musik selbst. Im Pop bestimmen die Geräte, wie wir hören. Und oft bestimmen sie auch, wie wir uns sehen - wer wir sind, wer wir sein könnten oder möchten.
Manche Erfindungen, die für Pop prägend werden, kommen selbst in popfernen Haushalten an. Meine Eltern mögen weder die Musik noch das Verhalten von Popfans. Sie sind Teil des Wirtschaftswunders und steigen aus bescheidenen Verhältnissen in die Mittelklasse auf. In den Sechzigerjahren müssen sie schnell erwachsen werden. Das erste Auto ist schon da, als der erste Kassettenrekorder angeschafft wird, noch vor meiner Geburt. Mit Kassetten lernen meine Eltern Fremdsprachen, Englisch, Italienisch. Das Gerät ist wie eine Bildungsmaschine für sie, ein Stück Empowerment. Beim Kauf des Rekorders gab es ein Tape umsonst dazu, Folk aus den Anden. Wenn ich heute EL CONDOR PASA höre, sehe ich Gletscher auf Schweizer Pässen und erinnere lange Diskussionen während ruckeliger Autofahrten, ob wir die Kassette ein zweites (oder drittes) Mal hören dürfen. Pop fand seinen Weg in unseren Haushalt, als Geschenk eines Geräteherstellers.
Die Technologie des Tonbandes geht dieser Szene aus den Siebzigern zeitlich weit voraus. Erst das bis zu einer halben Stunde rollende Band schaffte Platz für Experimente, davor waren Tonaufnahmen auf wenige Minuten am Stück begrenzt. So kann etwa der Schwarze Sänger Lead Belly 1948 in aller Ruhe Dinge ausprobieren, die nicht abgesprochen waren. Leadbelly singt BLACK BETTY ohne Begleitung, zwischen den Stücken erzählt er entspannt, wie er auf die Songs gestoßen ist. Die Rolling Stones entdecken 1968 den blechernen Klang eines billigen Kassettenrekorders als Soundquelle für Hits wie STREET FIGHTING MAN. Und die Beatles spielen ebenfalls ausgiebig mit Tape. Sie begreifen die Aufnahme als eigene Kunstform und das Studio als Instrument.
Auch die Achtzigerjahre beginnen mit Tapes, als der supermobile Walkman die Musik auf die Straße bringt und Pop dadurch mehr Sichtbarkeit erlangt. Kein anderes Gerät hat mir je mehr Vorfreude und sehnsüchtiges Warten beschert als mein erster Walkman. Die Musik lernt endgültig laufen. Und der eigene Soundtrack im Ohr ermöglicht mir neue Erfahrungen im öffentlichen Raum. Im Bus, auf dem Weg zur Schule, beim Herumwandern in der Kleinstadt: Die Umgebung wird zur Kulisse für meine eigenen Wünsche, zu meinem eigenen Film. Doch auch die Musik selbst hat auf den Walkman reagiert, mit britischem Synthiepop, der sich melancholisch nach innen richtet, und dennoch nach außen drängende Energie verleiht. Songs wie SMALLTOWN BOY von Bronski Beat und HERE COMES THE RAIN AGAIN von Eurythmics fassen diesen Zustand zwischen Melancholie und Euphorie in epochale Popsongs.
Mit der teuren CD ist die Zeit der selbst gestalteten Mixtapes vorerst vorbei. Denn lange lässt sie sich nur unter erheblichem Aufwand kopieren und neu zusammenstellen. Aber mit der CD tritt Pop Mitte der Achtzigerjahre dennoch ins Zeitalter der Digitalisierung ein, die Ende der Neunzigerjahre mit der Erfindung des mp3-Formats den Markt revolutioniert. Digitale Formate und Aufnahmeverfahren öffnen den Popmarkt für Personen mit weniger Kapital. Top-Produzent:innen sitzen von nun an nicht mehr nur in Großbritannien oder den USA, sondern zum Beispiel auch in Schweden. In Stockholm lanciert Denniz PoP in den frühen Neunzigerjahren mit neuer digitaler Studiotechnik eine Welle von Popwundern wie Dr. Alban und Ace of Base, Boy Bands wie die Backstreet Boys und *NSYNC. Und am Ende des Jahrzehnts ist es auch für Popfans möglich, direkt an der Digitalisierung teilzuhaben, wenn Musik im mp3-Format über das Internet geteilt werden kann. Die alte Tonträgerindustrie hat ihr Geschäftsmodell verloren. Bis eine damals kleine Firma namens Apple einen Laden für digitale Musik aufmacht und einen handlichen Player vorstellt: iTunes und iPod. Erst jetzt steigt Apple zum größten Konzern der Welt auf. Mit iTunes, Youtube, dem iPhone und schließlich mit Streamingdiensten hören alle so viel verschiedene Musik wie nie zuvor. Pop gerät in eine Spirale der verfeinerten Personalisierung, die Sammlungen wachsen exponentiell, die Auswahl scheint grenzenlos zu sein.
Hören wir also alle etwas Anderes und sitzen vereinzelt unter Hörglocken? Die Geschichte von Pop und seinen Geräten gibt darauf ambivalente Antworten. Denn Pop erreicht unsere Haut und tritt in unser Innerstes ein, verbindet uns aber dennoch mit anderen, manchmal mit Massen. Zum einen erzählt Pop von einer fortschreitenden Individualisierung der Lebensentwürfe, Wünsche und Möglichkeiten, die mitunter tatsächlich Züge der Vereinzelung trägt. Zum anderen geht diese Individualisierung mit demokratisierender Technologie einher. Es wurde und wird einfacher, Zugang zur Musik zu erhalten oder selbst welche zu produzieren. Sozialer Fortschritt und individuelle...
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