Schweitzer Fachinformationen
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1.
Das Buggefühl
Der Wind konnte so zärtlich sein. Emma spürte, wie ihr der feuchtmilde Westwind über die Wangen und den Nacken strich, ihr in die Haare fuhr. Binnen Minuten hatte sich »der Windbeutel«, so nannte sie den eigens fürs pustige Deck gebundenen Dutt, aufgelöst, sobald sie an der Reling der Borussia stand. Und sie stand oft hier, bewunderte die Segel, roch je nach Windrichtung den Rauch und blickte zurück oder nach vorn, was seit ein paar Tagen egal war, der Ausblick war immer gleich. Wasser, Wasser. Und nochmals Wasser. Der Atlantik, der zwischen Europa und der Neuen Welt lag. Und kein geringeres Ziel hatte Emma Johanna Callsen. Insofern war es doch ein Unterschied, ob sie über den Bug hinweg in Fahrtrichtung des Schiffes aufs Meer sah, denn dort würde in wenigen Tagen die Küste von Panama erscheinen und sie an Land gehen, sie würde mit dem Zug weiterreisen, den Atlantik gegen den Pazifik tauschen und mit einem anderen Dampfschiff nach Kalifornien fahren. Der Bug war die Zukunft, das Heck die Vergangenheit und an Deck zu stehen und aufs Meer zu sehen, pure Gegenwart.
Wenn Emma über das Heck zurückschaute, dann sah sie wieder ihre Familie in Hamburg am Kai stehen, als unter lautem und langem Tuten des Nebelhorns und dem Kommando »Leinen los!« die Schiffstaue an Land von den dicken Eisenpollern gelöst wurden und das große Schiff langsam ablegte. Emma sah wieder genau vor sich, wie ihr kleiner Vater den schwarzen Hut lüftete und ihn schwenkte, seiner Tochter zu Ehren, und wie ihm seine grauen Haare dabei zu Berge standen. Daneben winkte die Mutter mit ihrem Taschentuch und war, so dachte Emma in dem Moment, vielleicht insgeheim ganz froh, die mittlere Tochter auf diese Weise elegant loszuwerden. Und da standen inmitten eines Meeres weißer, flatternder Taschentücher, Erika und Bertha, in ihren guten Kleidern, alle hatten sich herausgeputzt für die Fahrt nach Hamburg. Erika wahrte die Fassung, wie es sich für eine große Schwester gehörte, und Bertha winkte und weinte zugleich.
Zuvor, am Kai beim Verabschieden, war viel um sie herum geschluchzt worden, es gab regelrechte Dramen. Man wusste nicht, ob man sich jemals wiedersehen würde. Und während Emma und ihre Familie letzte gute Wünsche miteinander austauschten und sich dabei zu wiederholen begannen, wurde das große Gepäck ins Unterdeck verladen, Truhen, Schrankkoffer, sogar eine Klavierkiste war dabei. Vier laut fluchende Hafenarbeiter bugsierten sie gemeinsam an Seilen in die Ladeluke, es fielen unschöne Bemerkungen über das Musizieren an sich und wozu der Mensch, verdammig noch mal, ein Klavier braucht da unten bei den Hottentotten. »Guckt mal, da muss ein Klavier mit auswandern!«, sagte Emma, und ihr Vater antwortete: »Ich denke mir, dass es darüber sehr verstimmt sein wird.« Was hatten sie alle gelacht. Sogar die Mutter. Und dieses Lachen hatte um sie als Familie ein letztes Mal ein Band geschlungen.
Wenn Emma an Deck stand und zurückblickte, Richtung Deutschland, dann kamen unweigerlich die Gedanken an das, was sie ausgeschlagen hatte, kam das Bild vom hageren Hinrichsen. Emma musste an seinen Händedruck denken, als sie Hinrichsen das erste Mal begrüßt hatte. Krötenhaut. Da wusste sie noch nicht, dass diese Hand um ihre Mädchenhand, die Chopinläufe aus dem Effeff beherrschte, anhalten würde, um die zwanzigjährige Tochter des Professors an der ehrwürdigen Domschule, Herrmann Callsen. Die erste Tochter war in sehr guter Partie verheiratet mit dem Besitzer der Zuckerfabrik, und nun war Emma an der Reihe. Bertha mit ihren siebzehn Jahren hatte noch eine kleine Schonfrist. Bertha, Emmas Lieblingsschwester und Vertraute.
Es war ein verregneter Januartag, als Landrat Hinrichsen vorfuhr und bei ihren Eltern ganz offiziell um sie anhielt. Er fände sie allerliebst, reizend, auch ihr Temperament sei ihm nicht entgangen, und sie könne, wenn man sie erst etwas an die Kandare genommen hätte, sicher eine gute Mutter und treuliebende Ehefrau werden. So in etwa gab die Mutter es, nachdem Hinrichsen gegangen war, Emma gegenüber im Salon wieder, sichtlich stolz auf ihre Tochter und diesen Antrag. Emma war ganz mulmig geworden, vor allem aber bei dem Wort »Kandare« hatten sich ihr die Nackenhaare aufgestellt. Es war der Vater, der ihr in die Augen sah und fragte: »Emma, liebes Kind, kannst du dir vorstellen, die Frau von Landrat Hinrichsen zu werden?«
Und sie hatte, wie aus der Pistole geschossen, gesagt: »Niemals!« Es war ein Niemals, das aus ihrem Rückenmark kam, den Eingeweiden, aus ihrem ganzen Körper, und sie hatte noch nie in ihrem Leben etwas so ernst gemeint. Ihre Mutter war blass geworden, und ihr Vater konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen. Ihr, Emma, jedoch war in diesem Moment vollkommen klar, dass sie nicht nur niemals Hinrichsens Frau werden wollte, sondern dass sie es auch keinen Augenblick lang abwägen würde und dass ihre Antwort, ihr Niemals, durch nichts auf der Welt zu revidieren war.
Emma hatte gewusst, wie ihr Leben ab der Hochzeit aussehen würde, Tag für Tag, Stunde für Stunde, sie hatte gewusst, dass sie genau so ein Leben führen würde, wie ihre Mutter es tat und wie ihre Schwester es seit der Hochzeit als Direktorengattin führte. Ein Leben, das für eine Frau vorgezeichnet war, das genauen Abläufen entsprach, voller Pflichten und Aufgaben und nur kleinen Freiheiten und Belohnungen, es war das Allerletzte, worauf Emma Lust hatte. Vor allem aber wollte sie dieses Dasein nicht neben einem hageren Beamten wie Berthold Hinrichsen führen, der zudem siebzehn Jahre älter war. Nichts, aber auch gar nichts zog Emma an ihm an, und es kam ihr falsch vor, eine Lüge, sich diesem Mann hinzugeben. Sie wünschte sich, zumindest in Maßen, eine gewisse Leidenschaft und Zärtlichkeit mit einem Mann, wenigstens eine gute geistige Verbindung, eine Freundschaft und Kameradschaft. Sie hatte andere Vorstellungen, »Flausen im Kopf«, wie ihre Mutter es nannte, die überhaupt nicht verstehen wollte, wie man eine so sichere und solide Partie wie den Landrat ausschlagen konnte. Ihr Vater dagegen brachte etwas mehr Verständnis für seine mittlere Tochter auf, aber das war seit jeher so gewesen.
Emma hatte ihren Eltern erklärt, dass sie lieber in ein Stift gehen und Jungfrau bleiben würde, als diesen Hinrichsen zu heiraten. Denn es sei besser, sich niemals einem Mann hinzugeben, als mit einem wie dem Landrat in die Federn zu steigen. Die Mutter bekam ihre roten Flecken, verstand wieder mal nicht, was dieses Kind sich nur dachte und woher all diese Ausdrücke kamen. Schmallippig sagte sie zu Emma: »Meine liebe Tochter, ich weiß nicht, ob du dir erlauben kannst, derart krüsch zu sein. Du wirst nie wieder so ein gutes Angebot bekommen, einen Antrag von allererster Güte! Bilde dir bloß nicht ein, dass noch ein Prinz dahergeritten kommt, denn für einen Prinzen lässt du es an weiblicher Anmut und Demut fehlen, du neigst zum Widerspruch und zum Aus-der-Form-Gehen, weil keine Cremeschnitte vor dir sicher ist, und du bist zwar ein hübsches Mädchen, aber bei Weitem keine Schönheit, für die ein Mann eventuell geneigt sein könnte, anderweitig Abstriche zu machen.«
»Ottilie, ist gut jetzt!«, unterbrach Herrmann Callsen seine Frau, die noch weiter Munition verschossen hätte. Doch all das, was die Mutter ihr gesagt hatte, wusste Emma selbst, und es kränkte sie nicht besonders.
Und so hatte sie das wochenlange Muckschsein der Mutter ertragen, in vielen Gesprächen mit Bertha alles erörtert und sich mit ihr gemeinsam unter Lachanfällen ausgemalt, wie Hinrichsen wohl in langen Unterhosen aussah. Ob er jemals in seinem Leben eine Kissenschlacht veranstaltet hatte? Einen Streich ausgeheckt? Beide Schwestern konnten es sich nicht vorstellen. Eher, dass er Krampfadern hatte und gelbliche, verwachsene Zehennägel und dass er hüstelte im Bett beim Vollzug des ehelichen Aktes. Emma musste schmunzeln. Sie vermisste ihre kleine Schwester mit dem tiefen Lachen schon jetzt so schmerzlich.
Eines war aber auch klar: Ohne Hinrichsens Antrag und ihre Ablehnung und die daraus folgende Frage, was nun aus ihr werden sollte, hätte sie nicht auf die Anzeige geantwortet, in der die Kieler Agentur »Matthiessen & Co« Bedienstete für Amerika suchte.
Wenn Emma über das Heck hinweg Richtung Hamburg sah, dann kamen die Gedanken aus dieser Ecke ihres Bewusstseins, und wenn sie in Richtung des Schiffsbugs blickte, dann sah sie die Zukunft vor sich, die ungewisse, die sie sich in den letzten Monaten während ihrer Vorbereitungen in Schleswig vorzustellen versucht hatte. Ihr Anlaufpunkt war Mrs. Thompson in San Francisco, eine gebürtige Hamburgerin, die ihr die Stellung als Gesellschafterin gegeben hatte und sie erwartete. Der Lohn war viel besser als in Deutschland, und Emma hatte gehört, dass in Kalifornien auf eine Frau fünfzig heiratswillige Männer kamen, sie würde also genügend Auswahl haben und sich in Ruhe einen passenden Mann aussuchen. Aber alles zu seiner Zeit. Erst mal wollte sie etwas arbeiten und Englisch lernen, sich mit der neuen Kultur...
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