Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
3
Dienstag, 1. November 2011
Als Patrizia am frühen Morgen in der Questura ankam, war sie hundemüde. Entgegen ihrer Gewohnheit holte sie sich einen Kaffee aus dem Automaten. Er schmeckte scheußlich, aber sie brauchte jetzt einfach einen Schuss Koffein pur. Sie fragte sich, warum sie überhaupt so früh gekommen war, jetzt, wo doch nichts Wichtiges mehr anstand.
Auf ihrem Schreibtisch lag schon seit zwei Wochen ein Fall von Körperverletzung. Ein Streit zwischen Hausbewohnern war während einer Eigentümerversammlung aus dem Ruder gelaufen, und aus dem Handgemenge war eine Schlägerei geworden. Patrizia gähnte. Sie beschloss, den Vormittag mit dem Schreiben von Abschlussberichten zu dem eben ad acta gelegten Fall zuzubringen. Am Nachmittag konnte sie dann die Streithähne befragen.
Sie fuhr ihren Computer hoch, als mit einem Ruck die Tür aufgerissen wurde.
Patrizia zuckte zusammen.
»Mensch, Cristina! Kannst du nicht .« Doch sie beendete den Satz nicht.
»Scusa, Bella, ich hatte es einfach so eilig, dich zu sehen.«
Patrizias Kokommissarin warf ihr eine Kusshand zu und ließ sich in den Besuchersessel fallen. Doch dann wurde sie ernst und sah ihre Kollegin prüfend an.
»Genau so habe ich mir das vorgestellt. Ein übernächtigtes Häufchen Elend, aber pflichtbewusst wie immer. Was sind das eigentlich für andere Sachen, denen wir uns jetzt angeblich widmen sollen? Ich bin gar nicht mehr auf dem Laufenden.«
»Der Streit unter Hauseigentümern, du weißt schon.«
»O mio Dio, der hat mir gerade noch gefehlt! Worum ging's da noch gleich?«
»Um die Kosten für einen neuen Fahrstuhl im Gebäude. Soweit ich mich erinnere, wurde der Auftrag an den Cousin eines Wohnungseigentümers vergeben, ohne Kostenvoranschläge von anderen Firmen einzuholen. Das Übliche.«
»Oje, das kann ja heiter werden. Ich fürchte, wir werden uns noch nach unserem Mordfall zurücksehnen.«
»Na, jetzt übertreib mal nicht.«
»Übertreiben? Du wirst schon sehen! In puncto Hausgemeinschaften bin ich nämlich Spezialistin. Du da oben in deinem abgelegenen Domizil hast ja keine Ahnung, was sich hier unten in den Mehrfamilienhäusern für menschliche Abgründe auftun. Alle Aussagen werden rein parteiisch sein, je nachdem, wer mit wem im Haus befreundet oder verfeindet ist. Hat der Hund von X schon mal an mein Auto gepinkelt? Hat Y mich neulich nicht gegrüßt? Dazu kommen laute Besucher, falsch geparkte Autos und Hundehäufchen auf dem Gemeinschaftsrasen . Du brauchst gar nicht so zu lachen. Das sind alles Vergehen, die das Verhältnis zwischen Hausbewohnern völlig zerrütten können.«
»Hm-hm, kann ja sein. Aber irgendwie werden wir den Hauptverantwortlichen schon finden, und dann wird er wohl mit einer gesalzenen Geldstrafe und einem Eintrag ins Strafregister rechnen müssen.«
Cristina grinste breit. »Ja, zusätzlich zu den anteiligen Kosten für den neuen Fahrstuhl. Was meinst du, sollen wir uns das sofort antun oder .«
»Ich wollte eigentlich erst mal die Abschlussberichte schreiben und dachte, dass du vielleicht schon mal anfangen könntest, weil du dich doch auf dem Gebiet so gut auskennst.« Patrizia lächelte zuckersüß.
»Na toll.« Cristina verdrehte die Augen. »Andererseits sind mir Berichte sogar noch mehr zuwider. Also dann, bis später mal.« Sie erhob sich schwerfällig aus dem Besuchersessel, winkte noch einmal kurz und verließ das Büro.
Es war fast Mittag, als Patrizia den letzten Bericht ausdruckte und in die Mappe legte. Sie hatte Hunger.
Auf dem Weg nach unten schaute sie kurz in Cristinas Büro vorbei, doch die war offenbar noch ausgeflogen. Schade. Ein paar Anekdoten aus dem Leben gestresster Wohnungseigentümer hätten die Mittagspause sicher enorm belebt.
Sie verließ das Gebäude und überquerte die Straße. In den Morgenstunden hatte es zu regnen aufgehört. Allerdings war der Himmel noch immer dunkelgrau, und ein nasskalter Wind fegte übers Meer. In der Bar Umberto suchte sie sich einen freien Platz an der Theke und aß ein Tramezzino.
Schon um halb eins saß sie wieder an ihrem Schreibtisch.
Das Telefon läutete. Luca aus der Anmeldung. Er fragte sie, ob er ihr eine Dame vorbeischicken könne, die unbedingt ihren Ehemann vermisst melden wollte. Die eigentlich dafür zuständigen Kollegen waren noch in der Mittagspause, aber die Frau hatte angeblich nur wenig Zeit, da sie ihre Enkel von der Schule abholen musste.
Patrizia seufzte. Sollte das ab jetzt ihr Los sein? Tollwütige Mieter und abtrünnige Ehemänner?
Kurz darauf saß die Dame auf ihrem Besucherstuhl. Um die 60, schwarz gefärbtes, perfekt gelegtes Haar, gepflegte Erscheinung, adrett gekleidet, aber offensichtlich nervös und aufgebracht. Sie wartete nicht darauf, angesprochen zu werden, sondern legte sofort los, was Patrizia auf eine wohlhabende gebürtige Salernitanerin schließen ließ.
»Buongiorno, Commissaria, mein Name ist Meriani, Barbara Meriani. Mein Mann ist Ugo Meriani, Sie wissen schon, der Ingenieur.«
Patrizia wusste nicht und hob erstaunt die Augenbrauen, ging jedoch nicht weiter darauf ein, sondern fragte stattdessen:
»Man sagte mir, Sie vermissen ihn? Seit wann denn?«
»Oh, das weiß ich gar nicht. Wahrscheinlich aber seit gestern Abend.«
Patrizia unterdrückte einen Seufzer. Ein Ehemann, der erst seit ein paar Stunden vermisst wurde. Wahrscheinlich hatte er eine Geliebte oder war einfach nur mal allein aus dem Haus gegangen, ohne seine Frau um Erlaubnis zu fragen. Aber was hatte sie im Augenblick schon Besseres zu tun? Sie zwang sich, freundlich zu klingen.
»Wann haben Sie Ihren Mann denn zuletzt gesehen?«
»Gestern Morgen. Wissen Sie, meine Tochter ist mit meinem Schwiegersohn für zwei Tage geschäftlich in Mailand, und ich passe in der Zeit auf meine beiden Enkel auf. Gestern Morgen bin ich nach Pontecagnano gefahren, wo meine Tochter lebt. Um zwei Uhr habe ich die beiden von der Schule abgeholt und bin dann über Nacht dort geblieben. Eigentlich hatte ich gar nicht vor, heute Morgen in unsere Wohnung nach Salerno zurückzufahren, aber ich hatte meine Fernsehbrille vergessen, und ohne die, na ja, Sie wissen schon . Ich muss auch gleich wieder zurück. Die Schule ist ja bald aus.«
Patrizia nickte zerstreut.
»Warum glauben Sie, dass Ihr Mann verschwunden ist? Wann haben Sie ihn denn zum letzten Mal gesprochen?«
»Ich habe gestern Abend spät, so gegen elf, bei ihm angerufen. Ugo geht nie vor Mitternacht ins Bett. Ich wollte wissen, ob er sich das Essen aufgewärmt hat.« Sie hielt kurz inne, bevor sie fortfuhr. »Er ging aber nicht ans Telefon. Wahrscheinlich war er wie immer vor dem Fernseher eingeschlafen. Also habe ich mir auch weiter keine Sorgen gemacht. Aber als ich dann heute Morgen nach Hause kam, um die Brille zu holen, ist es mir sofort aufgefallen.«
Sie machte eine Pause und sah Patrizia mit einem vielsagenden Blick an.
»Ja?«
»Ja. Das Bett, das gemachte Bett. Mein Mann kann gar kein Bett machen, jedenfalls nicht richtig. Nicht so, wie es sich gehört. Das Bett war aber gemacht. Und zwar so, wie ich es immer mache. Das heißt, dass er über Nacht gar nicht zu Hause war!«
»Könnte er nicht auf dem Sofa geschlafen haben? Oder bei einem Freund oder Bekannten? Schließlich war er allein.«
»Aber er hat doch zu Hause gegessen. Und er hasst es, nach dem Abendessen noch mal rauszugehen. Wohin auch? Er trifft sich abends eigentlich nie mit jemandem. Und auf dem Sofa schlafen? Nein, das tut er nicht. Dazu ist es viel zu unbequem.«
»Haben Sie denn schon bei seinen Kollegen und Bekannten nachgefragt, ob er sich nicht vielleicht doch bei einem von ihnen aufhält?«
»Im Büro ist er nicht, da habe ich schon angerufen. Aber bei seinen Bekannten? Nein, mio Dio, das ist mir peinlich. Was sollen die von uns denken? Aber er ist bestimmt nicht bei einem Bekannten, da bin ich mir ganz sicher. Außerdem waren da ja noch die Fußabdrücke in der Wohnung.«
»Fußabdrücke?«
»Ja. Irgendwer muss mit klatschnassen Schuhen durch die ganze Wohnung gegangen sein. In allen Zimmern waren diese Schmutzspuren. Dabei haben wir eine Fußmatte vor der Eingangstür. Eine Rücksichtslosigkeit sondergleichen. Aber Ugo war das nicht, der ist da sehr penibel. Er zieht sich immer sofort die Schuhe aus. Mein Mann ist ja Ingenieur, wissen Sie, einer der bekanntesten Ingenieure der Stadt, ach, was sag ich, einer der besten Ingenieure der Region. Er ist außerordentlich präzise. Das gehört zu seinem Beruf. Deshalb ist er auch so auf Sauberkeit bedacht. Er würde niemals einen solchen Schmutz hinterlassen.«
»Sie meinen, er hatte Besuch? Könnte er dann nicht mit diesem Besuch noch einmal weggegangen sein?«
Frau Meriani sah Patrizia beinahe gekränkt an.
»Ugo hat nicht bei jemandem übernachtet, der unsere Wohnung so verdreckt, wenn ich es Ihnen doch sage. Und seine Zahnbürste ist ja auch noch da.«
Patrizia verkniff sich ein Lächeln. Das mit der Zahnbürste hatte Signora Meriani also nachgeprüft. Einen leisen Zweifel hatte sie demnach doch gehegt.
»Haben Sie die Schmutzspuren denn schon weggewischt?«
Die Frage war Patrizia routinemäßig herausgerutscht.
Signora Meriani wirkte betreten, wie auf frischer Tat ertappt.
»Ich wollte ja, aber ich hatte doch keine Zeit. Um zwei kommen die Kinder aus der Schule, und vorher musste ich doch noch hierher.« In ihrer Stimme lag eine...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.