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Als Hannah am nächsten Morgen erwachte, benötigte sie einen Moment, um festzustellen, wo sie war. Ihr eigenes Bett kam ihr ungewohnt vor, nachdem sie die letzten drei Nächte in der Wohnung ihrer Freundin Clara verbracht hatte. Sie war froh, wieder in ihrer vertrauten Umgebung zu sein, und die gedämpften Geräusche, die aus der Küche herüberschallten, klangen fast wie Musik in ihren Ohren.
Leise stahl sie sich aus dem Bett, zog sich flink an und schlich über den Flur in das Wohnzimmer. Gretchen hatte bereits den Kamin entzündet und die Hitze begann, den Raum zu füllen. Doch um richtig warm zu werden, musste sich Hannah nah an das Feuer setzen. Am frühen Morgen war ihr oft nicht nach Unterhaltung, weshalb sie versuchte, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu ziehen. Ihr Hausmädchen hatte mit den morgendlichen Aufgaben, besonders im Winter, wenn die Räume eingeheizt werden mussten, ohnehin genug zu tun.
Der Commissar kostete jede Sekunde seines Schlafes aus, bis er sich an den Frühstückstisch begeben würde, um dann pünktlich zum Dienstbeginn in der Polizeiwache zu erscheinen. So las Hannah ein wenig in ihrem in Blindenschrift geschriebenen Buch. Es war kein sonderlich spannender Lesestoff, mit dem sie sich die Zeit vertrieb. Sie konnte nicht erwarten, dass die neuesten Beiträge zur Frauenfrage auch in Braille gedruckt wurden. Diese ließ sie sich bisher von ihrem Hausmädchen vorlesen, die leichte Lektüre, die sie selbst ertasten konnte, diente dem Zeitvertreib.
Doch heute gelang es ihr nicht, sich auf das Gelesene zu konzentrieren. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zur Erzählung des Commissars vom Vorabend und weiter in die Seeburgstraße zurück. Der sinnlose Tod des jungen Mädchens machte Hannah traurig, und zu wissen, dass Henriette Weidmann bei Weitem nicht die letzte Verzweifelte sein würde, erzürnte sie.
Auch die Frauenbewegung beschäftigte sich im Moment mit dem Problem des ältesten Gewerbes der Welt. Der Anfang dazu war wieder einmal in Deutschland gemacht worden - hier in Leipzig. Louise Otto-Peters war es, die als Erste gewagt hatte, öffentlich über die Prostitution als Frauenfrage zu sprechen - und es nicht nur als Problem der Gesundheit des Volkskörpers zu betrachten, wie die allermeisten Männer.
In der Folge hatten sich in der Frauenbewegung die verschiedensten Lager herausgebildet, die unterschiedliche Meinungen zu dem Thema vertraten: Einerseits waren da die Frauen um Hanna Bieber-Böhm und den Verein Jugendschutz, die den Prostituierten nicht mehr Wert zusprachen als die konservativen, männlich geführten Sittlichkeitsvereine. Sie gingen davon aus, dass die verführten Männer vor den gefallenen Frauen zu schützen seien und dies am besten durch die Bekämpfung der künstlich hervorgerufenen krankhaften Steigerung des Fortpflanzungstriebes geschah. Dazu sollte gegen unsittliche Bücher, Bilder und den Alkoholismus vorgegangen, aber auch Frauen, die der Prostitution nachgingen, härter bestraft werden.
Hannah konnte nicht allzu lange über diese Bewegung nachdenken, ohne dass sich ihr die Nackenhaare aufstellten. Andererseits gingen ihr die von der Engländerin Josephine Butler inspirierten Abolitionistinnen, die in den letzten beiden Jahren erste deutsche Zweigstellen in Hamburg und Berlin gegründet hatten, dann doch einen Schritt zu weit: Sie wollten jegliche Reglementierungen einstellen und traten neben der Abschaffung medizinischer Zwangsuntersuchungen dafür ein, die Prostitution nicht als ein strafbares Delikt zu betrachten. Das hatte ihnen, natürlich besonders unter den Männern, die als Einzige die Gesetze ändern konnten, einen Ruf als negativ wirkende Kräfte eingebracht. Um diesen wieder loszuwerden, hatten die Frauen feststellen müssen, wie schwierig es war, praktische Handlungsanweisungen auszuarbeiten. Die Folge waren heftige interne Kämpfe gewesen, die sich bis heute fortsetzten, auch wenn die Hauptforderungen schließlich von der englischen Politik umgesetzt wurden.
Auch im Kaiserreich zerfiel die sowieso schon dreigeteilte Frauenbewegung in die unterschiedlichsten Positionen, die einander gegenüberstanden. Allen gemein war nur der Kampf gegen die männlich dominierte Politik. Hannah selbst verortete sich irgendwo zwischen dem radikalen und dem gemäßigten Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung.
Deren Ziel war eine verbesserte Stellung der Frauen durch weitergehende Bildung auf höheren Schulen und schließlich die Zulassung zum Studium. 1880 hatte an der Leipziger Universität zwar erstmals in Deutschland eine Frau ein Medizinstudium mit dem Staatsexamen abgeschlossen, doch offiziell wurde ihr Abschluss nie anerkannt. Immer mehr Frauen erwirkten, dass ihnen nun mit einer Ausnahmegenehmigung als Gasthörerinnen der Zugang zu den Hochschulen gewährt wurde, was dazu geführt hatte, dass sie regulär seit 1896 in Preußen an die Universitäten durften. Doch bis aus der Ausnahme eine waschechte Studentin mit Abschluss wurde, würde es noch ein langer Weg sein.
Hannah sah ein, dass dies wichtige Ziele waren. Doch dass der Kampf um politische Mitbestimmung der Frauen hintangestellt, ja sogar verhindert werden sollte, um potenzielle männliche Mitstreiter nicht zu verschrecken, sah sie nicht ein! Da musste sie der gemäßigten Leipziger Frauenbewegung um den Allgemeinen Deutschen Frauenverein aufs Heftigste widersprechen und hielt es eher mit der bürgerlich-radikalen Fraktion um Anita Augspurg und Minna Cauer.
Des Weiteren gab es noch das große Lager der proletarischen Frauenbewegung um Clara Zetkin. Dieses vertrat die Meinung, dass die Frauen - zusammen mit den Arbeitern - erst in dem Erreichen einer sozialistischen Ordnung gleiche Rechte haben konnten. Das leuchtete der blinden Dame ein, und dass die Situation der Werktätigen allgemein gebessert werden musste, stand außer Frage. Aber Hannah war davon überzeugt, dass der Kampf der Frauen dem politischen Ringen nicht untergeordnet werden durfte.
All die verschiedenen Stoßrichtungen der Frauenfrage waren sicherlich verständlich und es war schwierig, ein Vorgehen als das richtige zu bestimmen, dem sich alle Andersdenkenden unterzuordnen hatten. Aber die Bewegung wurde durch ihre Zersplitterung gelähmt und hatte für Hannahs Verständnis noch zu wenig erreicht.
Während die ehemalige Lehrerin die verfahrene Situation der Frauenrechtlerinnen überdachte, hatte Gretchen die Vorbereitungen für das Frühstück abgeschlossen und es im Esszimmer aufgetragen. Hannah wurde von ihrem Hausmädchen abgeholt, das sie an den Esstisch führte, wo ihr Untermieter bereits mit knurrendem Magen wartete.
Die blinde Dame nahm nur ein wenig der leichteren Speisen zu sich, da ihr Magen am Morgen kaum etwas vertrug. Der Commissar hingegen schmatzte ausgiebig, als er seine Eier mit Speck verschlang. Schon im Gehen begriffen, verzehrte er eine Scheibe Brot mit kaltem Aufschnitt und wünschte seiner Vermieterin mit vollem Mund einen schönen Tag. Gretchen hob die Teller aus und so langsam kehrte wieder Ruhe in die geräumige Wohnung in der Leipziger Südvorstadt ein.
Während ihr Hausmädchen den Abwasch erledigte und die Betten lüftete, gelang es Hannah etwas besser, sich auf ihr Buch zu konzentrieren, das sie wieder aufgenommen hatte. Als Gretchen mit den dringlichsten Aufgaben des Haushalts fertig war, setzte sie sich zu ihrer Herrin und trug ihr die neuesten Nachrichten aus den Tageszeitungen vor.
Der Diskurs wurde von dem bevorstehenden Jahreswechsel geprägt - den der Kaiser auch gleich zum Jahrhundertwechsel auserkoren hatte. Da es ja kein Jahr Null gab, hätte die Jahrhundertfeier erst mit dem Wechsel zum nächsten Jahr begangen werden müssen, wie es auch mit Ausnahme Deutschlands alle anderen Länder taten. Doch der Kaiser hatte es nun einmal per Dekret so erlassen und die Deutschen hörten auf ihren Kaiser. Seine Entscheidung zielte weniger darauf ab, das neunzehnte Jahrhundert so schnell wie möglich zu beenden - immerhin war es mit zahlreichen erfolgreichen Kriegen, die schließlich sogar zur Reichseinigung geführt hatten, ein glorreiches für Deutschland gewesen. Nein, der kaiserliche Beschluss hatte eher praktische Veranlassung: Im Januar des Jahres 1901 stand das dreißigste Jubiläum des Deutschen Kaiserreiches an. Und damit das nicht in Konkurrenz zu einer Jahrhundertwende treten musste, hatte man mal eben entschieden, in Deutschland das neue Jahrhundert dreihundertfünfundsechzig Tage eher beginnen zu lassen.
In den Zeitungen wurde nun diskutiert und mit komplizierten Rechenbeispielen um sich geworfen - doch es blieb dabei. So war man also übereingekommen, in vier Tagen bereits das neue Jahrhundert zu begrüßen. Und im Zweifelsfall konnte man im nächsten Jahr ja noch einmal groß feiern.
Nachdem Gretchen einige geistreiche Einlassungen in dieser Richtung aus den verschiedenen Magazinen und Tageszeitungen vorgetragen hatte, überzeugte sie ihre Herrin, wenigstens ein paar Schritte nach draußen zu tun.
Die Bewegung tat Hannah gut und sie genoss den Spaziergang. Vorsichtig suchten sich die beiden Spaziergängerinnen ihren Weg durch die verschneite Parklandschaft. Ab und zu spürte die blinde Dame eine Schneeflocke auf ihrer Wange, die schnell schmolz und ein nasses Gefühl auf ihrer Haut hinterließ. Hannah nahm den Schnee noch auf andere Weise wahr: Es kam ihr vor, als wäre die Welt um sie herum in Watte gepackt. Es gab kaum Echos und das Knirschen ihrer Füße auf den gefrorenen Wegen war das einzige klare Geräusch, das sie vernehmen konnte. Die Menschen, die sie passierten, sprachen ebenso gedämpft und bewegten sich gleichsam vorsichtig und...
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