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Jahrzehntelang gab es in Osteuropa außer den gemeinsamen repressiven Regimen einen sichtbaren, gemeinsamen Überdruss an der Repression und Bevormundung durch Diktatur. Und es gab einen gemeinsamen versteckten Wunsch - das war der Wunsch zu fliehen.
Ich kenne Menschen, die haben ihr Leben jahrelang auf eine Fluchtmöglichkeit projiziert. Die haben täglich an Flucht gedacht und ihr Leben darauf ausgerichtet. Zum Beispiel jahrelang an der Universität Orientalistik studiert, um später irgendwann vielleicht einmal eine Dienstreise nach Japan zu beantragen - und dann, wenn dieses Glück vielleicht eintritt, beim ersten Umsteigen am ersten Flughafen im Westen die Reise abzubrechen und Asyl zu beantragen. Andere wurden technische Zeichner, weil Geländevermessung zu diesem Beruf gehörte. Es sprach sich herum, dass manchmal in der Nähe der Grenze Gelände vermessen wird. So wählte manch einer die eventuelle Fluchtgelegenheit zum Beruf - und der Beruf blieb an ihm hängen und passte nie zu ihm und er fühlte sich ein halbes Leben lang genarrt von seiner eigenen Illusion, weil die Aussicht auf eine Flucht nie kam. Man kann sagen, Tausende Leute verbrachten ihr halbes Leben im Konjunktiv der Flucht. In diesem ganzen Rundumelend war der versteckte Fluchtgedanke ein Gemisch aus Verzweiflung und Hoffnung.
Aus dieser Zeit weiß ich, es gibt kollektive und einzelne Fluchtgründe, also allgemeine und persönliche. Und diese sind gleich stark. Aber die allgemeinen Ursachen brauchen gar keine Verstärkung durch die persönlichen, um die Flucht wahr zu machen, wenn es endlich einmal möglich wird. Die allgemeine, immer vorhandene Ursache reicht, die kollektive Aussichtslosigkeit und Verbitterung. Sie ist allen in den Kopf gewachsen. Und sie ist eine Obsession, eine Sowieso-Ursache, denn sie besagt: An jedem anderen Ort ist es sowieso besser als hier. Dieses Fazit war über die Jahrzehnte in Osteuropa selbstverständlich geworden. Es war allgegenwärtig. Mit diesem Fazit machen sich auch heute wieder Menschen auf die Flucht.
In diesem Fazit sitzt die totale Resignation. Deshalb ist es so abstrus, wenn die Flüchtenden, die heute zu uns ins Land kommen, als Invasion oder Lawine bezeichnet werden. Flucht hat nichts mit Aggression zu tun. Flucht ist in jeder Einzelheit, aus der sie besteht, defensiv.
Es war mir immer ein Rätsel, wann der allgemein vorhandene, stille, brave Fluchtgedanke zum wild riskanten und hochgradig politischen Fluchtversuch wird. Denn es gab einen springenden Punkt, an dem die ganz gewöhnlichen, duldsamen, unauffälligen, resignierten, politisch passiven Menschen ihre ganze Existenz aufs Spiel setzten und um jeden Preis flohen. Denn die rumänischen Grenzen waren zu, sie waren Todesgebiete. An der Grenze zu Ungarn schießende Soldaten, dressierte Hunde, die Flüchtende zerrissen. Und an der Grenze zu Jugoslawien waren in der Donau Schiffe, die schwimmende Flüchtlinge jagten und mit den Schiffsschrauben in Stücke rissen. Die Überlebenschancen waren nicht einmal fünfzig zu fünfzig, das Ende jeder Flucht war todesoffen. Und dennoch flohen im Laufe der Jahre Hunderttausende im Geheimen, oft mutterseelenallein. Die Kugeln, die Hunde, die Schiffsschrauben schreckten niemanden ab.
Ich arbeitete in einer Maschinenbaufabrik und immer wieder kam ein sonst pünktlicher, zuverlässiger Arbeiter eines Morgens nicht mehr zur Arbeit - und er kam dann nie wieder. Nach ein paar Tagen hörte man, er sei geflohen. Ziemlich selten hörte man ein paar Monate später hinter vorgehaltener Hand, er habe sich aus München, Paris oder Toronto gemeldet. Sehr oft war und blieb er jedoch für immer vom Erdboden verschwunden. Er war nirgends angekommen. Obwohl keiner von uns ihm die Fluchtabsicht angesehen hatte, wunderte sich niemand, wenn sein Arbeitskollege eines Tages auf die Flucht ging. Und niemand erschrak, wenn er umkam. Ein kleines geflüstertes Mitleid reichte den Kollegen. In diesem Mitleid hing sogar ein Tropfen Neid, obwohl der Geflohene tot war. Bitterer Neid, der einem selbst weh tat. Es war keineswegs Schadenfreude, sondern so eine Art von Bewunderung. So wie eine Trauermedaille für das Wagnis der Flucht. Danach wurde er nie mehr erwähnt. Es wär frivol gewesen, sich im Gespräch an seinen Tod zu erinnern. Es wäre halber Selbstverrat gewesen, weil man selber auch Fluchtgedanken hatte. Man musste die Ruhe im Kopf bewahren, die Flucht im Konjunktiv, die Hoffnung auf die bessere, eigene Gelegenheit. Und das ging am besten durchs Schweigen.
Was machten Leute vor der Flucht? Manche gingen zur Wahrsagerin. Sie wollten ihre Chancen ausloten durchs Kartenlegen oder Lesen im Kaffeesatz. Sie wollten den Zufall voraussehen, vielleicht sogar das Schicksal gnädig stimmen.
Ich hatte eine Freundin, sie war Schneiderin und Wahrsagerin. Ich ließ mir von ihr Kleider nähen. Aber ein Mal war ich zufällig bei der Anprobe, als ein Kunde zum Wahrsagen kam. Sie vertraute mir, wir kannten uns ewig lange. Sie versteckte mich im Zimmer und bat ihn an den Küchentisch. Die Zimmertür war nur angelehnt - ich durfte mithören. Ja, es ging um Flucht. Wahrsagerei muss ja glaubhaft sein, die Hauptsache war der Text der Wahrsagerin, der Kaffeesatz allein tat es nicht. Und der Text war Poesie. Er lautete ungefähr so:
»Hier seh ich zwei Füße, das bist du. Und da, wo du bist, ist etwas Grünes. Es fängt nicht hier an und hört auch nicht hier auf. Es ist groß. Schau, jetzt seh ich ganz klein deinen Rücken, es wächst dir in den Rücken hinein. Geh nicht dorthin. Geh nicht ins Maisfeld, ins Tabak- oder Rübenfeld. Geh auch nicht übers Gras, lauf nicht ins Grüne. Hier seh ich einen langen Hals, es ist ein Schwan und du kommst an einen glitzernden Fluss.« Die Schneiderin hielt inne, seufzte und fragte: »Kannst du schwimmen? Das ist die Donau.« Seine Stimme war zu leise, ich verstand seine Antwort nicht.
Ich dachte beim Zuhören, wie schön diese surrealen Bilder sind. Sprachschönheit bleibt an jedem hängen - umso mehr hängen, je weniger die Person mit Sprache zu tun hat. Ohne jede Gewöhnung an Sprachschönheit ist ihre Wirkung am größten. Aber wie kann Lügen so schön sein?, fragte ich mich. Doch das war zu einfach, denn die Schneiderin malte die Bilder mit den Augen in den Kaffeesatz, entzifferte sie und glaubte selbst an das, was sie da erzählte. Es war erfunden, aber nicht gelogen. Und diese Sprachschönheit wurde zu einer Dimension, die den Fluchtort bestimmte. Die Andeutungen wurden im Kopf zu konkreten Anweisungen, Landkarten der Flucht, Plänen mit Methoden, Uhrzeiten und geographischen Daten. Sprachschönheit wurde in die Tat umgesetzt.
Selbstverständlich habe ich die Schneiderin ein paar Wochen später gefragt, ob sie etwas weiß über den Mann, ob ihm die Flucht gelungen ist. Sie sagte, er hatte Glück, er sei jetzt in Kanada.
Heinrich Böll spricht in seinen Frankfurter Vorlesungen einmal ganz kurz von »der Suche nach einer bewohnbaren Sprache«.1 Nach dem Krieg, in einem Land, wo nicht nur die Häuser zerbombt waren, steckt für Böll in diesem Ausdruck wahrscheinlich etwas ganz Konkretes. Aber er erklärt uns mit keinem zusätzlichen Wort, was es ist. Es bleibt in der Schwebe und das Kryptische macht diesen Ausdruck so metaphorisch und stark. So überzeugend und paradigmatisch. Man kann ihn gebrauchen, wie man möchte. Die Sprachschönheit in die Tat umzusetzen kann »bewohnbare Sprache« sein, gerade beim Fliehen. Man vertraut sich der Sprache an, um von zu Hause weg, irgendwohin ins Fremde zu kommen, wo es sowieso nur besser sein kann als daheim. Und mit Böll ist man dann schnell bei Jorge Semprun, der sagt, nicht die Sprache als solche ist Heimat, sondern das, was gesprochen wird. Also der Inhalt des Gesprochenen kann »bewohnbare Sprache« sein.
Ich bringe »bewohnbare Sprache« mit Flucht in Verbindung, weil Böll die jungen Studenten auch fragt, ob sie das Land, das sie von der Kriegsgeneration geschunden übernehmen, jemals zu einem »Staat machen können, nach dem man Heimweh haben wird«.2 Für Böll war das eine Utopie. Denn er zweifelte daran. Weil »zwischen 1933 und 1939, all das, was man bis dahin noch in irgendeiner Form Deutschland nennen konnte, starb oder ins Ausland gezwungen wurde.«3 Das schrieb er 1960 in einem Brief an Jenny Aloni, die...
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