Schweitzer Fachinformationen
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Er rannte durch den dunklen Wald, gekleidet in einen hellen Jogginganzug aus Baumwolle. Er trug weder Schuhe noch Socken und stolperte durch die Nacht. Er musste stehen bleiben, um nach Atem zu ringen. Die kalte Bergluft brannte in seinen Lungen, und es roch nach Schnee. Sein Herz hämmerte so wild, dass er glaubte, es würde ihm demnächst aus der Brust springen. Von einem Moment auf den anderen war er davongelaufen. Er hatte sich nicht an die kalte Luft gewöhnen können und keine Gelegenheit gefunden, Schuhe anzuziehen. Seine Flucht war zwar geplant, aber nicht terminiert gewesen.
Er lief um nichts weniger als um seine Freiheit. Beim Atmen büsste er dafür, dass man ihm seit Wochen verwehrt hatte, auch nur kurze Distanzen über hundert, zweihundert Meter zu laufen. Auch war er länger nicht mehr an der frischen Luft gewesen, und er hatte keine Ahnung, welcher Monat auf den Kalenderblättern stand. September vielleicht. Die kalte Luft sprach eher für Oktober oder November.
Eine gefühlte Ewigkeit hatte er im steilen Gelände auf seinen nackten Füssen zurückgelegt. Über Wiesen und durch einen abfallenden Bergwald war er eben noch gerannt. Die Art der Landschaft und die Bauweise eines Viehstalles, an dem er vorbeigeeilt war, verrieten ihm, dass er sich in den Alpen befand. Auf der Alpensüdseite. Wo genau, wusste er nicht. Er lief einfach nur weg vor denen, die ihn durch die Nacht jagten. Ganz genau wusste er dagegen, wer seine Verfolger waren. Sie hatten ihn lange Zeit gefangen gehalten und «Nummer 17» genannt - auf Italienisch und auch auf Englisch hatten sich diese Männer unterhalten. Zwischen einigen Worten und Befehlen auf Englisch hatte er immer wieder einen Dialekt gehört. Tessiner Dialekt. Meist aber waren seine Bewacher wortkarg gewesen, und sie hatten Sturmmasken getragen, sodass er deren Gesichter nie hatte sehen können. Sie jagten ihn jetzt durch den Wald. Er wusste nicht, wie viele Verfolger er hatte. Klar war ihm hingegen, dass sie Meter für Meter zu ihm aufholten, und er hörte hinter sich im Wald immer wieder das Bellen eines Hundes.
Ein Fährtenhund.
Seine Füsse pochten vor Pein. Beim Rennen war er etliche Male auf scharfkantige Steine und trockene Äste getreten, und das Brennen in seinen Fusssohlen war kaum auszuhalten gewesen. Jeden Schmerzstoss hatte er still in sich hineingefressen. Den Hass auf diese Männer hätte er laut herausschreien können. Doch er musste sich zusammenreissen.
Ihm war klar, dass er in diesem Gelände nicht mehr weit kommen würde. Er brauchte dringend eine Pause. Er musste bald ein Haus oder ein Fahrzeug erreichen und Unterschlupf finden. Nur so hatte er eine reelle Chance, zu entkommen. Zuerst musste er einen Weg finden, wie er den bellenden Fährtenhund irreführen konnte. Wie bewerkstelligte man so etwas?
Er hatte keine Ahnung.
Er stand immer noch um Atem ringend im Wald, die Hände auf seine Knie abgestützt. Er schaute an sich hinunter und erkannte, was ihm jeden Moment zum Verhängnis werden konnte. Sein Jogginganzug. Der Baumwollstoff war derart hell, dass er im Mondlicht leuchtete wie ein weisses Blatt Papier.
Hastig streifte er Sweatshirt und Hose ab und stand nun nackt im Wald. Der eisige Nordwind fühlte sich noch kälter an, und sein Körper zitterte.
Im Wald über ihm ertönte wieder das Bellen des Hundes. Seine Verfolger waren nahe. Zu nahe. Vielleicht noch hundert Meter, dann würden sie bei ihm sein.
Einen Augenblick lang wurde er den Gedanken nicht los, der kalte Wind trage den sauer riechenden Schweiss seiner Verfolger und den abstossenden Mundgeruch des Hundes zu ihm. Dann schlugen ihm diese Reize derart intensiv in die Nase, dass er glaubte, seine Verfolger hätten ihn bereits umringt. Es waren grässliche Gerüche, die ihn beherrschten. Ihm wurde schwindlig. Derartige Sinneswahrnehmungen waren ihm nicht fremd. Seit einiger Zeit hatte er immer wieder so intensiv wahrgenommen. Wie aus Eimern gegossen überkam es ihn, und genauso schnell verschwanden diese Wahrnehmungen jeweils wieder. Nicht zum ersten Mal vermutete er, erkrankt zu sein. Er wusste, dass kein Mensch derart intensiv riechen konnte. Es gab keine andere Erklärung. Das war eine Veränderung. Eine Krankheit.
Der Mundgeruch des Hundes schnürte ihm den Hals zu. Die Eingeweide zogen sich in ihm zusammen, und saurer Speichel ergoss sich in seine Mundwinkel. Nackt im Wald stehend übergab er sich; viel kam nicht aus ihm heraus. Sein Magen war leer, und so würgte er bloss Luft und etwas Magensäure hoch.
Er richtete sich abrupt auf und rannte weiter durch die Nacht. Trotz der unerträglichen Schmerzen in den Füssen und dem Klemmen im Magen kämpfte er gegen das Bedürfnis an, sich hinzusetzen und auszuruhen. Er wollte nicht länger Nummer 17 sein. Er wollte frei sein. Ihm war es egal, wohin er dazu laufen musste, und sogar scheissegal, dass er nackt war. Er wollte nur weg von hier. Der einzige Gedanke, der ihn antrieb, war, sich immer leicht talwärts zu halten. Seine Kräfte reichten nicht mehr aus, um bergan zu laufen. Seine Beine waren schwer wie Blei und reagierten nur verzögert auf die Befehle aus seinem Kopf. Im rechten Oberschenkel, der sein Körpergewicht auf der Bergseite tragen musste, bahnte sich ein Muskelkrampf an.
Unkontrolliert stolperte er über Äste und Steine. Er versuchte, Tempo zu gewinnen, obwohl er todmüde war.
Nach weiteren zwei- bis dreihundert Schritten hörte er das Rauschen eines Bergbaches, das mit jedem Schritt anschwoll.
Ein Bach ist gut. Im Wasser bricht meine Fährte ab.
Kurz bevor er den Bergbach erreichte, trat er auf eine Steinplatte, die lose auf dem Waldboden lag. Sie kratzte über andere darunterliegende Steine, gab nach und rutschte talwärts. Sein linkes Bein verlor den Halt, und seinem rechten Bein fehlte die Kraft, um sein Körpergewicht aufzufangen.
Er fiel talwärts. Mit Oberkörper und Gesicht schlug er hart auf dem Waldboden auf. Schmerz schoss durch seinen Körper, und er roch den Wald, als präsentierte sich dieser ihm auf einem Gemälde mit leuchtenden Farben. Gelbe Nadeln von Lärchen. Karge Erde mit einer Eisennote. Trockene Flechten auf Baumrinde, die modrig rochen. Und die Haare eines Tieres, das er nicht sehen konnte. Während diese Bilderexplosion seine Sinne vereinnahmte, rutschte er talwärts in den dunklen Wald ab. Zuerst langsam, dann immer schneller. Er überschlug sich mehrmals.
Zehn Meter.
Zwanzig Meter.
Dreissig Meter.
Immer weiter stürzte er hinunter.
Es war unmöglich, sich an etwas festzuhalten. Seine Arme schlugen gegen den Waldboden und die kahlen Äste von Stauden. Sein ungeschützter Körper schrammte über Geröll und Dreck. Immer wieder schlug er mit Kopf und Oberkörper gegen Bäume.
Ein paar Meter weit schleuderte es ihn durch ein steiniges Bachbett. Eiskaltes Bergwasser klatschte gegen seinen nackten Rücken, und Steine rammten seine Rippen.
Er überschlug sich so lange, bis er nicht mehr wusste, wo der Himmel und wo die Erde war. Nach einer gefühlten Ewigkeit schlitterte er auf dem Rücken in flacheres Terrain. Die Schwerkraft verlor ihre Wirkung. Sein Fall verlangsamte sich, und er blieb benommen in einer abschüssigen Bergwiese liegen.
In seinen Armen und Beinen pochte dumpf sein Herzschlag. In seinem Körper hatte sich ein alles überziehendes Taubheitsgefühl ausgebreitet. In seinem Kopf hörte er ein Surren, und im Mund spürte er den metallenen Geschmack des eigenen Blutes.
Er roch Gras und den Schnee, der auf den Berggipfeln lag. Eine weitere Geruchslawine überrollte ihn. Doch dieses Mal war alles anders. Zum ersten Mal seit langer Zeit kamen in ihm Gefühle der Geborgenheit auf. Er roch Asphalt. Frischen Asphalt. Für einen Moment glaubte er, dass mitten in der Nacht eine Gruppe von Tiefbauarbeitern den Deckbelag einer Strasse durch die Landschaft zog. Der Geruch von Teer versetzte ihn für einen kurzen Augenblick in seine Kindheit zurück. Er und Daniel, sein älterer Bruder, hatten am Gartenzaun ihrer Eltern gestanden und Strassenarbeitern zugeschaut, wie diese mit langstieligen Teerrechen und in verschwitzten Kleidern den Auftritt der heranrollenden Walze vorbereitet hatten. Der schwarze Teer dampfte, und der durchdringende Duft von Bitumen war allgegenwärtig. Die Ausläufer eines Sommergewitters liessen Regentropfen auf den heissen Teer fallen und aufdampfen, als ob sich ein schwarzer Magmastrom im Meer abgekühlt hätte.
Orientierungslos versuchte der Mann, seinen geschundenen Körper im Gras aufzurichten. Er konnte nicht aufstehen. Ihm fehlte die Kraft dazu. Er fiel wieder hin und musste erkennen, dass er mit Händen und Füssen den Untergrund nicht mehr spürte. Sein Tastsinn hatte versagt.
Er begann auf allen vieren vorwärtszukriechen. Unbeholfen und langsam.
Im Mondlicht erkannte er vor sich eine verschwommene weisse Strassenmarkierung, die sich in ein Doppelbild aufteilte und dann wieder zu einer einzelnen Linie verschmolz. Alles um ihn herum drehte sich, als würde er noch immer fallen und sich überschlagen.
Irgendwo bellte der Hund seiner Verfolger, weit weg.
Er kroch auf dem Asphalt voran und folgte der weissen Strassenmarkierung. Es waren seine Instinkte, die ihn leiteten. Klare Gedanken konnte er nicht mehr fassen. Nur eine schwache Stimme war in seinem Kopf, die ihn antrieb, der Strasse zu folgen.
Mit letzten Kräften zog er seinen geschundenen und schmutzigen Körper über den Asphalt. Mit jedem Meter, den er sich vorwärtsschleppte, wurde die Nacht um ihn herum dunkler und stiller. Noch einmal nahm er intensive Gerüche wahr. Felsen mit feuchtem Moos. Er assoziierte das mit der Farbe Ocker, wieso, wusste er nicht. Diese Farbe war vor seinem inneren Auge aufgetaucht. Neben ihm tropfte Wasser rhythmisch in eine...
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