Kapitel 2
Ich trat auf weichen Rasen, in dem meine Füße wie in einem Langflorteppich versanken. Leichter Stoff umschmeichelte meine Knöchel. Die Sonne brach durch die Baumkronen am Wegesrand. Ich raffte mein weißes Kleid und rannte zum breiten Weg zwischen den Reihen aus alten Virginia-Eichen, an denen Louisianamoos herabhing und im sachten Wind wehte.
Kleine Steinchen drückten sich beim Betreten des unbefestigten Weges in meine Sohlen. Es störte mich kaum. Ich hatte ein Ziel, nur welches? Dieses Ziel rief nach mir, aber ich wusste nicht, wohin ich sehen sollte.
Langsamen Schrittes ging ich den Weg hinauf. Direkt vor mir entdeckte ich ein Gebäude. Zwei gewaltige Säulen stützten einen Balkon, unter dem die Stoffbahnen der weißen Vorhänge aus einer offenen Flügeltür wehten. Den Fuß einer sich nach oben verjüngenden Steintreppe säumten zwei Statuen. Sie sahen aus wie kleine Löwen. Als ich näherkam, erkannte ich in den Löwen Hunde. Rottweiler!
Ich betrat mit blanker Fußsohle die unterste Stufe.
Plötzlich verdunkelte sich der Himmel. Mein Blick glitt zu der Hundestatue zu meiner Rechten. Sie schien lebendig zu werden. Der Hund drehte seinen Kopf und mit einem Mal entdeckte ich einen Zweiten, der aus dem Rumpf wuchs.
Mein Herz schlug in wildem Takt. Die Atmosphäre kippte. Aus dem freundlichen Tageslicht wurde etwas Undefinierbares. Wie bei einer Sonnenfinsternis, die der Welt sämtliche Farbe raubte. Ich raffte mein Kleid und wollte wegrennen, da stieß eine Hand aus der Erde hervor. Sie packte mein Fußgelenk und zerrte daran, sodass ich den Halt verlor und hinfiel. Mein Fuß wurde noch immer festgehalten. Ich drehte mich um. Eine zweite Hand schoss aus der Erde. Sie griff mein Handgelenk und etwas glitt über meine Brust. Ich spürte Druck von oben und das Nachgeben des Erdreichs unter mir.
Wie wild strampelte ich, um mich aus der Umklammerung zu befreien. Wohlwissend, dass ich andernfalls immer tiefer in die Erde gedrückt werden würde. Doch wie sehr ich mich auch anstrengte, es gelang mir nicht.
Erde gelangte in meinen Mund - kleine Bröckchen, die meinen Rachen blockierten. Ich bekam keine Luft. Der Erstickungstod meldete sich mit leisem Knistern in meinem Kopf. Meine pulsierenden Adern drohten zu platzen. Mit letzter Kraft versuchte ich, irgendetwas mit der freien Hand zu packen, an dem ich mich herausziehen könnte.
»Wach auf!«, rief Vincent.
Ich schreckte hoch und sprang blitzartig aus dem Bett.
Er drehte sich auf den Rücken und zog die Decke bis zu den Zähnen hinauf. »Du hast nur schlecht geträumt. Komm wieder ins Bett. Es ist gerade mal 3:00 Uhr.«
Das Herz drohte mir aus der Brust zu springen. Geträumt? Für einen Traum fühlte sich das Ganze selbst jetzt noch viel zu echt an. Mein staubtrockener Mund war erfüllt von dem Geschmack nach Erde und ich spürte noch immer den Druck auf der Brust.
»Ich muss was trinken«, krächzte ich und trat den Weg zur Tür an. Mein Knöchel schmerzte, als wäre ich umgeknickt.
»Nur nicht wieder wecken«, murmelte Vincent und drehte sich zur Seite.
Wunderbar, dachte ich - lass mich doch allein!
Im Flur schaltete ich das Licht ein und entdeckte einen roten Striemen am Handgelenk. Im Traum hatte mich die Hand genau an dieser Stelle gepackt. Offenbar hatte ich mich so sehr in meiner dünnen Decke verknotet, dass mein Kopf nichts Besseres zu tun gehabt hatte, als den Schmerz einzubauen.
Das Handgelenk reibend humpelte ich zur Küche und nahm ein Glas aus dem Hänger. Während ich das Wasser einlaufen ließ, drängte sich mir die Erinnerung an das Gebäude auf. Wenn mich nicht alles täuschte, hatte es dieselben Säulen besessen wie das Haus auf dem Foto.
Kühles Nass lief über meine Hand. Schnell drehte ich den Hahn ab, kippte etwas Wasser aus dem Glas und führte es zum Mund, um meinen Durst zu stillen. Eigentlich sollte ich wieder ins Bett gehen. Aber mich ließ die Erinnerung an den furchtbaren Traum einfach nicht los. Hatte ich von Vincents Schnäppchenhaus geträumt? Dem wollte ich nachgehen.
Wo hatte er die Unterlagen nur hingelegt? Meine Suche führte mich ins Wohnzimmer. Doch auf dem Couchtisch, wo sonst immer alle Unterlagen zuerst landeten, lagen sie nicht.
Ich versuchte, den Abend zu rekonstruieren. Wir waren wortlos aus dem Auto gestiegen und hatten ebenso still die Wohnung betreten. Ich war ins Bad gegangen, und als ich zurück ins Schlafzimmer kam, hatte er schon im Bett gelegen.
Das Sakko!
Und tatsächlich befand sich der Umschlag in seiner Jacke. Erleichtert humpelte ich mit meiner Beute ins Wohnzimmer und schaltete das Deckenlicht ein. Wie ein nasser Sack ließ ich mich auf das Sofa fallen und zog hastig den Batzen aus dem Umschlag.
Die Bilder breitete ich sorgfältig auf dem Tisch aus und ließ meinen Blick darüber schweifen. Ich sah Zimmer, an deren Wänden die Tapeten in Fetzen herunterhingen. Die Küche, der man ansah, dass sie lange nicht mehr genutzt worden war. Spinnweben spannten sich über das Spülbecken. Warum hatte er solche Bilder gemacht? Dachte er etwa, mich mit diesem Gruselhaus zu beeindrucken?
Ich betrachtete die Fotos zu meiner Rechten. Und dann sprang mich die entscheidende Aufnahme regelrecht an! Der Eingang. Dieses Bild zog mich auf ungewöhnliche Weise in seinen Bann. Tief in meinem Inneren sträubte ich mich gegen den Gedanken, es zu berühren. Doch ich konnte mich nicht gegen die plötzliche Sehnsucht wehren, es doch zu tun. Zögernd streckte ich meine Hand danach aus. Noch bevor mein Finger eine Verbindung zu dem Papier herstellte, spürte ich eine Elektrisierung - wie ein leichter Stromschlag schoss sie bis in meine Zehen hinab.
Normalerweise wäre ich jetzt zurückgeschreckt. Zu meiner Verwunderung tat ich es nicht. Stattdessen fühlte ich ein inniges Verlangen danach, tief in die Geheimnisse dieses Hauses einzutauchen.
Es war dieselbe Treppe wie in meinem Traum. Allerdings fehlten die Hunde am Treppenfuß. Das Haus auf dem Foto wirkte älter. Die Fenster zum Balkon über der Eingangstür waren mit Brettern vernagelt - genauso wie die Flügeltür darunter. Die Fassade hatte einen grünbraunen Ton angenommen und vor dem Haus stand ein Brunnen. An diesen konnte ich mich nicht erinnern. Nein, im Traum hatte es den nicht gegeben. Allerdings stand er genau an der Stelle, an der ich in die Erde gedrückt worden war. Was hatte das zu bedeuten?
Vielleicht nur, dass ich eine rege Fantasie besaß.
Auf dem Bild des Hauses fiel mir ein Fleck auf. Es war ein großer schwarzer Schatten am oberen Fenster neben dem Balkon. Spiegelte sich ein Baum im Glas wider? Die Bäume trugen Blätter und die Spiegelung wäre ungleichmäßig gezackt. Diese hier war aber ganz glatt, soweit ich das auf dem Foto erkennen konnte.
Mir fiel mein Handy ein. Ich stand auf und suchte nach meiner Clutch. Wo hatte ich sie nur hingelegt? Der Schmerz in meinem Fuß meldete sich bei jedem Auftreten. Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte ich ins Badezimmer, wo ich nach einer Bandage suchte. Da entdeckte ich auf dem Badewannenrand die Clutch. »Zwei Fliegen mit einer Klappe«, murmelte ich, nahm den Verband aus dem Schränkchen und setzte mich auf den Toilettendeckel.
Jetzt erst sah ich, dass dieselben Striemen wie an meinem Handgelenk auch meinen Fußknöchel schmückten. Schon die kleinste Berührung tat höllisch weh. Sorgfältig legte ich die Bandage an und verschloss sie mit zwei Klemmen. Jetzt konnte ich wenigstens auftreten.
Mit der Clutch in der Hand kehrte ich zurück ins Wohnzimmer. Das Foto lag in der Mitte der ausgebreiteten Bilder. Noch immer fesselte es meine Neugier. Dieser Schatten. Ich hatte ihn auch im Traum gesehen.
Warum faszinierte es mich nur so?
Mit einem gezielten Griff beförderte ich mein Handy aus der Clutch und schaltete die Kamera ein. Ich machte rasch ein Foto vom Foto und zoomte das Fenster näher heran. Tatsächlich sah ich den Schatten. Er war klar begrenzt und ähnelte dem eines Menschen. Stand da etwa jemand? Ich zoomte noch näher heran und erhöhte den Kontrast ein wenig.
Plötzlich bewegte sich der dunkle Umriss. Schnell zoomte ich wieder heraus. Doch den Schatten konnte ich nicht mehr sehen. Wo war er hin? War das nur eine optische Täuschung gewesen?
Das musste am Schlafmangel liegen. Wahrscheinlich war ich einfach urlaubsreif. Trotz dieser Erkenntnis ließ mich mein Erlebnis nicht los. Zur Sicherheit machte ich ein neues Bild vom Foto und betrachtete das vergrößerte Fenster. Die vergilbte Gardine hing friedlich im Inneren. Es gab keine Spur eines Schattens oder einer Spiegelung.
Ein Gähnen kündigte sich an. Es zu unterdrücken, gelang mir nicht. Ich war müde. Aber ich hatte so schlecht geträumt, dass ich die Angst vor einem weiteren Albtraum nicht abschütteln konnte. Mein Blick wanderte zu dem Handydisplay: 5 Uhr 30. Wo war die Zeit nur hin? Nie und nimmer hatte ich mehr als zwei Stunden über diesem einen Bild verbracht.
Unmöglich! Und doch hörte ich den Wecker meines Mannes klingeln. Der monoton surrende Ton wurde unterbrochen.
»Schatz?«, rief er.
So ein Mist! Die Bilder! Schnell klaubte ich sie zu einem Stapel zusammen und schob diesen in den Umschlag zurück. Ich wollte nicht von ihm dabei ertappt werden, wie ich an mir selbst zweifelte.
»Ich mache Kaffee!«, bediente ich mich einer Notlüge.
Er raunte und ich hörte die Dusche rauschen.
Auf leisen Sohlen schlich ich in den Flur, um den Umschlag zurückzulegen. Ich streckte gerade meine Hand nach der Jacke aus, da hörte ich seine Stimme ganz dicht an meinem Ohr: »Erwischt!«
Sein...