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Die Industrialisierung zog die Menschen vom Land in die Städte, so dass diese ihre Einwohnerzahlen vielerorts in nur wenigen Jahrzehnten vervielfachten und sich in der Fläche ausdehnten. Das rasante städtische Wachstum nahm unterschiedliche Formen an, wie die Beispiele von London und Paris verdeutlichen.
In London waren private Investoren die treibenden Motoren der Stadtentwicklung über die Grenzen des alten Stadtkerns hinaus.27 Dabei lässt sich ein wiederholt ablaufendes Muster erkennen. Zunächst suchten im frühen 19. Jahrhundert die Eliten das Weite. Der junge Theodor Fontane reiste in den 1840er und 1850er Jahren mehrfach nach England. Er arbeitete dort als Journalist und erwies sich als präziser Beobachter des sozialen Wandels seiner Zeit. So berichtete er in Ein Sommer in London (1852/54) auch von den Vororten, in die sich die Reichen zurückgezogen hatten:
Mortlake ist eine jener hundert grünen Oasen, die nach allen Seiten hin die große London-Wüste umzirkeln. Dorthin eilt der City-Kaufmann, um nach der Hitze des Tages und Erwerbs in frischer Luft sich satt zu trinken; dort, fern dem lauten Strom der Menschen, freut sich sein Auge am stillen Themsestrom; und hinter sich den Weltverkehr und das Spiel der Spekulation, wirft er sich hier in den Rasen seines Parks - mit seinen Kindern zu spielen. [.] Die City ist ein Einerlei, aber hier lebt Mannigfaltigkeit und ihr Reiz. Prachtvoll erhebt sich die Villa des reichen Handelsherrn.28
Nicht nur den Spitzen der Gesellschaft erschien die grüne Heiterkeit verlockend. Langsam, aber stetig wuchs mit der Industrialisierung die Finanzkraft der Mittelschicht und später auch der besser ausgebildeten Teile der Arbeiterschaft. Hinzu gesellten sich technische Durchbrüche im Bereich der industriellen Produktion von Baumaterialien. In dieser Lage erkannten Unternehmer und Spekulanten ihre Chance. Neben den beschaulichen Zufluchtsorten der Wohlhabenden am Stadtrand oder in den Orten ringsum der City entstanden schon bald jene von der Mittelschicht bewohnten Meere aus Ziegelstein, die London bis heute prägen. »Ganze Stadtteile«, beobachtete Fontane, »bestehen aus Häusern, die sich so ähnlich sehn wie ein Ei dem andern.«29
Die Reichen sahen sich nun durch die Neuankömmlinge in ihrer Ruhe gestört und um zentrale Distinktionsmerkmale gebracht. Sie taten das Naheliegende und zogen noch ein Stück weiter hinaus. Mit wachsendem Wohlstand drangen später auch Teile der Arbeiterschaft in die neu erbauten Viertel, was wiederum Gruppen der Mittelschicht veranlasste, ebenfalls weiterzuziehen.
Wie sehr Fragen der Anerkennung und gesellschaftlichen Stellung schon die ersten Jahrzehnte des Pendelns prägten, verdeutlicht exemplarisch ein Schriftwechsel von Londoner Polizisten mit ihren Vorgesetzten aus den Jahren 1860/61. Die Polizisten baten um eine Aufhebung der Residenzpflicht, also der Vorschrift, im Distrikt der eigenen dienstlichen Tätigkeit auch wohnen zu müssen. Sie verwiesen dabei nicht nur auf die horrenden Mietpreise und das Problem, dass selbst für viel Geld nur heruntergekommene Zimmer zu bekommen waren, in denen sie auf engstem Raum mit der ganzen Familie leben mussten. Die Polizisten führten vielmehr explizit auch Fragen bürgerlichen Ansehens an: Sie »schämten« sich für ihre Wohnverhältnisse und fühlten sich dadurch degradiert, dass sie »mit Personen von schlechtem Ruf im selben Haus« wohnen müssten.30 Ohne die Residenzpflicht könnten sie »kleine, geeignete Häuser« außerhalb der Stadt zum selben Preis mieten und so ihren Familien die »gebotene Achtung vor dem, was sich schickt« vermitteln. Die Polizisten wollten Pendler werden.
Der zuständige Superintendent hielt von der Bitte wenig. Er beklagte Verluste an Zeit wie an Möglichkeiten zur sozialen Disziplinierung. Würde die Bitte akzeptiert, verlöre man auf einen Schlag jede Kontrolle über die Polizisten, wenn sie gerade nicht im Dienst seien. Auch könne man die Untergebenen im Krankheitsfall nur schlecht besuchen. Solche Besuche seien jedoch notwendig, um sicherzustellen, »dass der Kranke alles in seiner Macht Stehende zur Wiederherstellung seiner Gesundheit unternimmt«.31 Um die Wohnungsprobleme zu lösen, empfahl der Superintendent stattdessen die Errichtung eigener Wohnhäuser für die Polizei innerhalb der City.
Die kleine Episode ist aufschlussreich. Pendeln ermöglichte eine räumliche Trennung zwischen Wohnort und Arbeitsstätte. Wer pendelte, konnte sich der sozialen Überwachung durch Arbeitgeber und Vorgesetzte jenseits der Arbeitszeiten entziehen. Das Pendeln verstärkte damit Trends der räumlichen Distanzierung sozialer Gruppen, die bereits im 18. Jahrhundert eingesetzt hatten, wie der Historiker Walter Demel mit Blick auf den großbäuerlichen Haushalt erläutert:
Beispielsweise scheint sich die Tischgemeinschaft und abendliche Gemeinschaftsarbeit in Hallenhäusern holsteinischer Hufner mit der Einrichtung einer »guten Stube« allmählich aufgelöst haben. Durften die Dienstboten mit der »Kernfamilie« nicht mehr zusammen essen und wurden sie in eigenen Gesindekammern untergebracht, fühlten sie sich freilich auch ungebundener.32
Aus dem Wunsch, der Sozialkontrolle der Arbeitgeber und Herren zu entgehen, wurde rasch eine Statusfrage. Wer in die Vororte zog, bewies, dass er nicht nur materiell, sondern auch in seiner Lebensgestaltung hinreichend unabhängig war. So gesehen erhielten die frühen Pendler einen Vertrauensvorschuss seitens der Gesellschaft. Man traute ihnen zu, immer wieder pünktlich zur Arbeit zu erscheinen und im Privatleben die guten Sitten auch dann hochzuhalten, wenn der Dienstherr nicht hinsehen und nicht zurechtweisen konnte.
London wuchs so im 19. Jahrhundert durch eine vorangehende Elite und eine nachziehende Mittelschicht sowie eine zunehmend besser situierte Arbeiterschaft in Wellen über sich und über die bestehenden politischen Grenzen hinaus. Verschiedene Strukturreformen waren die Folge, von der Gründung der Metropolitan Police 1829, die bis dahin lokal organisierte, kleinere Polizeieinheiten zusammenführte, bis hin zum London City Council 1889, einer Verwaltung für den gesamten Londoner Ballungsraum. Damit wurden zuallererst die Grundlagen für eine organisierende Stadtpolitik geschaffen, die so lange kaum möglich war, wie frisch erbaute Teile der Metropole in anderen Grafschaften lagen und somit anderen Rechtsbezirken zugeordnet beziehungsweise verschiedenen, teils konkurrierenden politischen Gremien unterstellt waren.
Im Zentrum der Stadt blieben die pulsierenden Geschäftsviertel und, teilweise in unmittelbarer Nachbarschaft, Slums von unfassbarer Armut zurück, etwa rund um die großen Industrieanlagen des verschrienen Londoner East End. Der US-Schriftsteller Jack London lebte dort im Jahr 1902 für einige Wochen und beschrieb seine Erlebnisse später in The People of the Abyss (1904). Die Zustände der »Menschen am Abgrund«, die London schilderte, deckten sich in vielen Hinsichten mit dem Elend der Arbeiter in Manchester, das Engels sechzig Jahre zuvor beobachtet hatte. Die Kinder der Gegend starben »wie die Fliegen«, aus Verzweiflung begangene Suizide waren ebenso an der Tagesordnung wie Begegnungen mit Frauen jeden Alters, die tagsüber auf den Kirchhöfen schliefen und sich nachts »für drei Pennys, oder zwei, oder einen Laib faden Brots« prostituieren mussten.33
Anders verlief die Entwicklung in Paris. Die dortige Ausgangslage beschreibt der Historiker David Jordan so: »Vom Ende des 1. Kaiserreichs bis zum Beginn des 2., von 1815 bis 1853, wankte das alte Paris unter dem wachsenden sozialen, ökonomischen und politischen Druck und brach schließlich zusammen.«34 Die Stadt füllte sich als unangefochtenes Zentrum Frankreichs schon seit dem 18. Jahrhundert immer weiter, verdichtete sich »zu einem wirren, überfüllten, chaotischen Dschungel«.35 In den zu großen Teilen noch aus dem Mittelalter stammenden Gebäuden und in den alten, oft noch engen und verwinkelten Gassen häuften sich die sozialen Konflikte und Krawalle. Mehrfach wurde die Stadt in diesen Jahrzehnten von katastrophalen Choleraepidemien heimgesucht.
In Reaktion auf diese Lage erhielt die französische Hauptstadt nach 1850 eine Radikalkur. In enger Absprache mit Kaiser Napoleon III. baute der Seine-Präfekt Georges-Eugène Haussmann die Stadt grundlegend um. Er schuf das einheitliche Stadtbild der Balkone...
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