Schweitzer Fachinformationen
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Im Herbst 1998 hatten wir eine Themenwoche in der Schule. Es ging um unsere Heimat, also um Leipzig. Und dazu gehörte auch ein Ausflug in das Alte Rathaus am Markt. Dort gibt es ein Modell vom historischen Leipzig, noch mit der alten Burg, da, wo jetzt das Neue Rathaus steht. Ich war hin- und hergerissen. Einerseits fand ich das Modell nicht sonderlich gelungen. Es gab zwar eine Menge Häuser und Bäume auf der Platte, allerdings vermisste ich die Details. Aber es war halt auch verdammt groß. Dieses Modell war beeindruckend. Ich wollte auch so etwas haben. Also ging ich auf dem Heimweg von der Schule zu dem Spielwarenladen von Herrn Marquart und schaute mir die Modelle an. Ein Modell von Leipzig zu bauen kam für mich nicht in Frage. Ich fing bescheiden an und kaufte mir einen heruntergesetzten Formel-1-Rennwagen. Einen Williams von 1994. Das Auto, mit dem sich Ayrton Senna totgefahren hatte. Im selben Jahr wurde Schumacher zum ersten Mal Weltmeister.
Der Modellbau ist mir aus meiner Kindheit erhalten geblieben. Nächtelang kann ich in meiner Wohnung sitzen und die Teile zusammensetzen, sie bekleben und lackieren und dann für eine gewisse Zeit lang ausstellen, bis ein anderes Modell den Platz braucht. Dann kommt das alte Modell in eine Kiste, und diese Kiste stelle ich zu den anderen, die sich im Flur stapeln.
Nur wenige Sets schaffen es, über mehrere Jahre oder sogar für immer in meinen Vitrinen zu stehen. Der 94er Williams zum Beispiel, so schlecht gemacht, wie er auch ist, er hat immer den besten Platz. Und das Auto, an dem ich gerade seit drei Abenden arbeitete, würde mehr sein als irgendein Modell.
»Ich weiß gar nicht, was du daran findest«, sagte Raik, als ich ihm von dem Wagen erzählte.
»Was denn?«, sagte ich. »Das ist was Besonderes, und genau mit so einem Auto sind wir durch Europa gefahren.«
»Wie kann das was Besonderes sein? Ich war mit dem Leichenwagen schon auf Cres. Weißt du, wo das ist? Das ist in Kroatien.«
»Willst du mich verarschen? Ich habe dir doch sogar die Route rausgesucht und dir gesagt, dass du nicht durch die Tschechei fahren sollst.«
»Warst du das? Kann sein. Ich dachte, Markus war das.«
»So weit denkt Markus nicht, der hätte dich da durchfahren lassen.«
»Ist doch egal.«
»Nein, ist es nicht. Das war die richtige Entscheidung, die Tschechen hätten nachts die Karre geklaut, und dann hätten wir die Scheiße gehabt. Ging doch mal einem Kollegen aus Berlin so.«
»Wem?«, Raik sah auf.
»Kenne ihn nicht persönlich. Habe ich nur gehört. Aber die Polen haben dem die Karre mehr oder weniger unter dem Arsch weggeklaut, und da war ein kleines Mädchen drin. Ein Mädchen! Zehn Jahre alt. Und der Bestatter hält zum Tanken an und geht pissen. Und als er wieder rauskommt, ist die Karre weg. Und dann steht er da, ganz allein in Polen.«
»Fuck. Wieso in Polen?«
»Keine Ahnung. Die Leute sterben doch überall. Was war mit der Leiche auf Cres?«
»Ach, der war voller Krebs und wollte es noch mal schön haben.«
»Siehst du.«
»Aber ein zehnjähriges Mädchen?«
»Ich denke mal, dass die Eltern dabei waren, was weiß ich. Jedenfalls haben die den Wagen dann auf einem Maisfeld bei Grünberg in Schlesien gefunden. Zwei Tage später. Der Wagen stand die ganze Zeit in der Sonne, und die Kleine war nur noch Matsch. Dass du nach Kroatien musstest, war schon heikel genug. Keiner weiß, wie die da drüben ticken. Wenn es nach mir gehen würde, würden wir diese Osteuropafahrten nicht mehr machen. Irgendwann müssen wir noch Tote aus Bosnien holen. Na prost Mahlzeit.«
»Ich würde wieder hinfahren«, sagte Raik und lehnte sich zurück. Dann sagte er: »Ist ja auch egal, aber warum macht man das?«
»Keine Ahnung, was die sich dachten, wollten wohl mal eine Runde mit einem Leichenwagen rumheizen. Oder die Karre zerlegen und dann verticken. Keine Ahnung. Aber dann haben die hinten reingeschaut und kalte Füße bekommen.«
»Das meine ich nicht.«
»Was meinst du denn dann?«
»Modellbau, warum macht man das? Mach doch mal was Sinnvolles.«
»Was ist denn sinnvoll? Zum Fußball gehen und den Chemikern die Fresse einhauen?«
»Ich bin dabei«, sagte Markus, den ich gar nicht reinkommen gehört hatte.
»Was interessiert mich Chemie? Ich gehe zu RB.«
Markus und ich sagten nichts. Markus war Lokfan, mir war das eigentlich egal. Bei Lok hingen mir zu viele Nazis und bei Chemie zu viele linke Spinner rum. Aber deswegen zu Red Bull? Dann lieber zu Lok.
»Da gibt es eben nicht auf die Fresse«, rechtfertigte er sich, und das Gespräch erstarb. Diese Unterhaltung hatten wir alle schon zu oft gehört, um sie noch weiterführen zu müssen.
»Wo schaut ihr heute das Spiel?«, versuchte Raik das Gespräch wiederaufzunehmen.
»Den Mist tue ich mir nicht an, vor dem Halbfinale braucht keiner ankommen«, sagte Markus.
»Was bist du denn für ein Fußballfan? Mich anquatschen wegen RB und dann nicht mal das Spiel gegen Frankreich schauen wollen? Was ist das denn?«
»Du kannst mich mit deinem Red Bull mal in Ruhe lassen. Und Länderspiele schaue ich mir an, wenn dort wieder Nationalmannschaften auflaufen.«
»Hä?«
»Siehst du das, Heiko? Der kapiert gar nichts. Alter, bei den Franzosen spielt Pogba mit. Sieht der für dich aus wie ein Franzose?«
»Das hängt mit den Kolonien zusammen«, sagte ich.
»Aus welcher Kolonie kommt denn Özil? Deutsch-Südosteuropa?«
»Das ist doch vollkommen Wurst. Es geht um Fußball!«, sagte Raik.
»Habt ihr eigentlich nichts zu tun?«
»Nichts los heute. Nur die beiden Leichen heute Morgen, dann eine ganze Weile nichts, und vor einer Stunde kam noch der Rentner aus dem Altenheim in Miltitz rein. Den haben wir schon in der Kühlung, und am Montag geht der ins Krematorium. Da fehlt noch der Personalausweis, der ist irgendwo verlorengegangen«, sagte ich und zündete mir eine Zigarette an. Markus winkte mit der Hand, und ich warf ihm die Schachtel rüber.
»Warum habt ihr ihn nicht gesucht?«
»Den muss die Tochter haben. Zu Hause.«
»Und warum seid ihr dann nicht bei der gewesen?«
»Die lebt in Ingolstadt.«
»Da war ich letzte Woche«, sagte Markus und zog an seiner Zigarette.
»Wo bist du eigentlich immer? Immer bist du weg«, sagte Raik, der auf einem Zahnstocher rumkaute, aber Markus ging nicht auf ihn ein und sagte: »Warum schleppt die den Perso nach Ingolstadt? Ist die bescheuert?«
»Vielleicht traute die dem Heim nicht. Oder ist einfach so passiert. Wer weiß.«
»Und wegen der Ziege sitzt ihr hier blöde rum. Was machst du da?«, fragte er Raik.
»Ich will weniger rauchen.«
»Und deswegen frisst du Holz?«
Raik wurde rot und warf den zerkauten Zahnstocher in den Papierkorb, dann beugte er sich zu meiner Zigarettenschachtel und zündete sich auch eine an.
»Das ist mir zu ruhig«, sagte Markus, nachdem er seine Kippe ausgedrückt hatte: »Fürs Rumsitzen bezahle ich euch jedenfalls nicht. Särge fertig?«
Wir nickten.
»Kissen gestopft?«
Nicken.
»Muss keiner ins Krematorium gebracht werden?«
»Doch. Aber halt nur der Opa, und ohne Perso kommen wir da nicht weiter. Am Montag dann.«
Markus war unzufrieden und fragte weiter: »Autos gewaschen?«
»Den Leichenwagen nicht. Aber eigentlich geht der noch.«
»Wie, der geht noch?«
»Etwas Dreck unten. Sieht man kaum.«
Markus holte tief Luft und sagte nicht, was er gerne gesagt hätte. Er sagte: »Na, dann los. Waschen gehen. Und wenn dann nichts kommt, ist Wochenende, und ihr könnt unserer ruhmreichen Nationalmannschaft zusehen, wie sie sich von ein paar waschechten Franzosen aus dem Turnier ballern lässt.«
»Welches Spiel ist das genau?«, fragte ich.
»Heike! Was ist nur los mit dir? Hast du letzten zwei Wochen geschlafen? Wir stehen im Viertelfinale!«
»Aber mal im Ernst, warum machst du das?«, sagte Raik, als wir im Auto saßen. Ich fuhr.
»Lass uns gleich noch tanken«, sagte ich, ohne auf Raik einzugehen, aber der...
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