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Auch an diesem Abend faltete ich meine Hände über der Brust, ließ die Augenlider zufallen. Der Brustkorb hob sich in einer vom Bauch ausgehenden Wellenbewegung. Pause. Die Atemwelle zerlief sich in entgegengesetzter Richtung, hin zum Venusberg, wo sie zum Stillstand kam. Pause. Skelett, Herz, all das Innere, von dem ich kaum etwas ahne, füllte den Körper. Alles sank hinab, wurde von der Matratze in Empfang genommen. Aber die Flüssigkeiten sammelten sich nicht in einer kalten Lache an der untersten Linie des Körpers, wie bei den Toten. Nein, mein Herz ruht nie. Es pumpt Blut. Die Wärme blieb auch an diesem Abend bei mir. Der gnädige Augenblick des Tages, das Einschlafen, holte mich ein. Alles verschwand.
Dann hörte ich im Hinterhof einen Knall. Riss erschrocken die Augen auf, sah mich ängstlich um. Im Halbdunkel erkannte ich die gewohnten Umrisse der Dinge, doch der Takt meines Herzens verlangsamte sich nicht. Ich blieb reglos im Bett liegen, bis ich begriff, dass der Knall mich nicht betraf. Der Schreck hatte sich festgesetzt und ging beim Gedanken an einen völlig normalen Tag, der mich in einigen Stunden zu sich rufen würde, in Entsetzen über. Mit trockenem Mund und ohnmächtig angesichts dieser jämmerlichen Angst ließ ich den Blick über das große Bücherregal schweifen, das die Längsseite des Raumes links neben dem Bett einnimmt. Ganz oben erblickte ich die alten Fotoalben, die meine Mutter über meine Kindheit angelegt hatte. Dort war kaum Sicherheit zu finden. Ich hatte mein Kindheits-Ich und mein junges Ich hinter mir gelassen. Diese Ichs entschieden beiseitegeschoben. Meine Ichs auf falsche Art geliebt und auf falsche Art gehasst. Entweder log ich romanhaft oder sprach verlogen und mit gedämpfter Stimme von mir. Schob alles an mir, was ich nicht haben wollte, von mir.
Im Bücherregal herrschte Unordnung. Vor allem ganz oben, wo ich nur mit der Leiter hinkam. Im Halbdunkel erkannte ich schemenhaft Papierstapel, Plastikmappen, graue Ordner, Tagebücher und Notizbücher. Eine Bürde. Mit einem Seufzer voller Selbstmitleid nahm ich das oberste Buch vom Stapel auf dem Nachttisch. Die Gnade des Schlafs war fort, es würde mehrere Stunden dauern, bis sie sich wieder einstellen konnte. Und weil ich schon immer eine Frau der Tat war, fasste ich auf der Stelle einen Entschluss: Ich würde aufräumen. Wegwerfen. Simple living. Easy going.
Bereits am Tag nach meinem nächtlichen Entschluss saß ich auf dem Fußboden meiner Osloer Wohnung, umgeben von Stapeln, die ich von den obersten Brettern des Bücherregals geholt hatte. Neben mir einen schwarzen Abfallsack für das, was ich wegwerfen wollte. Vergangenheit wegräumen, um mehr Gegenwart zu bekommen - denn mitten in der Semesterendphase an der Universität Stavanger hatte ich mehr als genug zu tun, war beschäftigt mit Examensbenotung, Studentenbetreuung, den ewigen Berichten und Sitzungen. Dem wöchentlichen Pendeln zwischen Stavanger und Oslo. Aufsätzen, die geschrieben werden sollten, aber immer wieder verschoben werden mussten.
Ich zog einige Mappen zu mir heran. Zuoberst ein schmutzig brauner, schmaler Kunststoffordner. Papas Papiere. Vor seinem Tod 1996 hatte er systematisch Dinge weggeworfen - bis auf einige Geburtsurkunden und Todesanzeigen verstorbener Eltern und Geschwister, Zeugnisse, Führerschein. Das fand ich in seinem Schreibtisch, als ich nach dem Tod meiner Mutter 2006 aufräumte. Wir, seine Kinder, sollten nackte Fakten finden können: Name, Geburtsdatum, Geburtsort. Ausbildung.
Ich habe mit Papa in vielen Wohnungen und Häusern gelebt. Meine drei Geschwister, die Eltern und ich, wir haben in engem Körperkontakt gelebt. Der Geruch meines Vaters, seine körperliche Anwesenheit im Raum ist mir innig vertraut. Ich kann die Wärme seines Atems spüren, wenn er mich mit seinem nicht ganz frisch rasierten Kinn kitzelte. Ich weiß genau, wie es sich anfühlt, Löffelchen zu liegen. Ich war der kleine Löffel und Papa der große, als ich im Alter von zwei bis fünf Jahren eine Zeitlang die Angewohnheit hatte, nach dem Aufwachen ins Schlafzimmer meiner Eltern zu laufen, um in den schlafenden Papalöffel aufgenommen zu werden, in die Papawärme. Von dieser Wärme ist jetzt nichts mehr übrig.
Ich schlug eine andere dünne Plastikmappe mit handgeschriebenen Karten und Briefen auf. Einige davon hatten all meine Umzüge mitgemacht. Trivialitäten, über das Wetter, vor allem. Der ein oder andere Geburtstagsgruß, auch wenn er solche Tage meist vergaß. Mein Vater war kein Briefschreiber. Er war ein eher schweigsamer Mann.
Ganz hinten in der Plastikmappe fand ich ein zusammengefaltetes Blatt Papier, das ich ausbreitete. Eine halbe Seite in der ordentlichen Schreibschrift meines Vaters. Datiert vom 11. April 1984. Da war ich 31. Das ist ein halbes Leben her. Ein Brief von meinem Vater an mich, auf Deutsch:
»Liebe Wencke,wenn Du mir den genauen Zeitpunkt angibst, wann Du in Oslo bist, können wir uns dort treffen, und ich bleibe so lange in Oslo oder irgendwo in der Gegend, bis Du das Familientreffen absolviert hast. Ich freue mich schon, Dich und Dein kleines Kind zu sehen. Du mußt nicht glauben, daß ich ein unverbesserlicher alter fanatischer Faschist und Rassist bin (mein bester Freund war zum Beispiel ein Jude), aber ich habe einen höllischen Krieg in Ungarn, Rußland, Finnland und den arktischen Regionen mitgemacht, verloren und überlebt. In der Zeit sind Tausende aus meiner engsten Umgebung, mit denen ich teilweise befreundet war, gefallen, erfroren, verhungert, zerrissen, pulverisiert oder sonst elend zugrunde gegangen. Sowas verpflichtet. Ich habe diesen Krieg für mein Volk, meine Überzeugung und meine Gesellschaft, aus der ich herausgewachsen bin, mitgemacht. Da gab es keine Alternative. [.] Ich kann nicht meine Familie verraten, indem ich einen Neger hineinschwindle und als Familienmitglied akzeptiere, weil ich sonst meine Selbstachtung verliere. Die Kommunisten nennen das Solidarität. Wir haben einen ganz altmodischen Begriff dafür, nämlich Ehre und Gewissen. Ich hoffe, Wencke, daß Du mich verstehst? Du lebst ja auch für deine Überzeugung gegen den Strom.
PS: Anders leben als denken (verschiedene Wirklichkeiten) nennt man Schizophrenie. Grüß mir den Guru Muehl und meine anderen Freunde und Freundinnen in der Kommune und sei selbst herzlichst gegrüßt. Vater«
Nachdem ich den Brief gelesen hatte, pochte mein Herz so stark in meiner Brust, dass jeder Schlag einen dumpfen Stoß hinterließ. Ein dünner Schweißfilm legte sich auf die Haut. Wie hatte ich das vergessen können? Und so lange vergessen? Obwohl ich allein war, fühlte ich, wie Schamröte sich ausbreitete. Mein Vater hatte zweifellos rassistische Einstellungen. Und ich war unbestreitbar seine Tochter. Aber das vielleicht Erschütterndste war die Verknüpfung, die er in dem Brief zwischen uns herstellte: »Du und ich«, schien er zu sagen. »Wir beide.« Was hatte ich, eine linke Feministin, getan, das ihn, ganz rechts stehend, dazu veranlasste, uns in einem einzigen Satz zu nennen und auf die gleiche Stufe zu stellen?
Wie ich mich erinnerte, war der Brief die Antwort auf ein Schreiben von mir aus demselben Jahr gewesen. Ich hatte erfahren, dass er meiner Schwester verboten hatte, nach Hause zu kommen, er weigerte sich, sie zu sehen, nachdem sie einen nichtweißen Mann aus Nigeria geheiratet und ein Kind mit ihm bekommen hatte. Daraufhin hatte ich meinen Vater gebeten, diese irrsinnige Entscheidung zu revidieren und zusammen mit meiner Schwester, ihrem Mann und Kind an einem Familientreffen in Oslo teilzunehmen. Dieser kurze Brief war seine Antwort. Es wirkte, als habe er seit 1945 all die Jahre eingekapselt und fertig vorgeschrieben in ihm gelegen. Erst als ich eine Erklärung verlangte, brach der braune Eiter unübersehbar hervor. 1984, fast vierzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, stand nichts zwischen ihm und der Ideologie, mit der er in den Krieg gezogen war.
Schrieb er nicht auch mit unverkennbarem Stolz und rhetorischer Eloquenz; so als habe er lange darauf gewartet, ebendiese kleine Verteidigungsrede loswerden zu können? Mit verschwörerischem Humor umriss er das Weltbild, das dem Nationalsozialismus zugrunde lag - trotz der Wendung »Du mußt nicht glauben, daß ich ein unverbesserlicher alter fanatischer Faschist und Rassist bin«. In der Verneinung liegt die Bestätigung, das weiß schließlich jeder. Wie hatte mir dieser Brief so lange entfallen können? 28 Jahre waren vergangen, bis ich ihn wiederfand.
Ich verspürte den zwingenden Drang, ihn wegzuwerfen. Doch, nein. Stattdessen las ich ihn noch einmal. ...
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