Schweitzer Fachinformationen
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Neue Heimat in Franken - das Pfarrdorf Schauerheim
Kaum sind unsere beiden Kisten, die Nähmaschine und die beiden Koffer auf dem breiten mit ausgetretenen Sandsteinplatten belegten Treppenabsatz abgeladen, fährt unser Transporteur schon weiter. Auf der Ladefläche hat er noch weitere Flüchtlinge mit Gepäck, die er zu den für sie bestimmten Unterkünften in die Nachbardörfer bringen muss.
Erwartungsvoll schauen wir uns um. Mutti steigt mit festen Schritten die restlichen Stufen zum Eingang des Pfarrhauses hoch und zieht am Seilzug der Glocke. Im Innern schlägt hell eine Schelle an. Wir warten. Nichts rührt sich. Mutti klopft an die Türe. Niemand öffnet. Abwechselnd läuten wir nun, mein älterer Bruder Manfried und ich. Mutti sitzt jetzt wie gelähmt auf der großen schwarzen Holztruhe, die ihren Namen und unseren Heimatort nennt: »Emilie Mück - Mohelnice - Müglitz«. Auf ihrem Schoß schläft unser kleiner Bruder Wilfried. Wir warten, läuten wieder und wieder und warten. Bange Stunden vergehen.
Wir haben Zeit, unsere neue Umgebung zu betrachten. Das zweigeschossige Pfarrhaus, ein stolzer Sandsteinbau mit einem hohen Walmdach und einem einladenden Portal, schließt an den Rand des von einer hohen Mauer umgebenen Kirchhofs an. In der Mitte des Kirchhofs, zu dem ausgetretene Sandsteinstufen emporführen, steht die Kirche mit ihrem mächtigen Dach und dem wuchtigen, alles überragenden Turm. Seine zwiebelrunde, mit grauen Schieferplatten belegte Haube geht in eine zweite kleinere Haube über, ganz oben dreht sich über einer goldenen Kugel ein Hahn im Wind: Ein lustiger Anblick, denke ich bei mir. Im Schutz dieses stattlichen Bauwerks soll also unser künftiges Zuhause liegen. Was für ein Glück, in dieser Idylle anzukommen - das war wohl auch unser erster Gedanke gewesen, als wir erfuhren, dass wir in einem Pfarrhaus untergebracht werden sollten.
Der Tag schreitet fort, doch nichts passiert. Wir bekommen Hunger, uns plagt Durst. Da geht gegenüber dem Pfarrhaus im ersten Stock ein Fenster auf. Eine freundliche Frau schaut herunter, hinter ihr drängt sich ein Mann ans Fenster: »Kann man euch irgendwie helfen?« Mutter erklärt kurz unsere Situation: »Die Kinder haben Hunger und Durst.« Wenige Minuten später bringt uns unsere künftige Nachbarin einen Krug mit frischem Wasser, das sie vom Brunnen im Hof geholt hat, und einen halben Laib Brot. Wir erfahren, dass Herr und Frau Kaiser - Heimatvertriebene wie wir - schon seit einiger Zeit in einem der kleineren Klassenzimmer im Schulhaus, der »Großen Schule«, untergebracht sind. Sie waren die ersten Menschen, die wir in unserer neuen Heimat Schauerheim zu Gesicht bekamen.
Am Nachmittag kommt aus dem Bauernhof gegenüber der Kirche ein Mann auf uns zu: »Ich bin der Michael Hof-mann, ich bin der Bürgermeister.« Der freundliche Herr Hofmann lässt sich unseren Einweisungsbescheid zeigen und verschwindet dann in dem hinter dem Haus liegenden Pfarrgarten. Wenig später geht die Türe zum Pfarrhaus auf. Neugierig treten wir näher. Vom breiten Flur, der das Haus in zwei Hälften teilt, gehen links und rechts Türen ab. Die erste Tür rechts steht offen. Es ist, wie wir dann gleich erfahren, der Zugang zum Arbeitszimmer des Herrn Pfarrer, unser Domizil für die nachfolgenden drei Jahre.
Michael Hofmann und Mutter, nun wieder energisch wie immer, tragen unsere Sachen ins Haus. Während der ganzen Zeit bekommen wir keinen der Bewohner des Pfarrhauses zu Gesicht. Der Bürgermeister, von dem eine wohltuende Ruhe ausgeht, nimmt uns mit auf seinen Hof. Dort übergibt er uns zwei große Säcke, die wir dann in seiner Scheune mit Stroh auffüllen. Mit großem Eifer machen wir Kinder uns an die Arbeit, stopfen das Stroh in einzelnen Büscheln in die Säcke, bis sie prall voll sind. Mit fröhlichem Trara schleppen Manfried und ich die Strohsäcke in unsere Unterkunft, wo sie von Mutter zugenäht werden.
Sie sind unser erstes Lager. Mutti und Wilfried schlafen auf dem einen Strohsack, Manfried und ich auf dem anderen. Das sollte lange Zeit so bleiben. Auch später noch, als wir zwei Feldbetten hatten: Amibetten aus Segeltuch mit einem klappbaren Holzrahmen. Für vier Betten hätte das kleine Studierzimmer des Herrn Pfarrer nicht ausgereicht. Und wo hätten dann der Tisch, die Stühle, das Gestell mit dem Kocher, die Waschschüssel und der Schrank unterkommen sollen?
Die Aufregung des ersten Tages in unserer neuen Heimat ließ uns einfach nicht zur Ruhe kommen. Auf dem prall gefüllten Strohsack rutschten Manfried und ich immer wieder aufeinander oder wir kullerten zur Seite oder wir zogen eine Spelze, die uns in den Rücken stach, aus der Ummante-lung heraus. Die fremden Geräusche des Hauses verzögerten zudem das Einschlafen und zwangen zu immer neuem Hinhören. Ich glaube, es war dann der betäubende Geruch der frisch gestopften Strohsäcke, waren vielleicht auch die dankbaren Gedanken, die zum Hof des Bürgermeisters hinübergingen, die mich schließlich in einen unruhigen Schlaf gleiten ließen. Es dauerte einige Tage, bis sich das Stroh etwas gesetzt hatte und wir unsere eigenen Schlafmulden besaßen. Die Umgebung empfanden wir schon bald nicht mehr als fremd.
Voller Neugier starten wir in den nächsten Morgen. Der erste ganze Tag in unserer neuen Heimat, genauer gesagt in Franken, der Heimat unserer Ahnen. Jetzt lernen wir auch unsere Mitbewohner im Pfarrhaus von Angesicht zu Angesicht kennen. Im Pfarrhaus lebt die vierköpfige Familie des im Krieg gefallenen Pfarrers, im Obergeschoß wohnen der Pfarrverweser Gerhard Kanzog mit seiner Frau und den beiden Kindern sowie zwei alleinstehende Frauen, allesamt Heimatvertriebene aus Schlesien, mit uns also zehn zusätzliche Personen. Sie sind nicht unfreundlich zu uns, jedoch sehr reserviert. Willkommen sind wir nicht. Allenfalls geduldet. Das beengte Zusammenleben ist mit unserer erzwungenen Einweisung noch ein Stück enger geworden. Es sind nun alle Räume des Pfarrhauses belegt.
In den ersten Wochen nach unserer Ankunft waren wir damit beschäftigt, uns einzurichten. Die meisten Möbelstücke bekamen wir von uns wohlgesinnten Dorfbewohnern geschenkt. Jedes einzelne Stück, jeder wacklige alte Stuhl war willkommen, da es unsere Einrichtung vervollkommnete. Auch der wurmstichige alte Schrank vom Dachboden der Frau Spindler mit der aufgemalten Jahreszahl 1819, der leider unseren späteren Umzug nach Neustadt nicht überstand. Zwei Metallbetten und einen Ofen erhielten wir per Bezugsschein über die Gemeinde. Da endlich hatten die amerikanischen Feldbetten ausgedient.
Um nicht zu zweit in einem Bett schlafen zu müssen, entwickelten Manfried und ich eine Idee, die wir anfangs ganz lustig fanden. Wie bauten ein Bett aus vier Stühlen: die Lehne des ersten Stuhls bildete das sichere Kopfende, der zweite Stuhl hatte die Lehne rechts, der dritte die Lehne links, die Lehne des vierten bildete das Fußende. Bequem war diese Art zu schlafen allerdings nicht, schon bald ließen wir es wieder sein und kehrten in unsere weiche Kuhle auf den Strohsack zurück.
Die von den Vorbesitzern ausrangierten Stühle waren tatsächlich nicht die allerbesten. Als uns bald darauf Tante Berta und Onkel Robert besuchten, die in der Nähe von Fürth eine erste Bleibe gefunden hatten, brach unter unserem Onkel der Stuhl zusammen. Wir Kinder lachten über den am Boden liegenden Onkel, er glaubte an einen bösen Streich, wurde zornig, beruhigte sich aber rasch wieder. Am Ende brachen wir alle miteinander in ein erlösendes Lachen aus, froh darüber, dass weiter nichts passiert war und wir uns nach Jahren der Trennung wiedergefunden hatten.
Ich mochte Tante Berta sofort, sie wurde meine Lieblingstante und schon bald darauf auch meine Firmpatin. Ein- oder zweimal durfte ich sie später in den Sommerferien in Winnenden in der Nähe von Stuttgart besuchen. Dort hatte sich Onkel Roberts alte Firma, in der er als Prokurist arbeitete, inzwischen niedergelassen. Die von der Bayerischen Staatsregierung vorgesehene Ansiedlung im Rahmen des Wiederaufbaus der Graslitzer Instrumentenindustrie in Neustadt hatte mangels einer Produktionsstätte nicht geklappt.
Die Zugfahrt von Neustadt über Nürnberg nach Stuttgart trat ich als Zwölfjähriger mit einem großen Schild um den Hals an, auf dem mein Name, unsere Schauerheimer Adresse und der Zielbahnhof Stuttgart angegeben waren. In Nürnberg brachte mich der Schaffner zum richtigen Anschlusszug, und dessen Schaffner sah sich während der langen Fahrt mehrmals nach mir um. Er erklärte mir sogar, wo wir uns jeweils mit dem Zug befanden, und ich bin mir sicher, er begann zu schwäbeln, als wir die Grenze von Bayern nach Württemberg passiert hatten.
In der »vorläufigen Unterkunft« im Pfarrhaus blieben wir fast drei Jahre wohnen und warteten auf die versprochene größere Wohnung. Leider vergeblich. Auch die nächsten vier Jahre, die wir in zwei Dachkammern verbrachten, blieben ein Provisorium. Hier wie dort kam eine nähere Beziehung zu den Mitbewohnern nicht zustande, weder im Pfarrhaus mit der bunt zusammengewürfelten Schicksalsgemeinschaft noch bei den Häuslern. In beiden Fällen waren wir unwillkommene Eindringlinge. Selbst mit den gleichaltrigen Kindern im Pfarrhaus entwickelte sich kein engerer Kontakt, obgleich...
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