Schweitzer Fachinformationen
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Wachtmeister Hubert Schmiedle saß an seinem Schreibtisch. Hinter ihm an der Wand hingen der Heiland und der Landeshauptmann. Vor ihm auf dem Tisch lagen eine Wurst, ein Kanten Brot und ein schönes Stück Schnüfner Bergkäs'.
Schmiedle leckte sich erwartungsfroh die Lippen und den Schnäuzer. Die vormittägliche Jause, das z'Nüne, war seit jeher seine Lieblingsmahlzeit. Ein kleines Bier dazu wäre gut gewesen, aber der Wachtmeister trank im Dienst ausschließlich, wenn es der Ermittlungserfolg gebot.
In der Wachstube war es still. Der Schreibtisch war aufgeräumt. Der Halfter mit der Dienstwaffe hing an seinem Ort, und der Computer war ausgeschaltet.
Niemand hätte vermutet, dass der Wachtmeister hart arbeitete. Doch er tat es. Freitagvormittag vor dem Funkensonntag. Der gefährlichste Tag und das gefährlichste Wochenende im Jahr. Denn der Funken war schon aufgebaut und konnte gestohlen werden. Der Freitag war der beliebteste Tag für solch ein Verbrechen. Bis zum Sonntag konnte nicht einmal alemannischer Fleiß einen neuen Funken aufbauen. Die Schande dauerte länger, als wenn der Diebstahl am Samstag geschähe oder in der Nacht auf Sonntag.
Seitdem im 84er Jahr der Funken gestohlen worden war, hatte kein Dorfgendarm mehr am Funken-Wochenende auch nur ein Auge geschlossen. Das Schicksal von Reinhardt Amann stand allen klar vor Augen. Der Mann hatte sich selbst, seine Familie, sein Dorf und die Truppe entehrt. Seither lebte er in Thailand. Dort gibt es keinen Bergkäse. Hubert Schmiedle erzitterte bei dem Gedanken. Keine Berge, keinen Käse, dafür Reis und Dschungel.
Längst gab es nur mehr einen Gendarm im Dorf, und auch der war kein Gendarm mehr, sondern Polizist. Sagten die in Wien zumindest. Aber Wien ist weit von Vorarlberg. Die Hauptstadt liegt hinter dem Arlberg, hinter dem Tirol, in Innerösterreich. Für einen echten Vorarlberger liegt Wien gleich bei Kinshasa und unterscheidet sich von Nairobi nur dadurch, dass man Nairobi auf der Landkarte schneller findet. Deswegen war Hubert Schmiedle nach wie vor Wachtmeister und Gendarm.
Die Wurst war aufgeschnitten, der Käse ebenfalls, es konnte gegessen werden. Dass seit zwei Tagen Fastenzeit war, störte den Wachtmeister nicht. Denn Wurst war kein Fleisch, das stand fest. Aber er hatte die Wurst trotzdem im Nachbardorf gekauft, denn Anna, die Frau vom Wachtmeister, sah das ganz anders. Im Nachbardorf Wurst kaufen. Das war immer ein Risiko. Wer weiß schon, was die in die Wurst tun. Hubert Schmiedle wusste es nicht und wollte es auch gar nicht wissen. Den Schlinsern war alles zuzutrauen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Denn wenn Anna erführe, dass er im Nachbardorf Wurst gekauft hätte, dann wäre das schlimm. Sehr schlimm. Nicht auszudenken. Anna war kein Freund der Schlinser. Oder der Satteinser. Oder von sonst wem, der nicht im Dorf wohnte.
Der Wachtmeister drängte die Sorgen beiseite, nahm ein Stück vom Käse und wollte hineinbeißen. Der Schnäuzer sträubte sich erwartungsfroh, der runde Bierbauch, der ihm Würde und Stabilität verlieh, gurgelte fröhlich, und die kleinen braunen Augen schlossen sich verzückt.
Da klingelte das Telefon. Hubert Schmiedle legte den Käse beiseite und nahm den Hörer ab.
»Hm«, meldete er sich offiziell. Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. Er nickte mehrmals. Dann sagte er bestimmt: »Hm«, und legte auf. Er zog sein Stofftaschentuch aus der rechten Hosentasche und deckte seine Jause zu. Langsam stand er auf, ging auf den Hutständer zu, nahm die Dienstwaffe an sich und schnallte sich den Gürtel um. Schließlich verließ er das Büro, sperrte hinter sich ab und stieg in den Dienstwagen.
Fünf Minuten später parkierte er vor einem kleinen einstöckigen Haus. Der Garten des Häuschens befand sich noch im Winterschlaf, erschien aber ordentlich und für das Frühjahr gerüstet. Hubert Schmiedle ging um sein Auto herum, zur Gartentür und nickte drei Menschen zu, die dort standen.
Zwei Frauen und ein Mann standen beim Postfach und unterhielten sich. Sie sahen zum Wachtmeister hin.
Schmiedle blickte die Leute fragend an. Selbstredend kannte er alle drei, seitdem sie den Windeln entwachsen waren. So wie sie auch ihn kannten.
»Mir waren da, weil d' Susanne gestern nicht am Oppression Workshop war. Der Klaus hat sie ang'rufen, aber sie hat nicht abg'nommen«, sagte die ältere der beiden Frauen.
»Da haben wir uns Sorgen gmacht«, ergänzte die zweite. Beide Ende 30 mit kurzen Haaren. In Naturstoffen gekleidet und adrett.
»Und jetzt ist große Pause, da kommt sie normalerweise schnell heim, nach der Katze schauen.«
Der Mann stand schweigend daneben. Er trug das Haar lang, einen dichten blonden Bart.
Hubert Schmiedle nickte nur, griff über das Gartentürchen und öffnete. Die drei anderen blieben stehen. Er ging den Weg zur Haustür und läutete. Einmal, zweimal, dreimal, wartete, nichts geschah.
»D' Susanne hat all an Schlüssel über der Tür«, rief der langhaarige Mann zu Hubert. Schmiedle ignorierte die Meldung. Er besah sich die Tür. Schöne, gute Arbeit. Dann zog er einen Bund aus der Tasche und knackte das Schloss. Rechtlich gesehen, war das Einbruch. Aber Hubert war Dorfgendarm und, da Gefahr in Verzug, zu allem ermächtigt.
Schließlich hatte die Direktorin der Volksschule angerufen und das Fehlen ihrer Lehrerin und deren telefonische Unerreichbarkeit konstatiert. Nun standen auch noch drei andere da und machten sich Sorgen. In der Kriminalgeschichte des Dorfes kam das dem Kennedy-Attentat nahe.
Hubert hatte mittlerweile die Tür geöffnet und besah sich die Räume des Häuschens. Alles ordentlich, gut aufgeräumt, keine Kampfspuren, nichts, was einen Hinweis hinterlassen hätte. Er sah einen schönen, verbauten Ofen, mit gutem, trockenem Holz daneben, fein säuberlich gestapelt und in Hart- und Weichholzscheite getrennt. Außerdem gab es noch eine schöne graue Perserkatze, die sich unter der Bank versteckte, und deren Futternapf traurig leer war. Fünf Minuten später stand er wieder bei den Leuten am Gartentor.
»Hm?«, fragte er den jungen Mann.
»Kennsch mi eh. I bin Reuttes Klaus«, sagte er. Hubert nickte und notierte. Der Amtsweg war nun mal einzuhalten. Als der Reutte noch ein Teenager war, hatte Hubert einmal ein Päckchen Hanfkraut konfisziert und keine Meldung gemacht. Jetzt war der ehemalige Rockmusiker ein Vorzeigebiobauer. Kreislaufbewirtschafteter Hof, Hochbeete, es kamen Leute aus der Landeshauptstadt, um sich das anzuschauen. Hubert mochte vor allem die Erdäpfel. Grumpiera, wie sie der Dialekt liebevoll nannte. Am besten mit Zwiebeln, Wurst und geriebenem Bergkäse. Hubert wäre am liebsten gleich hinaufgefahren und hätte sich ein Kilo gekauft. Der ehemalige Rockmusiker hatte den Hang unter seinem Bauernhof mit Natursteinen belegt, was nicht nur sehr schön aussah, sondern auch einen beständigen Strom an warmer Luft generierte. Das Ergebnis waren Zuckermelonen, die auf 770 Meter über dem Meer reiften. Hubert war nicht so für Früchte zu begeistern, aber ab und zu brachte er seiner Anna eine von den süßen Köstlichkeiten.
Er blickte die beiden Frauen an.
»Nicole Dünser«, und »Irene Maier«, waren die Antworten. Die Erste war die Frau vom Reutte, aber ob sie verheiratet waren, wusste Hubert nicht. Heutzutage war das nicht so einfach, manche hatten denselben Namen, manche hatten zwei, aber der Mann nur einen. Hubert hatte schon lange aufgegeben diese babylonische Verwirrung durchschauen zu wollen. Da musste er seine eigene Frau fragen, auf jeden Fall hatten sie Kinder, zwei oder drei. Buben. Der ältere war mit dem Rad ohne Bremsen die Straße von Amerlügen ins Dorf runter gefahren. Handwurzelbruch und zwei Milchzähne ausgeschlagen. Reife Leistung. Hubert hatte den Vorfall protokolliert. Offiziell hatte er geschimpft, stillschweigend den Eltern gratuliert. Aus dem Buben würde mal was werden.
Irene Maier: Hubert musste nachdenken, bis ihm einfiel, woher er sie kannte. Sie war die Tochter vom einzigen Olympiasieger, den das Dorf hervorgebracht hatte. Zwar nicht Alpin und schon gar nicht Abfahrt, sondern bloß Nordische Kombination, Mannschaft, aber immerhin. Nach der Scheidung hatte die Tochter den Namen der Mutter angenommen. So war das. Hubert notierte sich die Einzelheiten.
»Oppression Workshop?«, fragte er. Das klang nach was.
»Oppression ist die anhaltende, ungerechte Behandlung von marginalisierten Gruppen durch die dominante Mehrheitsgesellschaft aufgrund von Geschlecht, Religion, sexueller Orientierung oder ethnischer Herkunft.«
Hubert hatte Bahnhof verstanden. Ließ sich das aber nicht anmerken. Er notierte sich ein paar Striche ins Notizbuch mit dem dunkelgrünen Umschlag. Hubert besaß dieses Notizbuch schon viele Jahre, seine Frau hatte es ihm einmal zu Weihnachten geschenkt, der Preis stand noch in Schillingen notiert auf der letzten Umschlagseite. Das Papier war rau und grob, mehr grau als weiß, jedoch widerstandsfähig. Kaffee, Schlamm, aber auch ein wenig Blut fand sich daran, hatte ihm aber nicht geschadet. Den Umschlag bildete eine Art grünes Kunstleder, das an manchen Stellen schon schwer abgegriffen war und speckig glänzte, an anderen noch eine feine Textur aufwies. Hubert notierte sich alles mit einem kleinen, sehr weichen Bleistift. Beim Schreiben steckte er immer die Zungenspitze durch die Zähne und hörte auf zu atmen. Er liebte den schwarzen, satten Strich auf dem Papier. Den Bleistift spitzte er mit dem Sackmesser jeden Tag in der Früh in der Amtsstube in den Mistkübel. Das Messer schliff er einmal in der Woche zu Hause an der Werkbank. Das Messer war scharf, und der Bleistift spitz....
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