Montag, 8. Dezember 1941
Chinwangtao-Fernstraße
Quipao, China
Es war eine der zwei dunkelsten Nächte, an die Korporal Sean Patrick Morrissey sich erinnern konnte.
Die andere war in jenem langen Winter auf der Oberen Halbinsel von Michigan gewesen, nachdem sein Stiefvater die Stelle als Wachmann für die Holzfirma bekommen und die Familie in einer Ein-Zimmer-Hütte unweit des Two Hearted River gelebt hatte. Sean war damals ein schmächtiger Zwölfjähriger gewesen. Inzwischen war er fast achtzehn, hochgewachsen, bärenstark und ein »China Marine«, ein in China stationierter Soldat der amerikanischen Kriegsmarine, der im Augenblick im vordersten Lastwagen des Militärkonvois als Beifahrer mitfuhr. Neben ihm saß Hauptfeldwebel James Donald »J. D.« Bradshaw am Steuer.
»Uns steht eine lange Nacht bevor, Junge«, sagte J. D., als er den Marinefilzhut mit den vier Einbuchtungen abnahm und neben sich auf die Sitzbank legte. Dann griff er unter den Sitz, förderte eine dreikantige Flasche Haig & Haig zutage und reichte sie Sean. Der Junge nahm einen gesunden Schluck und spürte ihn wie Feuer durch seinen Hals rinnen.
J. D. war ein Mann alten Schlages. Drei Aufenthalte in China seit 1928, und er sprach fließend Chinesisch. Mit sechsunddreißig war er alt genug, um Seans Vater zu sein, und sein Bürstenhaarschnitt war zu reinem Weiß verblasst.
Im Laufe des bisherigen Jahres hatte er die Rolle besser gespielt als Seans richtiger Vater, ganz zu schweigen von den zwei Stiefvätern, die nach diesem gekommen waren. Auf J. D.s unansehnlichem, von Aknenarben überzogenem Gesicht schien immer ein Lächeln zu liegen, jedenfalls in Seans Gegenwart.
Es war J. D.s Vorbild, das Sean stolz darauf gemacht hatte, ein China Marine zu sein, stolz auf die Traditionen der Marine an diesem fernen Ort und stolz auf die Art, wie die Marinesoldaten von so ziemlich jedem im Fernen Osten respektiert wurden - außer von den Japanern.
Zu Hause in Parris Island hatten die Ausbilder die Japaner als kleine Menschen mit vorstehenden Zähnen und Glasbausteinbrillen beschrieben, die man mit einem Suppenlöffel umhauen konnte. J. D. empfahl Sean, besser nicht darauf zu wetten, nicht auf die Weise, wie sie in den vergangenen drei Jahren die chinesische Armee in einer Schlacht nach der anderen verdroschen hatten. Jetzt war die japanische Armee in Bewegung, und alle anderen schienen auch in Bewegung zu sein und zu versuchen, von den Japanern wegzukommen. Niemand wusste, wo sie als Nächstes zuschlagen würden.
Sean fühlte sich besser mit der Colt 1911A1 .45-Kaliber-Pistole im Hüftholster und der Thompson M1928A1 .45-Kaliber-Maschinenpistole, die auf seinem Schoß lag. Drei Ersatzmagazine mit jeweils zwanzig Schuss lagen neben ihm, dazu ein Tornister mit Splittergranaten.
Ein paar Tage vorher hatten die Angehörigen der hochrangigen amerikanischen Militärs, Diplomaten, Geschäftsleute und Berichterstatter einen Zug nach Shanghai bestiegen. Nur die Wachen der Botschaft und eine kleine Abteilung Marineinfanterie waren auf dem Gesandschaftsgelände zurückgeblieben.
Hauptmann Theo Allen befehligte die Marineinfanterie-Abteilung. Mit den blassblauen Augen hinter seiner Drahtgestellbrille erinnerte er Sean an seinen Englischlehrer auf der Highschool, doch J. D. zufolge war Hauptmann Allen einer der härtesten Männer in der Truppe und Spezialist im Nahkampf.
An diesem Morgen hatte der Hauptmann ein Telegramm vom Hauptquartier der 4. Marineinfanteriedivision in Camp Holcomb im Norden erhalten, mit der Anweisung, einen kleinen Lastwagenkonvoi zusammenzustellen und sich für weitere Befehle bereitzuhalten. Aus dem dezimierten Fuhrpark waren zwei vor Kurzem reparierte Studebaker-Laster aufs Gelände gebracht worden.
Alle drei Fahrzeuge waren in demselben matten Grün lackiert, und auf den Türen standen in schwarzer Farbe die Buchstaben USMC für United States Marine Corps gemalt. An Metallstreben festgebundene Segeltuchdächer bedeckten die Ladeflächen der Eineinhalb-Tonnen-Laster.
Am späten Nachmittag hatte Hauptmann Allen seine Befehle erhalten, und der Konvoi war mit neun Marinesoldaten an Bord vom Gesandschaftsgelände abgefahren - einer der Marines fuhr mit Hauptmann Allen im Dienstwagen voraus, die anderen acht waren auf die beiden Laster verteilt worden.
Wie immer war Sean verzaubert von dem verrückten Gemisch aus Geräuschen und Gerüchen, das die alte Stadt erfüllte. Die Straßen quollen über von Menschen und Tieren, und die Luft war voll vom Gesang und Lärmen der Straßenmusikanten, dem Duft würziger Speisen, der von den Verkaufsständen längs der Straße herüberwehte, und dem Gestank der offenen Abwasserkanäle, die verfaulenden Fisch und Tierkot mit sich führten. Aus Radios in offenen Ladeneingängen und Speisehäusern dudelte es auf Chinesisch.
Der Konvoi nahm eine lange, langsame, umständliche Route quer durch die Stadt, ehe der Dienstwagen des Hauptmanns nach links auf eine überfüllte Durchgangsstraße abbog und durch zwei gewaltige Steintore fuhr, die die hohen Steinmauern eines großen Anwesens flankierten. Sean sah die Worte PEKING UNION MEDICAL COLLEGE über dem Eingang eingraviert.
Der Lärm der Straße ebbte ab, sobald sie im Innern waren. Weiter vorn stand ein betagter Weißer vor dem Hauptgebäude in einem mit Ziegelsteinen gepflasterten Hof. Ein Dutzend chinesischer Kulis umringte ihn. Es war offensichtlich, dass er auf sie gewartet hatte.
Noch bevor Hauptmann Allens Wagen zum Stillstand kam, begann der Alte mithilfe eines langen Gehstocks darauf zuzuhumpeln. Er trug einen altmodischen Tweedanzug mit weißem Hemd und Fliege. Auf der langen Nase in seinem Pferdegesicht thronte eine Brille.
Als Hauptmann Allen ausstieg, begann der alte Mann mit einer leiernden Stimme auf Englisch mit ihm zu sprechen, als habe er sich schon zu sehr an das Chinesische gewöhnt.
»Wir sind bereit«, sagte er. »Sie müssen sich beeilen!«
Sean hörte ein Dröhnen, das wie ferner Donner klang.
»Die Langstreckenartillerie der Japse«, sagte J. D., als das Geräusch zu einem tiefen, steten Grollen wurde.
In diesem Augenblick sah Sean die zwei Holzkisten, die auf dem Ziegelsteinhof hinter der vordersten Reihe der Kulis standen. Jede war so groß wie ein großer Kühlschrank. Die eine war in kräftigem Rot angestrichen, die andere bestand aus unbearbeitetem Teakholz.
Hauptmann Allen wies die Kulis auf Chinesisch an, eine Kiste hinten auf jeden Laster zu laden. Die rote, die sie in Seans und J. D.s Fahrzeug stellten, war mit schwarzen chinesischen Symbolen versehen.
Hauptmann Allen versammelte die Abteilung um sich.
»Ich kann Ihnen nicht sagen, was in diesen Kisten ist, weil ich es nicht weiß«, sagte er. »Aber was es auch ist, es ist wichtig, und unser Befehl lautet, dafür zu sorgen, dass es in Chinwangtao, der Hafenstadt bei Camp Holcomb, ankommt. Wenn wir dorthinkommen, wird die S.S. President Harrison auf die Kisten warten. Sie ist das letzte amerikanische Linienschiff, das noch in China ist.«
Sean verspürte eine Woge der Erregung. Mit siebzehn hatte er noch nie echte Angst gefühlt.
»Es sind ungefähr dreihundertzwanzig Kilometer dorthin«, fügte der Hauptmann hinzu. »Wir werden die ganze Nacht durchfahren und nur einmal zum Auftanken anhalten. Benzinkanister sind hinten in den Lastern verzurrt. Sie sollten wissen, dass die japanischen Truppen die Straße möglicherweise schon an mehreren Stellen abgeriegelt haben, also seien Sie jederzeit wachsam!«
Nachdem er sie hatte wegtreten lassen, klebte J. D. die Scheinwerfer aller drei Fahrzeuge mit weißem chirurgischem Klebeband ab, um ihre Sichtbarkeit zu verringern. Hauptmann Allen inspizierte die beiden Marinesoldaten hinten in jedem Laster und vergewisserte sich, dass sie mit .30-06 Browning Automatic Ri?es und einem Vorrat an Zwanzig-Schuss-Magazinen ausgerüstet waren.
Als sie die Motoren anließen und sich zum Losfahren fertig machten, rief der alte Mann im Tweedanzug Hauptmann Allen vom Rand des Hofs aus zu. Tränen liefen über seine Wangen.
»Beschützen Sie sie mit Ihrem Leben!«, rief er in seinem leiernden Tonfall.
»Der hat leicht reden!«, meinte J. D. und spuckte Tabaksaft durchs offene Fenster, während sie durch den Eingang wieder auf die Hauptstraße rollten.
»Was meinen Sie, was in den Kisten drin ist?«, fragte Sean.
»Nicht schwer genug für Gold«, antwortete J. D., während er sich darauf konzentrierte, den Fünf-Meter-Abstand zwischen den Fahrzeugen einzuhalten, den Hauptmann Allen angeordnet hatte, »aber die rote Kiste ist die wichtige.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Sean.
»Die chinesische Beschriftung«, sagte J. D., und Sean fiel wieder ein, dass er die Sprache ja fließend beherrschte.
Der dunkler werdende Himmel im Westen war immer noch rötlich angehaucht, als sie das letzte Tor am Rande Pekings passierten und auf der Fernverkehrsstraße weiterfuhren. Das Grollen des Artilleriefeuers verklang langsam, als sie die Stadt weiter hinter sich ließen.
Anfangs hatte die Fernstraße eine leicht geschotterte Oberfläche und zwei Spuren in jede Richtung. Nach dreißig Kilometern schrumpfte die Fahrbahn auf zwei Spuren zusammen; aus dem Schotter wurde eine harte, ausgefahrene Bodenschicht. Der Konvoi war gezwungen, das Tempo auf fünfzig Stundenkilometer zu drosseln.
Entlang der Strecke kamen sie an Tausenden von chinesischen Flüchtlingen vorbei, die sich in der eiskalten Dunkelheit von Peking wegbewegten. Einige wenige Glückliche fuhren alte, mit Kohle angetriebene Laster und Autos. Andere saßen auf Ochsenkarren, auf...