Sechs
17. November
Ostlund Lake
Solem, Minnesota
Alexandra Vaughan hatte gerade den aufregendsten Tag ihres Lebens gehabt.
Die Vorgeschichte dazu begann drei Jahre früher. Ein alter Farmer pflügte einen steinigen Acker bei Solem, in der Nähe des sumpfigen Quellgebiets des Ostlund Lakes. Dabei entdeckte er eine zerbrochene Beilklinge. Ihre Schneiden waren mit merkwürdigen Schnitzereien versehen, und der Farmer schickte sie zur Untersuchung an die Minnesota Historical Society in St. Paul.
Alexandra hatte vor Kurzem ihren Doktor in Nordischer Archäologie in Harvard gemacht. Mit dreißig arbeitete sie jetzt in einer Stabsstelle im archäologischen Referat der Gesellschaft. Die Beilklinge landete auf ihrem Schreibtisch.
Sie einfach nur in Händen zu halten hatte bereits einen prickelnden Schauer durch ihren Körper gejagt. Sie hatte identische Klingen in der Sammlung nordischer Waffen im Dänischen Nationalmuseum in Kopenhagen gesehen.
Obwohl St. Paul gerade von einem Wintersturm heimgesucht wurde, stieg sie in ihren alten Land Rover und fuhr nach Solem hoch. Nachdem sie den Farmer befragt hatte, war sie sicher, dass er die Wahrheit bezüglich des Fundortes sagte. Eine Woche später bestätigte die C-14-Analyse, dass die Beilklinge vor mehr als siebenhundert Jahren angefertigt worden war.
Alexandra brachte ihre Ergebnisse zu Dr. Benchley, dem Leiter des Archäologiereferats, und empfahl die Durchführung einer groß angelegten Grabung am Fundort. Nach kurzer Durchsicht der Materialmappe lachte Dr. Benchley sie aber nur aus.
»Lexy, das ist bloß ein weiterer Kensington-Stein«, sagte er, »ein ausgemachter Schwindel! Die Nordmänner haben Minnesota nie erreicht. Dieser Farmer hat das Beil vermutlich einem Cousin in Norwegen abgekauft und ist jetzt auf der Suche nach ein wenig Ruhm.«
»Das letzte Wort über den Kensington-Stein ist noch nicht gesprochen!«, erwiderte Lexy hitzig. »Und zufällig glaube ich, dass die Runeninschrift darauf echt ist. Das hat mich überhaupt erst hier rausgebracht!«
»Fein«, sagte er. »Wo du schon dabei bist, wieso gehst du nicht raus und findest Bigfoot?«
Unbeirrt verbrachte Lexy ihren zweiwöchigen Urlaub mit einem Zelt auf den Feldern und steinübersäten Hängen in der Nähe der Fundstelle. Der Ort war sehr abgelegen, und sie musste zwei kleine Flüsse im Land Rover durchqueren, um dort hinzukommen.
Ihre ersten Bemühungen erbrachten nichts. Es mochte reine Sturheit sein, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass es dort etwas Wichtiges zu finden gab, wenn sie nur lange und angestrengt genug suchte.
Im Verlauf der nächsten zwei Jahre kehrte Lexy sechsmal an den Ostlund Lake zurück, was den Großteil ihrer Freizeit beanspruchte. Am Ende durchkämmte sie die Gegend mit Sonden und einem Metalldetektor. Bei ihrem sechsten Ausflug dehnte sie die Suche auf einen nahe gelegenen Felshang aus, der mit Espen und dichtem Gestrüpp übersät war.
Beim Überqueren einer dornigen Erhöhung bemerkte sie eine Vertiefung in der Erde; als sie mit dem Metalldetektor darüberfuhr, bekam sie eine positive Anzeige.
Sie begann zu graben. Nachdem sie fast dreißig Zentimeter Erdreich und Geröll entfernt hatte, legte sie ihren ersten Fund frei.
Es handelte sich um eine abgeflachte Partie gesickten Metalls, möglicherweise Teil eines Kampfschildes. Sie nahm das Objekt mit zurück zur historischen Gesellschaft und unterzog es einer Radioisotop-Altersbestimmung: Es war siebenhundert Jahre alt.
Sie war sich jetzt sicher, dass es sich um eine nordische Begräbnisstätte handelte und dass derjenige, der dort begraben war, mit seinen Waffen für die Reise nach Walhalla, dem mythischen Wohnsitz der gefallenen nordischen Krieger, beigesetzt worden war. Bei ihrem nächsten Besuch wurde sie wieder fündig und grub eine weitere Beilklinge aus und dann das Heft eines Schwertes mit einem Knauf im Zweispitzstil. Das Schwert eines Nordmanns. Sie hatte ein identisches im Wikingermuseum in Hedeby gesehen, der größten nordischen Stadt während der Wikingerzeit.
Die Entdeckung war der Grund, weshalb sie die Stelle in Minnesota überhaupt erst angenommen und dafür prestigeträchtige Stipendien in London und Istanbul ausgeschlagen hatte. Sie stammte mütterlicherseits von den alten Nordmännern ab. Einige ihrer frühesten Erinnerungen waren die Wikingergeschichten, die ihr von ihren norwegischen Großeltern erzählt worden waren. Sie hatte die Wikinger im Blut.
Auf dem Rückweg nach St. Paul gab der Land Rover in einem der Flüsschen den Geist auf, und sie musste eine Seilwinde an einem Baum am anderen Ufer aufbauen, um ihn von Hand ins seichte Wasser zu ziehen. Bis dahin waren ihre Stiefel, Kordhose und Anorak schlammverkrustet.
Eine Stunde vor St. Paul begannen die Bremsen zu versagen. Als sie durch das Tor der historischen Gesellschaft fuhr, ließ sich das Bremspedal bis ganz auf den Boden durchdrücken, und sie musste die Handbremse benutzen, um den Wagen auf dem Mitarbeiterparkplatz zum Stehen zu bringen.
Sie schnappte sich ihren Probenkoffer und betrat mithilfe ihres elektronischen Schlüssels die Labore in der Kelleretage, wobei sie eine Abkürzung durch die Zimmerflucht nahm, in der die Gesellschaft gegenwärtig Minnesotas Bürgerkriegsflaggen restaurierte.
Vor der Vitrine mit der Kriegsflagge des 28sten Virginia-Infanterieregiments, das während Picketts Charge bei Gettysburg in Gefangenschaft geraten war, stand ein hochgewachsener Mann. Er war unrasiert und trug zerknitterte Khakis und einen marineblauen Blazer.
»Dr. Vaughan?«, fragte der Mann, als sie weiter auf das Archäologielabor zuging.
»Dieser Bereich ist für Besucher nicht zugänglich. Die öffentlichen Ausstellungen befinden sich oben.«
Sie blickte zurück und sah, dass er ihr folgte.
»Was wollen Sie?« Lexy blieb stehen und drehte sich um, um ihn anzusehen.
»Können wir uns ein paar Minuten unterhalten?«
»Ich habe es eilig!«
»Dr. Benchley meinte, Sie würde interessieren, was ich zu sagen habe.«
Er reichte ihr eine Visitenkarte, und Lexy warf einen Blick darauf. Ein buntes Logo umgab die Wörter ANSCHUTZ INTERNATIONAL. Darunter stand:
BRIG. GENERAL
STEVEN MACAULAY
LUFTWAFFE DER VEREINIGTEN STAATEN
(IM RUHESTAND)
Lexy sah zu ihm auf. Macaulays dichtes braunes Haar war erst ansatzweise grau, und auch sein hageres Gesicht mit dem kantigen Kinn, den braunen Augen und dem Kinngrübchen wies nicht auf ein fortgeschrittenes Alter hin.
»Sie sehen zu jung aus, um ein General zu sein«, meinte sie skeptisch.
»Ich habe ein Gemälde in meiner Dachkammer hängen, das das Altern übernimmt. Haben Sie schon einmal von einem Mann namens John Lee Hancock gehört?«
»Der Ölmilliardär, dessen primäres Interesse darin besteht, in jedem geschützten Lebensraum für Tiere nach Öl und Gas zu bohren?«, fragte sie.
»Sagen wir einfach, er ist ein starker Befürworter der energiewirtschaftlichen Unabhängigkeit.«
»Was auch immer. Ich habe leider zu tun«, sagte Lexy, während sie mit dem elektronischen Schlüssel die Labortür öffnete.
»Fünf Minuten!«, beharrte Macaulay.
Sie dachte an Benchley. Sie wollte ihn nicht noch mehr verärgern.
»Kommen Sie mit ins Labor«, sagte sie.
Der große, hohe Raum wirkte antiseptisch rein. Holzschränke mit Glastüren säumten drei der Wände; auf den Fächern jedes einzelnen lagen Dutzende von Gegenständen. Lexy legte ihren Probenkoffer auf einen quadratischen Tisch, der mittig unter einer Reihe von Operationsleuchten stand, und bedeutete ihrem Besucher, auf dem Stuhl neben ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen.
»Wir haben einen interessanten Fund gemacht, bei dem Ihr Wissen und Ihre Fachkenntnisse sehr hilfreich wären«, fing Macaulay an.
»Wo?«
»Auf dem Grönländischen Eisschild. Wir waren dort oben, um einen Bomber aus dem Zweiten Weltkrieg zu bergen. Mr. Hancock ist der Gründer der Cactus Legion, die schon auf der ganzen Welt seltene Kriegsflugzeuge geborgen und restauriert hat.«
»Wie schön, dass er auch mal etwas erhalten will.«
»Bei der Bergung fanden wir noch etwas anderes, viel tiefer unter dem Eis. Es scheint sich um ein Wikingerschiff zu handeln.«
»Ist es getakelt?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Macaulay. »Der größte Teil ist noch vom Eis eingeschlossen.«
»Niemand hat je ein voll betakeltes Wikingerschiff gefunden. Das Gokstad-Schiff, das 1880 entdeckt wurde, war nahezu unversehrt, aber von Segel und Takelage waren nur noch kleinste Reste übrig. Möglicherweise haben Sie also einen guten Fund gemacht.«
»Werden Sie hochkommen und uns helfen, seinen Stellenwert zu bestimmen?«
»Ich habe vor Kurzem selbst einen Fund gemacht, und ich glaube, er ist von weit größerem Wert für die archäologische Geschichte. Er wird beweisen, dass die Nordmänner zweihundert Jahre vor Kolumbus in dieses Land gekommen sind.«
»Nur zweihundert Jahre?«, fragte Macaulay. »Wir haben gestern einen Holzschnitzel von dem Schiff nach der C-14-Methode datiert. Die Bäume, die zum Bau des Schiffes benutzt wurden, wurden vor über eintausend Jahren gefällt.«
»Das ist nicht überraschend«, erwiderte Lexy. »Erik der Rote, Leif Erikssons Vater, gründete seine erste Siedlung an der Südwestküste Grönlands im Jahr 982. Bei Ihrem Schiff könnte es sich um eines seiner Versorgungsfahrzeuge handeln.«
»Was wäre, wenn ich Ihnen sagte, dass wir außer dem Schiff noch einen anderen Fund gemacht...