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Der alte Baron, der auf der strahlenförmigen Hauptstraße von Posillipo jeden Nachmittag unter den Platanen und den Eukalyptusbäumen spazierengeht, sagte: »Ich habe den Mann auch gesehen. Morgens geht er allein zum Aussichtspunkt hinauf. Doch gegen Abend geht er mit seiner Frau nach Marechiare. Dort sitzen sie dann auf der Terrasse des Finestrella, essen Pizza und trinken Wein dazu. Mir scheint, er hat nicht viel Geld. Es ist nicht wahr, daß jeder Engländer, jeder Amerikaner viel Geld hat. Der Mann trägt eine Brille, er trägt Sandalen. Ich glaube nicht, daß er die Welt erlösen kann. Er ist nur ein Fremder, der mit seiner Frau hergekommen ist, eine Zeitlang lebt er hier, mietet eine möblierte Wohnung und geht dann wieder fort. Mehrere Engländer haben schon so hier gelebt. Am Ende sind alle fortgegangen.« Er hob seine mit Leberflecken besprenkelte alte Hand, an deren Ringfinger ein Wappenring prangte: »Ich weiß es, weil ich viele vornehme Menschen gekannt habe. Leider gibt es unter den Fremden selten wirklich vornehme Menschen.«
»Cavaliere«, sagte der Admiral, »aufgepaßt! Die Welt wird immer materialistischer. Ich habe Doktor Moscati persönlich gekannt und kann bezeugen, daß es Menschen gibt, die bereits zu Lebzeiten Heilige sind.«
»Wie etwa Padre Pio in Foggia«, sagte der Alte, der abends an der von Eukalyptusbäumen umgebenen Kreisfläche am Weg zur Bucht von Marechiare das Holzkugeln-Glücksspiel leitete. Man weiß nicht, welchen Beruf der Mann hat. Er kleidet sich elegant – sogar im Sommer trägt er einen dunklen Anzug und Schuhe mit Ledersohle –, und den ganzen Tag lang sitzt er nur auf der Bank an der Kreisfläche. Doch am Abend leitet er das Glücksspiel, das viele Teilnehmer anlockt. Jeder Spieler zahlt fünfzig Lire ein. Man schiebt die Holzkugel, groß wie ein Kinderkopf, vorsichtig an den Rand des Gehsteigs. Wer die Kugel gemäß den Spielregeln richtig stößt, gewinnt fünfhundert Lire.
»Padre Pio ist hier in San Giovanni«, sagte nun der Alte. »Manchmal muß der Besucher vier Tage warten, ehe er vorgelassen wird. Der Padre trägt schwarze Handschuhe, denn Christi Wunden sind auf seiner Hand.«
»Auch auf seinen Füßen«, sagte ein anderer Alter mit tiefer Stimme. Er trägt eine Schildmütze und geht mit einer Krücke, weil ihm im Winter fünf schwärige Zehen abgeschnitten wurden.
»Das ist nicht sicher«, sagte der Admiral.
»Ganz sicher«, sagte der Alte, der das Glücksspiel leitet. »Auch mein Onkel ist bei Padre Pio gewesen. Wenn er die Beichte abnimmt, umweht ihn Blumenduft. Im Wirtshaus dort ist die Verköstigung billig.«
Der Baron hob den Finger mit dem Wappenring: »Aufpassen«, sagte er. »Über Padre Pio wird viel geredet. Aber die Kirche hat noch nicht gesprochen. Es gibt Menschen, die Gottesduft verbreiten, doch nach einer gewissen Zeit erfährt die Welt, daß der Gottesduft verflogen ist. Anders verhält es sich mit Doktor Moscati. Da hat die Kirche schon gesprochen …«
Nun fuhr der Admiral mit pfeifender Stimme dazwischen: »Vorsichtig hat sie gesprochen. Ich habe Doktor Moscati gut gekannt. Er besuchte uns, als meine Tochter krank wurde, verschrieb ihr einen Sirup, und meine Tochter hörte auf zu husten. Allerdings beweist das noch nichts.«
»Nein, es beweist nichts«, sagte der Baron heiser und hastig. »Es beweist auch nichts, daß er die Markgräfin, die am Platz des heiligen Lodovico wohnt, von ihrem Ausschlag geheilt hat. Er gab ihr Hefe, und sie beteten zusammen. Ich besuchte sie gestern, es fehlt ihr nichts mehr. Doch das alles ist noch kein Beweis. In Novara lebt ein Tierarzt, der auch Menschen heilen kann – mit Hefe. Aber der Erzbischof gab schon seine Zustimmung, daß in der Kirche Gesu Nouvo über dem Grab des Doktors Moscati eine Tafel angebracht wird und daß man die frohe Botschaft eingraviert.«
»Was für eine frohe Botschaft?« fragte der Alte, dem die Zehen abgeschnitten wurden.
»Die Botschaft der Heiligkeit«, sagte der Baron. Das Wort »Heiligkeit« sprach er langsam, sachkundig, Silbe für Silbe. »Noch ist er nicht heilig, nicht einmal selig«, fuhr er erregt fort. »Doch schon umgibt ihn die Kunde der Heiligkeit: Fama sanctitatis – das wurde in der Kirche über dem Grab des Doktors auf die Tafel eingraviert. Und das ist schon etwas. Ich gebe zu: noch nicht alles. Die Glorie, die im Augenblick das Haupt des Doktors einfaßt, ist ein ganz kleiner Schein. So ein Strahlenkranz kann noch verblassen. Es ist nicht gewiß, daß daraus ein vollwertiger Heiligenschein wird. Auf jeden Fall aber wehen die Fama der Heiligkeit und ein kleinerer Lichtschein um das Haupt des Doktors. Er suchte mich manchmal auf. Er kam gegen Abend und trank Orangensaft. Er sprach wenig. Das war sympathisch. Ich mag keine Heiligen, die zuviel reden.«
»Hatte er einen Regenschirm?« fragte der Admiral neugierig.
Der Baron blinzelte. Mit glasigen Augen schaute er hinauf zum orangegelben Himmel über dem Hügel von Posillipo. Er murmelte verlegen: »Regenschirm? Ich weiß nicht. Kann sein, daß er einen Regenschirm hatte. Er war ein wirklicher Herr.«
»Ich habe noch nie einen Heiligen gesehen, der einen Regenschirm gehabt hätte«, sagte der Admiral hartnäckig.
Sie saßen auf der Bank aus Eisen und schwiegen. Nur der Baron stand, denn er brauchte Bewegung. Sie waren alle alt. Sie trugen keine Lumpen, aber sie waren arm. Auch der Admiral, weil er seinen Sohn mit seiner inflationären Admiralsrente an der Universität von Neapel Jus studieren ließ. Der Sohn fuhr ein Motorrad, und auch das kostete viel Geld. Aber das war eben die Mode. Das Motorrad, ein niedriges, auf kleinen Rädern ratterndes Vehikel, war modisch wie früher einmal das Reitpferd. Der Admiral hatte begriffen, daß sein Sohn nicht zu Fuß gehen konnte. Arm waren sie alle. Der Baron besaß ein Haus in Sizilien, doch manchmal, nach großen Regenfällen, stürzte das Haus ein. Der Mann, der auch im Sommer Schuhe mit Ledersohlen trug und das Holzkugelwerfen leitete, gewann manchmal, denn er hatte schon große Übung. Fünfhundert Papierlire sind nicht viel Geld, doch man kann einen Tag lang davon leben, wenn man eine Schlafstätte hat und die Einkaufsquellen kennt. Arm waren sie alle, und keiner hatte je einen Heiligen gesehen, der einen Regenschirm besessen hätte. Sie schwiegen, dachten nach.
Junge Männer rasten die strahlenförmige Hauptstraße von Posillipo entlang, sie rasten auf ihren ratternden, stinkenden, modischen Motorrädern. Die Alten sahen ihnen nach. Vögel flogen in langgezogener Formation auf die Bergspitze von Posillipo zu. Hinter Baiae stand die Sonne tief und hinterließ am tiefblauen Postament des Himmels ölige goldene Flecke. In Bagnoli heulten die Sirenen der Ilva-Fabrik. Die Sirenen waren Reliquien aus dem Krieg, als sie Bomben und Todesgefahr angekündigt hatten. Neapel war vielenorts, besonders um den Hafen herum, löchrig. Hier hatten die Bomben wahllos verwüstet, weil die Amerikaner nicht gezielt hatten. Später schenkten die Amerikaner den neapolitanischen Mädchen und den kleinen Buben Schokolade. Die Schwarzen waren besonders freigebig.
Irgendwie dürften die Alten an all das gedacht haben. Der Baron meinte mit altersbedingter Gedankenverbindung: »Die Amerikaner haben keine Heiligen.«
Jetzt ging der Baron in Fechtstellung, wie immer, wenn er mit sich und der Welt ein gedankliches Duell auszutragen gedachte. Mit einer beiläufigen Handbewegung schob er den Hut auf den Hinterkopf. Seine Linke stemmte er in die Hüfte, die fünf Finger der Rechten krümmte er. Während er seine Hand von unten nach oben schwang, als spielte er Ball, sprach er: »Die Amerikaner sind gezwungen, die Führung der Welt zu übernehmen. Das ist gefährlich, weil sie keine Heiligen haben.«
»Doch, sie haben eine Heilige«, sagte der Admiral. »Mein Sohn hat davon in der Internationalen Apotheke gehört. Dort verkehren auch Amerikaner.«
»Was für eine Heilige?« fragte der Baron argwöhnisch. »Ist sie dort geboren? In Amerika?«
»Nein«, sagte der Admiral mit klagender, fast mit Altweiberstimme. »Sie war eine Zugewanderte. Eine ›displaced person‹.«
»Äh …!« machte der Baron und hob seine Hand mit den gekrümmten Fingern.
Dieses »Äh …!« verstanden sie alle. Der Laut, der ihnen wie eine Musiknote klang, konnte je nach der phonetischen Zuordnung vielerlei bedeuten, es war wie bei den einsilbigen chinesischen Wörtern. Er konnte bedeuten: »Nun ja …« Dann: »Ist doch egal.« Oder: »Wir werden sehen …« In der Umgebung von Neapel und in ganz Kampanien schloß man die Diskussionen oft mit einem »Äh …!«
Über dem Hügel von Posillipo – dort, wo der neue Fußballplatz angelegt wurde und wo man von der Brüstung aus auf die Insel Nisida und auf den Felsen sieht, an dem Ulysses sein Schiff festmachte, ehe er und seine Weggefährten sich in Polyphemos’ Höhle schlafen legten – ging die Sonne unter. Der Sonnenschein überzog die Häuser auf dem Hügelgelände über Baiae, überzog Cap Misena und den Gipfel mit goldenen Streifen. Solch goldenes Licht leuchtete auch um die Häupter der Heiligen auf den billigen Gemälden in den Kirchen Neapels. Die Alten blinzelten und schauten der sinkenden Sonne nach. Die Vögel schwiegen im Laub der Eukalyptusbäume. Kautschukgeruch waberte in der Luft. Über dem Meer jagten Wasservögel, und langsam schaukelte das Schiff von Ischia auf die Bucht von Marechiare zu. Und da es jeden Abend so geschah, schwiegen die Alten.
Auf der anderen Straßenseite erschien das fremde Ehepaar. Der Mann trug tatsächlich Sandalen, er trug auch dunkle Augengläser. Die Frau hatte rotblonde Haare, sie trug Hosen. Beide stützten sich auf Spazierstöcke. Sie waren nicht jung. Aber greis...
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