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Angesichts der Versuche sowohl der extremen Rechten als auch neoliberaler Eliten, die von der Pandemie ausgelösten Affekte zu nutzen, um ein autoritäres Modell durchzusetzen, ist es für die Linke unerlässlich, sich mit dem Sicherheits- und Schutzbedürfnis zu befassen. Das ist eine Herausforderung, da der rationalistische Rahmen, der linke Politik häufig prägt, sie daran hindert, den Stellenwert von Affekten anzuerkennen. Tatsächlich gilt alles, was mit Gefühlen, mit affektiven Bindungen zu tun hat, als unvereinbar mit einem vernunftgeleiteten Fortschritt. Besonders ausgeprägt ist diese Haltung in der »globalistischen« Linken. Diese hat sich die neoliberale Weltsicht zu eigen gemacht, die das Ende des konfliktären Politikmodells postuliert. Unter moralischem Fortschritt versteht sie in erster Linie eine Welt ohne Grenzen, in der sich alles frei und ungehindert bewegen kann, eine Welt ohne Antagonismen, in der die Politik eine Domäne rationaler Entscheidungen von Expertinnen ist. Dieser Flügel der Linken misstraut daher dem Sicherheitsbedürfnis, das er als konservativ betrachtet und das aus seiner Sicht in Widerspruch zu den von ihm geschätzten »progressiven« und kosmopolitischen Werten steht.
Wie lässt sich dieses Widerstreben überwinden? Wie kann das demokratische Projekt so formuliert werden, 34dass es die Bedeutung von Affekten anerkennt? Seit Hegemonie und radikale Demokratie steht diese Frage im Mittelpunkt meines Nachdenkens.[13] Sie bildet den Kern meiner Kritik an Jürgen Habermas und anderen Theoretikern der deliberativen Demokratie, die an einer rationalistischen Konzeption festhalten, die keinen Raum für Leidenschaften und affektive Formen von Identifikation lässt. Ihrer Ansicht nach hat die Entwicklung der modernen Gesellschaft die Bedingungen für eine »deliberative Demokratie« geschaffen, in der Entscheidungen über die Gemeinschaft betreffende Angelegenheiten aus freien, uneingeschränkten öffentlichen Beratungen aller hervorgehen sollten. Sie sehen Politik als Feld an, in dem ein rationaler Konsens durch die freie Ausübung öffentlicher Vernunft (John Rawls) oder unter den Bedingungen unverfälschter Kommunikation (Habermas) erzielt wird. Leidenschaften werden aus der Politik getilgt, die auf einen den Einschränkungen der Moral unterworfenen Bereich konkurrierender Interessen reduziert wird. Indem sie das Ideal eines rationalen Konsenses postulieren, teilen sie die »assoziative« Auffassung des Politischen, wie der Philosoph und Soziologe Oliver Marchart sie nennt. Ich habe diesen Ansatz kritisiert, weil er den konfrontativen Charakter der Politik und die allgegenwärtige Möglichkeit des Antagonismus leugnet.[14]
35Auch habe ich dargelegt, inwiefern diese Sichtweise für die unzutreffende Vorstellung verantwortlich ist, die sich die meisten Strömungen der Demokratietheorie vom Charakter der Bindung an die Demokratie machen. Sie sind unfähig zu erkennen, dass sich über Identifikation - also Affekte - eine Bindung an demokratische Institutionen herstellen lässt. Viele politische Philosophen sind der Ansicht, für das Überleben liberaldemokratischer Institutionen sei eine rationale Grundlage entscheidend. Nach Habermas geht es dabei vor allem um Legitimität: Es muss sichergestellt sein, dass von demokratischen Institutionen getroffene Entscheidungen einen unparteiischen Standpunkt repräsentieren, der die Interessen aller zum Ausdruck bringt. Er möchte die Art von Rationalität, die in kommunikativem Handeln und öffentlicher Vernunft am Werk ist, zur Hauptmotivation für demokratische Bürgerinnen und zur Grundlage ihrer Bindung an demokratische Institutionen machen.
Gegen diese rationalistischen Konzeptionen habe ich eingewandt, dass nicht rationale Rechtfertigungen diese Bindung herstellen, sondern dass es dafür Formen der Identifikation und Praktiken bedarf. Erst diese bringen eine demokratische Bürgerschaft hervor. Ein Ansatz, der Rationalität privilegiert, lässt ein zentrales Element beiseite, nämlich die entscheidende 36Rolle, die Leidenschaften und Affekte dabei spielen, die Bindung an demokratische Werte zu gewährleisten.
Zur Entstehung einer demokratischen Bürgerschaft trägt man nicht bei, indem man einfach Argumente dafür findet, dass liberaldemokratische Institutionen Rationalität verkörpern. Vielmehr bedarf es der Vervielfältigung von Diskursen, Institutionen und Lebensformen, die eine Identifikation mit demokratischen Werten fördern. Wir haben es nicht mit einer Frage der Rationalität zu tun, sondern mit einer der gemeinsamen Affekte.
Mit ihrer Betonung von Argumenten, welche die Legitimität demokratischer Institutionen sichern sollen, haben politische Philosophen den falschen Akzent gesetzt. Es braucht keine Theorie der Wahrheit oder Begriffe wie Unbedingtheit und universelle Gültigkeit. Demokratie funktioniert eher so »wie das leidenschaftliche Sich-entscheiden für ein Bezugssystem«, wie Ludwig Wittgenstein es beschreibt.[15] Die Bindung an die Demokratie beruht auf der Identifikation mit demokratischen Werten, und bei dieser handelt es sich um einen komplexen Prozess, in dem Affekte eine zentrale Rolle spielen.
Will man die Gründe für die Verquickung des demokratischen Projekts mit dem rationalistischen Ansatz 37verstehen, muss man bis zur Aufklärung zurückgehen.[16] So hat etwa der Literaturwissenschaftler Pierre Saint-Amand in seinem Buch The Laws of Hostility eine politische Anthropologie der Aufklärung vorgeschlagen, die deren blinde Flecken beleuchten soll.[17] Er zeigt, wie die philosophes in ihrem Versuch, Politik auf Vernunft zu gründen, sich eine optimistische Auffassung von Soziabilität zu eigen machten. Gewalt sahen sie als archaisches Phänomen an, das nicht Teil der menschlichen Natur war. Sie waren überzeugt, dass antagonistische und gewaltsame Verhaltensweisen, alles, was Ausdruck von Feindseligkeit war, sich dank eines fortschreitenden Austauschs und einer sich entwickelnden Soziabilität beseitigen ließe.
Unter Rückgriff auf René Girards mimetische Theorie hat Saint-Amand diese optimistische Haltung einer kritischen Überprüfung unterzogen. Sie berücksichtige, so sein Vorwurf, nur eine Dimension dessen, was nach Girard die Dynamik des Imitierens ausmache. Außerdem basiere sie auf einer Vorstellung vom menschlichen Austausch, nach der dieser ausschließlich auf die Realisierung des Guten abziele. Und schließlich erkenne sie nur einen Teil der mimetischen Aspekte an, nämlich die mit Empathie verknüpften. Aber für Girard ist es wichtig, den ambivalenten Charakter des 38Imitierens und das konfliktreiche Wesen der Mimesis zu begreifen - die Tatsache, dass ebendie Bewegung, die Menschen in ihrem gemeinsamen Begehren nach demselben Objekt zusammenführt, auch der Ursprung ihres Antagonismus ist. Reziprozität und Feindseligkeit lassen sich nicht voneinander trennen, und die gesellschaftliche Ordnung wird immer von Gewalt bedroht.
Nach Saint-Amand war es gerade der humanistische Charakter ihres Projekts, der die Autoren der Encyclopédie dazu veranlasste, eine verkürzte und idealisierte Auffassung von Soziabilität zu vertreten. Eben weil sie die Autonomie des Sozialen begründen und Gleichheit zwischen den Menschen herstellen wollten, leugneten sie die negative Seite des Austauschs, vor allem seinen spaltenden Impuls. Das war die Bedingung für die Fiktion eines Gesellschaftsvertrags, der Gewalt und Feindseligkeiten ausschließen sollte und in dem Reziprozität die Form transparenter Kommunikation zwischen den Beteiligten annehmen konnte.
Eine solche Auffassung schadet demokratischer Politik. Diese lässt sich nicht voranbringen, indem man die der Soziabilität inhärente Gewalt leugnet. Kein Vertrag kann diese Gewalt beseitigen. Im Gegenteil: Nur wenn man die widersprüchlichen Triebkräfte anerkennt, die der soziale Austausch in Gang setzt, ist es möglich, die Praktiken und Institutionen zu begreifen, die zur Sicherung der demokratischen Ordnung notwendig sind.
39Die humanistische Sicht der philosophes konnte, wenig überraschend, keine positive Rolle für Affekte und Leidenschaften erkennen. Sie galten ihr als »irrationale« Kräfte, als archaische Überbleibsel eines Zeitalters, in der die Vernunft noch nicht vollkommen...
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