Schweitzer Fachinformationen
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Am Flughafen, beim Übergang vom luftseitigen in den landseitigen Bereich, hat er insgeheim auf eine persönliche Begrüßung gehofft, sich aber vergeblich nach einem Schild oder Bildschirm mit der Aufschrift Simon Abrameit umgesehen und eine leichte Enttäuschung nicht leugnen können. Jetzt, da er nach einer Fahrt mit der S-Bahn in die Innenstadt aus dem Bahnhofsgebäude in den hellen Mittag tritt und an der Haltestelle für die Charterbusse tatsächlich bekannte Gesichter vor sich sieht, zögert er, auf sie zuzugehen. Es hat mit seiner linken Hand zu tun. Sie ist unzuverlässig geworden, aber die lachenden Menschen vor dem Reisebus, die in den nächsten Tagen mit ihm musizieren werden, erwarten, dass er mit unbeeinträchtigter Spielfreude zu ihnen kommt.
Das Handicap macht ihn empfindlich. Er hat es schon im Flugzeug bemerkt, als ihn nach dem Einstieg, beim üblichen Kampf um den Stauraum für die Gepäckstücke, ein Mann anbellte: »Ihre Stradivari nimmt zu viel Platz weg!« Anstatt mit der üblichen Replik, die er für solche Fälle parat hält - man solle froh sein, dass er kein Cello mit sich führe -, aus der Defensive zu finden, fühlte er sich unversehens in die Kindheit zurückversetzt und erinnerte sich daran, wie es gewesen war, immer und überall mit dem Geigenkasten gesichtet zu werden und entsprechende Kommentare einstecken zu müssen. Dann störte ihn der Kasten plötzlich. Es gab immer einen Grund, die Geige bei sich zu haben, Unterricht, Orchesterprobe, ein Vorspiel in einem Altersheim, es war normal, mit dem Instrument unterwegs zu sein. Aber eben nur für ihn. Für alle anderen nicht.
Mit einem schnellen Klatschen macht die Gegenwart wieder auf sich aufmerksam: Tauben. Wie überall auf der Welt bevölkern sie auch den Bahnhofsplatz in Helsinki, trippeln zwischen den Passanten umher, stürzen sich von den Simsen, fliegen in Trupps ihre Runden. Scharen von Dohlen kommen hinzu, außerdem einzeln patrouillierende Krähen, aber was da oben kreischend Bogen fliegt und weiß aufleuchtet, das sind Möwen, weil es von hier aus nicht weit ist bis zum Meer. Simon blickt zum Himmel, bevor er die letzten Schritte zu dem Bus mit den geöffneten Ladeklappen macht und von Menschen, die er kennt und die ihn wiedererkennen, empfangen wird. Binnen weniger Sekunden ist er Teil ihrer Gemeinschaft und vergisst vorläufig seine heimlichen Zweifel, ob er es wirklich sein dürfte.
Der Bussteig teilt sich in Licht und Schatten. Wo die Sonne hinscheint, lächelt man sich durch getönte Brillengläser an, wo das Vordach schützt, spürt man Gänsehaut an den Oberarmen, die man zur Begrüßung leicht berührt. Weitere Männer und Frauen mit unterschiedlich großen Instrumentenkoffern kommen hinzu, vom Flughafen, vom Fähranleger, vom Zug, und Simon breitet nun seinerseits die Arme aus. Wie auch nicht, alle freuen sich über die Begegnung und mindestens ebenso sehr darüber, endlich wieder auftreten und ihren Beruf ausüben zu können, nachdem es ihnen während der Pandemie erschwert, gar untersagt worden ist, aber auch weil sie Freundinnen, Freunde, Weggefährten wiedersehen, musikalisch Gleichgesinnte aus verschiedenen Ländern. Nur aus Russland ist diesmal niemand dabei. Russen haben es schwer, außerhalb ihres Landes Auftrittsmöglichkeiten zu finden, Jurij hingegen, der Geiger aus Charkiw, ist da, so wie in den Vorjahren auch, und diesmal schützt ihn seine Schüchternheit nicht vor besonderer Herzlichkeit. Allerdings wirkt er noch scheuer als sonst, als befürchtete er, jemand könnte es missbilligen, dass er in diesen Zeiten als Mann mittleren Alters im Ausland Musik macht. Ansonsten wird sein Land von Oksana und Marjana vertreten. Woher sie kommen, hat Simon vergessen. Es ist ihm immer schwergefallen, sich die Namen der ukrainischen Städte zu merken, abgesehen von den dreien, in denen er gewesen ist. Erst jetzt, da sie in Schutt und Asche gelegt werden, lernt er allmählich, auch die anderen Städte auseinanderzuhalten. Und schon sieht er Männer vor sich, die ihre Frauen und Kinder an die Grenze begleiten, sich von ihnen verabschieden und dann umkehren, um in den Krieg zu gehen. Ich bin bestimmt nicht der Einzige, der diese Bilder im Kopf hat, womöglich steigert das unsere Freude über das Zusammenkommen sogar.
Manche verzichten noch auf Umarmungen und Wangenküsse. Sie begnügen sich damit, Faust oder Ellenbogen anzubieten, verbunden mit einem Schulterzucken und einem Gesichtsausdruck, der die Geste ironisch begleitet und das Bedauern etwas unbeholfen kaschiert. Die Stimmung löst sich trotzdem, es wird gelacht, erst recht, als eine Möwe einen zielsicheren Angriff fliegt und einer hochgewachsenen Cellistin aus Amsterdam die Eiskugel von der Waffel pflückt. Der Vogel ist verblüffend schnell und dabei vorsichtig genug, um die Beute beim Zuschnappen nicht einfach in der Mitte zu zerteilen und somit zu verlieren. Eine unversehrte weiße Kugel schwebt im gelben Schnabel auf das Dach des Bahnhofsvorbaus, wo sie behutsam abgelegt und ohne Zögern aufgegessen wird.
»Die werden immer dreister«, stellt einer der einheimischen Kollegen fest. Und sofort weiß ein anderer eine ähnliche Episode zu berichten, die von einer dritten Geschichte überboten wird, in der verschmutzte Kleider auf dem Weg zu einem Konzert vorkommen. Die Möwe, die umstandslos das Eis verspeist, verrät keinerlei Scham.
Für die Menschen ist es Zeit, den Bus zu besteigen, denn der Fahrer im kurzärmeligen weißen Hemd tritt seine Zigarette aus. Er wird seine Passagiere in eine Kleinstadt bringen, wo sie eine Woche lang in wechselnden Besetzungen Kammermusik machen werden, als Duo, als Trio, im Quartett oder allein. Während der Fahrt bleiben nur die Köpfe der Cellokoffer starr, alle anderen neigen sich den Sitznachbarn jenseits des Ganges zu, beugen sich nach vorn, drehen sich nach hinten. Eine Stunde sind sie unterwegs, so lange wird unablässig in mehreren Sprachen die Lage besprochen, mehrmals fallen die Namen Odessa, Charkiw und Mariupol, Namen von Städten mit Orchestern, Konzertleben, musikalischer Tradition. Aber es wird auch berichtet, wie man in den vom Krieg verschonten Teilen Europas über die Runden gekommen ist während der endlos erscheinenden Monate stillgelegter Kultur, wie man sich durchgeschlagen hat mit sporadischen Auftritten und Online-Formaten, und Mai, die seit Jahren hier im Norden Europas in einem Orchester spielt, aber in Leipzig studiert hat, sagt zu dem neben ihr sitzenden Simon: »Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich freue.«
Er antwortet mit einem Lächeln und einem langen Nicken.
»Ich habe ja das Privileg einer festen Stelle, aber wie hast du die Zeit überstanden?«, fragt die Frau mit den schmalen Schultern, deren Gesichtszüge nichts Europäisches an sich haben, in deren Deutsch aber nicht die geringste asiatische Tönung zu hören ist.
Mai ist ein Mensch, zu dem man ehrlich sein möchte, doch Simon will die ausgelassene Stimmung nicht stören, während der Bus über die Autobahn nach Osten gleitet, unter einer unabsehbaren Herde Schäfchenwolken am nordisch blauen Himmel. Beim langen Blick in ihr Gesicht fällt ihm das Wort Indochine ein, das Bilder melancholischer Eleganz nach sich zieht, wie aus einem französischen Film über die Kolonialzeit, obwohl das gar nicht zu Mai passt, deren Körper zwar zart ist, aber weniger von eleganten als von zweckmäßigen Bewegungen in Betrieb gehalten wird. Keine verträumte Schwermut bremst sie, ihre Gebärden wirken kurz und geschickt, klar und gezielt, trotzdem weckt der Blick ihrer Augen den Impuls, sie auf Französisch anzusprechen, und Simon sagt tatsächlich pardon, meint aber sein Zaudern und beeilt sich, eine Antwort zu geben. Auf Deutsch schönt er die Bilanz der letzten Jahre, spricht von der kleinen Tournee, die er im Frühjahr machen konnte, einige Stationen in der französischen Provinz, das D-Dur-Konzert von Prokofjew, eine Besonderheit für einen wie ihn, der nur noch selten die Gelegenheit erhält, als Solist mit Orchester die großen Violinkonzerte zu spielen. Allerdings scheint er seine Miene nicht mit der nötigen Glaubwürdigkeit zu unterlegen, denn die Fragerin zieht die Augenbrauen so weit hoch, dass sich Falten auf ihrer Stirn bilden, und lässt sich auch nicht von seinem Einwurf ablenken, Prokofjew stamme übrigens aus der Ostukraine, was die meisten Leute gar nicht wüssten.
Verschweigst du mir etwas?
Simon beteuert, für den Sommer sei sein Kalender gut gefüllt, seine Agentin habe es geschafft, ihn mit dem Soloprogramm vielerorts unterzubringen.
»Was wirst du spielen?«
»Bach und .«
»Ja?«
»Bartók.«
Er sagt es mit Verzögerung, als wäre es eine Anmaßung, dieses radikale Stück mit seinen haarsträubenden Schwierigkeiten aufzuführen, wenn man nicht zu den größten...
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