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An einem hellen Mittag im Juni 1964 versucht Jakob Flieder, seine Frau zu töten. Er folgt keinem heimtückischen Plan, sondern handelt im Affekt, wie sein Schwiegersohn, der unmittelbar daneben steht, später bezeugt. Er will sie lediglich zum Schweigen bringen.
Jakob ist Choleriker, ein an sich umgänglicher Mensch, der aber, wenn seine Reizschwelle überschritten wird, aus der Fassung geraten kann. Da diese Schwelle äußerst hoch liegt, gelingt es kaum einem Menschen, sie zu überwinden. Die wenigsten haben ihn je in Rage gesehen, sie ahnen nichts von seinem Temperament. Seine Frau kennt es, wiegt sich aber, wenn der letzte Ausbruch lange genug zurückliegt, immer wieder in Sicherheit.
So auch an diesem Junitag. In zwei Monaten soll das erste Enkelkind geboren werden. Noch ruht es im seligen Zustand der Unschuld im Bauch seiner Mutter, und doch trägt es indirekt zur Attacke des Großvaters bei, denn die bevorstehende Ankunft des Kindes macht eine Erweiterung des kleinen Hauses nötig, das Jakob dreißig Jahre zuvor gebaut hat und nun mit seiner Frau, der gemeinsamen Tochter und deren Ehemann bewohnt. Der Anbau steht bereits, nur am alten Teil werden noch Renovierungsarbeiten durchgeführt.
Am Morgen steigen die Männer aufs Dach, um den Schornstein zu erneuern. Jakob ist kein Maurer, trotzdem weiß er mit Steinen umzugehen und traut sich daher ohne Bedenken eine so einfache Mauerarbeit zu. Sein Schwiegersohn dient als Handlanger, mischt Mörtel, schlägt Backsteine zu, reicht sie an. Bis zum Mittagessen soll die Arbeit erledigt sein, hat Jakob sich ausgerechnet, doch es dauert länger. Dem Schwiegersohn unterlaufen Missgeschicke, mal bricht ein Ziegel, mal gerät das benötigte Stück zu lang - alles Fehler, die Jakob wortlos korrigiert. Der wachsende Ausschuss an Baumaterial facht allerdings ersten Ärger in ihm an. Insofern trägt neben dem Ungeborenen auch dessen argloser Vater zu der folgenden Affekthandlung bei.
Aufgrund der Verzögerung verlassen die Männer nämlich nicht wie geplant um zwölf Uhr das Dach, was Jakobs Frau Agnes dazu veranlasst, wiederholt vors Haus zu treten und die Arbeiter aufzufordern, endlich bei Tisch zu erscheinen. In immer kürzeren Intervallen und mit zunehmender Ungeduld ruft sie nach ihrem Mann und stört ihn beim konzentrierten Steinesetzen. Bis sie schließlich gar nicht mehr ins Haus zurückgeht, sondern schimpfend vor der Tür stehen bleibt und zum Dach hinaufschaut. Ihr langes Lamento lässt sie in einem abfälligen Attribut gipfeln, von dem Jakobs Schwiegersohn später behauptet, er könne sich nicht mehr daran erinnern, was vermutlich nicht stimmt, jedoch einiges über die Wucht des gewählten Wortes verrät.
Bis dahin hat sich Jakob beherrscht, nun ist die Reizschwelle überschritten. Es kommt zum jähen Ausschlag seines Temperaments, und er stößt den frisch gemauerten Kamin in die Richtung, aus der die Stimme seiner Frau kommt.
Jakob ist ein kleiner, aber kräftiger Mann, mit einem Brustkasten, der diese Bezeichnung verdient, und mit den schweren Armen eines Turners, der täglich an der Teppichstange Klimmzüge mit nach vorne ausgestreckten Beinen macht. Seine Kraft hat sich jedoch bei der Ausübung seines Berufs gebildet. Er arbeitet als Pflasterer und schafft mit seinen Händen etwas, worauf andere gehen und mit schwerem Gerät fahren. Stein ist sein Metier. Kein Wunder, dass er ihn als Waffe wählt.
Aufgrund der Wucht des Stoßes bricht der Schornstein nicht, sondern fliegt in einem Stück hinab und zerfällt erst beim Aufschlagen im Hof in seine Einzelteile.
Unten herrscht Schweigen.
Die Männer lugen über den Dachrand. Niemand ist unter den Trümmern begraben worden, Jakobs Frau hat im entscheidenden Moment einen Schritt zur Haustür gemacht.
Das Schweigen dauert an, bis Agnes nach ihrem Mann ruft: Jakob! Es klingt ängstlich, als befürchte sie, ihm könne etwas zugestoßen sein. Dann weckt auch schon der Anblick der Zerstörung ihren Unmut: Was hast du jetzt wieder gemacht?
Jakob antwortet nicht. Er steigt vom Dach, geht in die Küche, nimmt schweigend sein Mittagessen ein und spricht für den Rest des Tages mit niemandem ein Wort. Am nächsten Tag ist er fast wieder der Alte, schnappt sich die Karre mit den Gummirädern und holt damit beim Baustoffhändler neue Ziegelsteine.
Jakobs Schwiegersohn erzählte die Geschichte im Familienkreis, als Jakob nicht mehr lebte, und alle lachten das leicht ungläubige Lachen, das sich angesichts einer bizarren Unfassbarkeit, die gerade noch einmal gut ausgegangen ist, oft löst. Niemand wäre auf die Idee gekommen, wegen dieser Episode sein Bild von Jakob zu revidieren. Er war trotz seiner seltenen Zornesausbrüche ein Mann gewesen, der es stets gut gemeint hatte.
Auch ich dachte nicht daran, meinen Großvater nach der kuriosen Geschichte mit anderen Augen zu sehen, doch erschien sie mir bedeutungsvoll genug, um meinem Vater vorzuwerfen, sie mir bis dahin verheimlicht zu haben.
Über den Vorfall sei nie geredet worden, beteuerte mein Vater. Er sei sich nicht einmal sicher, ob meine Großmutter damals überhaupt begriffen hatte, dass sie gerade einem Totschlag im Affekt entgangen war.
Meine Großeltern waren im Juni 1964 bereits vierzig Jahre verheiratet gewesen und sollten es weitere vierundzwanzig Jahre, bis zu Jakobs Tod, bleiben. Das machte vierundsechzig einvernehmliche Jahre gegenüber dem Impuls eines Augenblicks. Einunddreißig Millionen Sekunden gegen eine, die alles hätte auslöschen können, die meine Großmutter getötet und meinen Großvater zerstört, einen Schatten auf meine Geburt geworfen hätte. Eine Sekunde, die alles verändert hätte, jedoch über die Zeit in Vergessenheit geraten war, da sie ihre fatale Wirkung verfehlt hatte, dachte ich, als sich das Lachen über die Episode allmählich legte.
Und wie gesagt, betonte mein Vater, der alles gern bei günstigem Licht betrachtete, abschließend noch einmal, Jakob hat im Affekt gehandelt.
Ich aber dachte, dass Absicht auch im jähen Impuls steckte. Sie hatte nur noch nicht die Gestalt eines Plans angenommen.
Zwei Monate nach der glücklich gescheiterten Attacke kam ich auf die Welt, wenig später ging Jakob in Rente. Es begann die Zeit, in der ich ihn als stets zu Hause anwesenden Großvater mit nie versiegender Geduld erlebte. Seinen Jähzorn lernte ich zeit meines Lebens nicht kennen. Nicht einmal als aufsässiger Jugendlicher gelang es mir, seine hohe Reizschwelle zu erklimmen. Der Jakob Flieder, den es vor meiner Geburt gegeben hatte, existierte für mich nicht.
Das war normal, doch im Licht des Tötungsversuchs erschien es mir nun bemerkenswert. Man nahm seine Großeltern als ganze Persönlichkeiten erst nach ihrem Tod wahr und konnte sie auch dann erst der Epoche zuordnen, die von den Jahreszahlen auf dem Grabstein markiert wurde. Erst wenn sie nicht mehr zu einem sprachen, wenn die Vorstellung, die man von ihrem Leben hatte, sich von der selbstverständlichen Anwesenheit ihrer Stimme gelöst hatte, ahnte man, als welche Verkörperungen von Erfahrungen sie einem tatsächlich begegnet waren. Man erkannte, wie viele Umstände, Wechselfälle, Widerstände ihre Persönlichkeit beeinflusst hatten, und begriff endlich, dass sie keineswegs schon immer alt gewesen waren. Sie hörten auf, Großeltern zu sein, sie wurden Menschen, die vor der Geburt der Enkelkinder bereits eine Geschichte hatten.
Dann gab man ihnen die Vornamen, die man selbst nie benutzt hatte, sah sie als Träger dieser Namen jedoch nur unvollständig, da man über eigene Erinnerungen an sie als Erwachsene in der Mitte des Lebens nicht verfügte. Man war auf die Erinnerungen ihrer Kinder angewiesen, doch kamen die selten auf die Idee, von ihren Eltern zu erzählen, weil sie so gut wie nie danach gefragt wurden.
Gemessen an der Ereignisfülle eines Menschenlebens hüteten Familien erstaunlich wenige Erinnerungen. Hielt sich eine Generation - warum auch immer - mit Erzählungen zurück, füllten sich bei der nächsten Generation die Speicher von Erinnerung und Wissen noch spärlicher, weshalb sie ihren Kindern kaum noch etwas zu erzählen hatte. Diesen blieb nichts anderes übrig, als mit den wenigen überlieferten Episoden ihre Einbildungskraft zu füttern und sich die toten Großeltern so bildhaft wie möglich vorzustellen, damit sie lebendig wurden.
Die Geschichte mit dem Schornstein, die mein Vater bei einer Familienfeier erzählte, als wir Anekdoten austauschten, um nicht über uns selbst reden zu müssen, fiel mir über fünfundzwanzig Jahre nach Jakobs Tod wieder ein, in einer Stadt, die dieser nie gesehen, und in einem Zustand, dessen gängige Bezeichnung er wahrscheinlich nie gehört hatte.
Nach vierzehn Stunden Flug war ich mit schwerem Jetlag, also in einer Verfassung, in der sämtliche...
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