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Kann es bis zum nächsten Lebenszeichen von mir Frühling werden.«
Alles, was man von George DeLong und seiner Ehefrau Emma weiß, deutet darauf hin, dass sich die beiden wirklich liebten, was ja nichts anderes heißen kann, als dass sie sich an der Nähe des anderen freuten und Sehnsucht hatten, wenn ihnen diese Nähe verwehrt war. Angesichts dessen kann man über Georges Vertröstung auf den nächsten Frühling nur staunen. Was er da schrieb, muss eine ungeheuerliche Zumutung für seine Frau gewesen sein: eine so lange Trennung in vollkommener Ungewissheit, nicht nur ohne jedes gesprochene oder geschriebene Wort, sondern auch ohne Erleichterung durch Informationen über das Befinden des Geliebten!
Je größer die Zumutung, desto schmerzlicher spürbar der Faktor Zeit. Ein Paar von heute kann sich auf eine Trennung von einem halben Jahr einigen, wenn beide Beteiligten die Gründe einsehen, sie für vernünftig oder nötig halten, wenn beide eine Vorstellung davon haben, wie sie während der Zeit Kontakt zueinander halten werden, und wenn sie das Ende der besagten Periode datieren können. Welches Paar aber ließe sich auf eine Periode ohne Lebenszeichen ein, deren Ende nicht absehbar ist?
Die Zumutung für Emma war enorm und wurde durch den Aspekt der unbestimmten Dauer ungeheuerlich.
Für George stellte sich das Ganze etwas anders dar, aber ich bin nicht sicher, ob man seine Sicht der Dinge auch nur annähernd erfassen kann, wenn man nicht im 19. Jahrhundert in der Arktis unterwegs gewesen ist und überdies vom arktischen Fieber erfüllt war.
Tatsache scheint zu sein, dass die Arktis das normale Zeitgefühl des Menschen beeinträchtigt oder gar außer Kraft setzt, sodass es einem Menschen plötzlich möglich ist, der Frau, die er liebt, zu schreiben, sie solle nicht auf ihn warten, es könne sein, dass sie erst nächsten Frühling wieder etwas von ihm höre.
Es gibt schlicht und einfach keine andere Lebenssituation, in der man sich einen solchen Satz vorstellen kann. Solche Sätze sind Arktiserkundern vorbehalten, Menschen, die alles anders sehen, sobald sie den Blick auf den Nordpol richten. Der Zeitbegriff dieser Männer (im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert waren es ausschließlich Männer) ist mir nie ganz geheuer gewesen. Allein die Information, dass Roald Amundsen 1918 zu seiner Nordpolexpedition mit der Maud Proviant für fünf Jahre mitnahm, jagt mir Schauer über den Rücken, weil es mir gespenstisch vorkommt, als realistische Option einzuplanen, mehrere Jahre lang im Packeis der Arktis eingeschlossen zu sein - umgeben von den lebensfeindlichsten Bedingungen, die dieser Planet zu bieten hat.
Im Zusammenhang mit der Arktis erhält das Phänomen Zeit einen unheimlichen Anstrich, weil es von einer Ungewissheit eingefasst ist, die sich durch Planungen kaum verringern lässt. Fridtjof Nansen hatten einen Plan, durchaus auch einen Zeitplan, als er 1893 mit der Fram gen Nordpol aufbrach, und seinem Plan entsprechend Proviant geladen, trotzdem konnte er nicht mit Gewissheit sagen, wann er seine Tochter Liv, die ein halbes Jahr zuvor geboren worden war, wiedersehen würde, ob sie dann noch das Sprechen oder schon das Rechnen lernen würde. Und das bedeutete natürlich auch, dass seine Frau Eva mit dem Kind an der Brust, mit dem Kind auf dem Arm, mit dem Kind an der Hand eine Zeit des Wartens vor sich hatte, der jede hilfreiche Umgrenzung fehlte. Die Zeit der Sehnsucht musste, so stelle ich es mir vor, selbst den Charakter einer sich nach allen Seiten hin ausdehnenden Eisfläche annehmen, die im Dunst des Horizonts mit dem diesigen Himmel verschmilzt.
Die Unheimlichkeit der arktischen Zeit beginnt schon mit der Fragwürdigkeit des Begriffes, denn genau genommen gibt es am Nordpol keine Zeit. Am Nordpol laufen mit den Längengraden auch die Zeitzonen zusammen, und die Uhren werden auf null gestellt. Ein Spaziergang um den Pol führt durch alle vierundzwanzig Zeitzonen, ohne dass man etwas merkt. Die Zeit orientiert sich nach dem Sonnenstand, dessen Variationsbreite sich am Pol in engen Grenzen hält. Entweder ist es hell, oder es ist dunkel. Entweder herrscht Polarsommer, oder es herrscht Polarnacht. Anders gesagt: Es gibt am Nordpol nur einen Tag, und der dauert ein halbes Jahr.
Wenn ich einen solchen Satz nur schreibe, zittern mir schon die Finger, weil ich immer, wenn ich etwas Unglaubliches wiedergebe, befürchte, etwas Falsches zu äußern. Schließlich bin ich noch nie am Nordpol gewesen und kann meine Aussagen nicht durch eigene Erfahrungen bezeugen. Zwar habe ich mich häufig in Regionen nördlich des Polarkreises aufgehalten, und zwar zu allen Jahreszeiten, weiß also, wie es ist, wenn es tagsüber nicht richtig hell und nachts nicht richtig dunkel wird, aber das totale Entweder-oder der Polregion, das einen für ein halbes Jahr entweder zu totaler Helligkeit (verstärkt noch durch die Lichtreflexion des Eises) oder zu totaler Finsternis (vertieft noch durch die Abwesenheit jeglicher Lichtemission) verurteilt, kenne ich nicht.
Darum halte ich mich lieber nicht länger als nötig im Umkreis solcher irritierenden Vorstellungen auf, sondern versuche die Besonderheit des Phänomens arktische Zeit in kleineren Einheiten verständlich zu machen.
Nehmen wir einen Zeitabschnitt von sechsunddreißig Stunden, und kehren wir zu George DeLong an Bord der Little Juniata zurück.
Das kleine Schiff geriet 650 Kilometer nördlich des Polarkreises an der Westküste Grönlands in einen Sturm, wie ihn DeLong noch nicht gesehen hatte. Der Wind war so stark, dass er die Eisfelder aufwühlte, Wellen schlugen mit einer solchen Wucht gegen die Eisberge, dass riesige Teile abbrachen, herabrutschten und das Schiff zu zerschmettern drohten, das Schiff, das unablässig vom Wind gebeutelt und von Brechern überschwemmt wurde.
Wie gesagt, ein Sturm, wie ihn die Schiffsbesatzung noch nie erlebt hatte. Eine gigantische Zumutung.
Damit komme ich auf den angekündigten Zeitabschnitt, denn dieser Sturm wurde den Männern auf der Little Juniata sechsunddreißig Stunden lang zugemutet.
Man führe sich vor Augen, was es bedeutet, sich sechsunddreißig Stunden lang in Lebensgefahr zu befinden.
Schwer vorstellbar? Versuchen wir es eine Nummer kleiner und stellen uns vor, sechsunddreißig Stunden im Sturm zu stehen, meinetwegen an Land, in Sicherheit, oder, ersatzweise, sich sechsunddreißig Stunden lang in schwerer See zu befinden, ohne Lebensgefahr.
Sechsunddreißig Stunden - das bedeutet: Setzt der Sturm um acht Uhr abends ein und hat um Mitternacht nicht nachgelassen, hofft man zunächst darauf, dass er sich wenigstens gegen Morgen legt. Unwillkürlich baut man diese Hoffnung auf, weil sich die Fantasie stets Fixpunkte sucht, an denen sie sich vorwärtshangeln kann, hin zu den Bildern der Erleichterung. Stürmt es am nächsten Morgen weiterhin, wird das den Mut bereits beträchtlich schwächen. Dann aber hat man noch immer vierundzwanzig Stunden Unwetter vor sich!
Aber zurück zur Little Juniata. Wenn fortwährend Brecher über Bord kommen, muss man ständig lenzen, also pumpen und mit Eimern Wasser schöpfen, und zwar schnell und ohne Pause, denn wenn zu viel Wasser an Bord kommt, passiert das, was am 28. September 1994 mit der RoPax-Fähre Estonia vor der finnischen Ostseeinsel Utö passierte, als Wasser durch die vordere Ladeklappe eindrang: Wasser hat Gewicht, und wenn Wasser an Bord durch die Bewegung des Schiffes im Wellengang hin und her schwappt und sein Gewicht somit hin und her schlägt, dauert es nicht lange, bis das Schiff durch die rapide zunehmende Unwucht krängt, kentert und sinkt.
Es musste auf der Little Juniata also pausenlos gelenzt werden, und wenn man sechsunddreißig Stunden lang lenzen muss, heißt das, dass man sechsunddreißig Stunden lang schuftet, während Brecher über Bord schlagen, wobei man zwangsläufig klatschnass wird, und dies 650 Kilometer nördlich des Polarkreises, also im Kalten, umgeben von brüchigen Eisbergen.
Noch lange nachdem sich der Sturm gelegt hatte, muss das Frieren fürchterlich gewesen sein.
Die Little Juniata überstand den Sturm, sie überquerte den 75. Breitengrad, aber dann entschloss sich DeLong nur zwanzig Kilometer vor Kap York dazu, aufzugeben und umzukehren, um das Leben seiner Leute nicht im unberechenbaren Eis aufs Spiel zu setzen. Nach zwei Wochen und 1300 Kilometern erreichte die Little Juniata wieder ihr Mutterschiff, wo DeLong und seine Crew mit Jubel begrüßt wurden, »als wäre ich von den Toten auferstanden«3, wie DeLong notierte.
Erneut strenge ich meine Einbildungskraft aufs Äußerste an und versuche etwas von DeLongs Erfahrung zu erahnen: Da waren die enormen Zumutungen über eine lange Zeit, da war die Frustration, weil er kurz vor dem Ziel umkehren musste, da waren die Gefahren, denen er mit Geschick und Kompetenz begegnete. Da war...
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