Schweitzer Fachinformationen
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Ihr Vater spricht zu ihr über den Tod.
Sein Blick ist die ganze Zeit sehr ernst. Seine Augen sehen aus, als wären sie mit einer sauberen roten Linie umrandet.
Sie versucht zu verstehen, aber manchmal schafft sie es nicht, und beide verlieren die Fassung. Der Tod ist ein Ungeheuer, sagt ihr Vater - wie die in den dünnen Märchenbüchern, die in ihrem Zimmer liegen. Wie ein Drache?, fragt sie, aber er schüttelt den Kopf. Er ist größer und viel schrecklicher. Ein Drache kann nur an einem Ort sein, aber der Tod kann überall sein, wo er will. Er stößt kein Feuer aus. Er atmet Traurigkeit.
Sarah sitzt im Schneidersitz in einer Ecke des Sofas, hält ein Kissen umklammert und drückt es an sich. Ihr Vater kauert vor ihr. Es ist Abend, im Zimmer ist es düster. Er streckt die Hand aus und macht eine Geste, als hätte er ein Stückchen Tod aus der Luft gegriffen. Dann löst er die Finger voneinander.
Er hat das alles so genau erklärt, dass Sarah es fallen sieht. Der Tod zieht Kreise, sagt er.
Sie schaut mit zusammengekniffenen Augen die rauhen Teppichfasern an und stellt sich vor, wie sich der Tod in wellenförmigen Kreisen ausbreitet, als hätte man einen Stein ins Wasser geworfen. In einem ihrer Schulbücher gibt es ein Bild, auf dem ein Rettungsboot auf einer Welle schwimmt; die Bootsleute in ihren gelben Jacken halten in der stiebenden Gischt ihre Kapuzen fest. Aber sie muss ja nicht mehr zur Schule gehen.
Der Tod ist ansteckend, Sarah. Das heißt, er verbreitet sich wie eine Krankheit.
Dieses Wissen ängstigt sie am meisten. Denn der Tod hat bei ihnen zu Hause schon einmal zugeschlagen, und wenn man sich anstecken kann wie bei einer Erkältung, dann kann es demnächst einen von ihnen erwischen. Oder beide. Auch ihr Vater scheint das zu fürchten. Deshalb starrt er sie auch so an, und sie starrt zurück. Es ist, als ob die Intensität ihrer Blicke das Monster fernhielte.
Immer bricht ihr Vater den Bann zuerst.
Dann schlurft er davon. Manchmal scheint er frustriert. Einmal hört sie ihn weinen, was ihr noch mehr Angst einjagt, denn Väter weinen doch nicht. Aber ihr Kopf ist genauso voller Todesgedanken wie der ihres Vaters, und sie weiß, dass er ihr nur zu helfen versucht. So wie sie oft miteinander schwierige Sätze gelesen haben, sich geduldig von einem Wort zum nächsten vorarbeiteten, bis sie einen Sinn ergaben. Wenn sie ihn weinen hört, nimmt sie sich vor, sich beim nächsten Mal mehr Mühe zu geben.
Aber es ist schwer, weil sie auch gern weinen würde, jedoch das Gefühl hat, sie sollte das nicht tun. In der vergangenen Woche war sie nachts aufgewacht und hatte geglaubt, in einer Ecke ihres Zimmers ihre Mutter zu sehen, von einem Strahlenkranz umgeben wie eine Heilige. Es war ja nur ein Traum gewesen, aber am nächsten Morgen erzählte sie ihn ihrem Vater, weil sie meinte, er würde gern davon erfahren, und weil sie sich wünschte, er möge sagen, vielleicht sei es Wirklichkeit. Aber er fragte:
Hat sie noch geblutet?
Nein, Daddy, antwortete Sarah. Sie hat gelächelt, wirklich.
Aber statt sich zu freuen, durchsuchte er die Wohnung. Selbst jetzt sucht er noch nach ihr. Er kauert sich vor sein Bett, hebt die Steppdecke, um darunterzuschauen, und spricht dann ins Leere.
Der Tod ist ein Monster, Sarah.
Sie sagt: Aber wie können wir uns gegen ihn wehren?
Das scheint eine sehr wichtige Frage zu sein. Ihr Vater denkt einen Moment darüber nach und beginnt dann zu erklären, so gut er kann. Sie hängt an seinen Lippen.
Es gibt Leute, sagt er, die haben solche Angst vor dem Monster, dass sie versuchen, es zufriedenzustellen.
Wie wenn man zu einem Schläger freundlich ist?, fragt sie. Ja, sagt er, und der Mann, der deine Mutter verletzt hat, war so einer. Aber es gibt Leute, die sich abwenden und weglaufen, weil sie zu große Angst haben, sich dem zu stellen.
Wir dürfen das nicht tun.
Ihr Vater drückt sanft ihre Schulter, damit sie begreift, wie wichtig das ist.
Wir müssen ihm ins Auge sehen. Wir müssen ihn anschauen, verstehst du?
Sie nickt. Aber er hat ihre Frage nicht beantwortet, und jetzt hat sie noch größere Angst als zuvor. Denn es fühlt sich an, als hätte ihr Vater den Kampf schon aufgegeben, er starrt ihr nur immer in die Augen.
Manchmal sieht sie ihn an der Haustür sitzen, wo er durch den Briefschlitz mit Leuten spricht, denen er sagt, es gehe ihm gut und sie sollten weggehen und sie beide in Ruhe lassen. Sie weiß, dass es ihre Tante ist, weil ihr Vater ihr einmal befahl, in den Flur zu kommen und ihr zu sagen, dass alles in Ordnung sei. Aber nie macht er die Tür auf.
Jeden Tag hört Sarah beim Aufwachen, dass er in der Küche auf und ab geht. Die Wohnung riecht nach Zigarettenrauch. Wie blaue Seidentücher hängt er überall, wo ihr Vater war, in der Luft. Morgens, wenn sie noch im Bett liegt, raucht er nur in der Küche. Sie bleibt liegen, bis sie hört, dass das Fenster geöffnet und dann geschlossen wird.
Als sie heute aufwacht, ist es still in der Wohnung.
Eine Stille, die einem in den Ohren dröhnt, wie wenn man sich den Kopf angeschlagen hat; dann hallt es wie eine Glocke. Es ist der Nachhall, den ein Verschwundener hinterlässt.
Sarah schlüpft fast lautlos unter ihrer Decke hervor und schleicht den Flur entlang. Ihr Vater ist nicht in der Küche. Es hängt kein Rauch in der Luft. Die Tür seines Zimmers ist geschlossen. Sie geht darauf zu und klopft leise an. Keine Antwort.
Daddy?
Keine Antwort.
Sie drückt die Klinke hinunter und stößt die Tür auf; sie öffnet sich nur einen winzigen Spalt. Denn dahinter liegt etwas, das sie blockiert und am Aufgehen hindert.
Etwas bringt Sarah schließlich dazu, sich gegen die Tür zu stemmen. Sie begreift, was geschehen ist. Während sie schlief, ist der Tod wieder in ihr Zuhause eingedrungen. Durch den kleinen Spalt kann sie seinen unheilvollen Atem riechen.
Zuerst erstarrt sie und steht regungslos. Dann will sie weglaufen.
Aber sie darf sich nicht abwenden. Mit der ganzen Kraft ihres kleinen Körpers stemmt sich Sarah fester gegen die Tür, denn sie weiß, dass sie es sehen muss.
Sie ist neun Jahre alt.
Und jetzt war sie dreißig.
Das Leben war weitergegangen, aber diese Erinnerungen kamen ihr frischer vor als das, was gestern geschehen war. Sie waren ihr näher. Bildete nicht die Vergangenheit eine Art Schablone für alles, was später folgte? Im Lauf der Zeit fügte man neue Linien hinzu - oder sie wurden ohne eigenes Zutun eingefügt -, aber die alten blieben bestehen, und manchmal hoben sie sich nach und nach deutlicher ab. Man musste sie nur oft genug nachzeichnen.
So kam es, dass das Vermächtnis ihres Vaters, die Entschlossenheit, immer hinzusehen, egal wie schrecklich es sein oder wie schwer es einem fallen mochte, sie nie verlassen hatte. Sondern die Entschlossenheit war gereift und gewachsen und leitete sie immer noch, genauso wie die Gesichtszüge des kleinen Mädchens im Gesicht der erwachsenen Frau noch deutlich erkennbar waren.
Sarah schüttelte den Kopf und faltete dann Alex' Brief zusammen. Er hatte ihn vor zwei Jahren geschickt, an dem Tag, als er Whitrow verließ, und seitdem hatte sie ihn so oft gelesen, dass das Papier schon ganz abgegriffen war. Manche Passagen kannte sie sogar auswendig. Ich danke dir für alles, was du für mich getan hast, und dass du versucht hast, mir zu helfen. Ich hoffe, du kannst das, was ich tue, verstehen und mir vergeben. Aber sie las ihn trotzdem noch einmal, denn heute schien es wirklich gut zu passen. Heute, zwei Jahre danach, würde auch sie aufbrechen.
Wie immer hatte der Brief ihre Erinnerungen geweckt.
Du hattest recht, hatte er geschrieben. Der Tod...
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