Schweitzer Fachinformationen
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Brisbane, 2009
Der Regen fiel in Strömen, er stand wie eine Wand vor ihrer Windschutzscheibe und glänzte im Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Fahrzeuge. Julie Reagan war heilfroh, dass sie diese Vorortstraßen schon ihr Leben lang kannte, und bog in eine von dem sommerlichen Guss überflutete Auffahrt ein. Sie hielt vor einem schönen alten Haus, das auf hohe Pfähle gesetzt war, damit die Luft kühlend unter dem soliden Holzfußboden hindurchströmen konnte. Das Gebäude umgab eine große Veranda, zu der Sandsteinstufen hinaufführten. Auf dem schrägen Dach saß ein verziertes Türmchen. Das alte Queenslander hatte eine herrschaftliche Ausstrahlung, es überragte die anderen Häuser in der Nähe. Auf der Veranda mit den von leuchtend gelben Goldtrompeten umrankten Säulen hatte man einen schönen Blick in die Ferne.
Die junge Frau schlug den Kragen ihrer Baumwolljacke hoch, bevor sie über den durchweichten Rasen zu einem tropfenden Flamboyantbaum und von dort die Treppe hoch auf die vordere Veranda lief. Sie schlüpfte aus den Schuhen und schüttelte sich die tropfnassen schulterlangen braunen Locken, die sich ganz bestimmt in der feuchten Wärme kräuseln würden.
Als Julie die weiße Eingangstür mit den Schnitzereien und den Buntglasscheiben aufzog, hielt sie einen Augenblick inne, um die Fernsehnachrichten aus dem Wohnzimmer zu hören und den Geruch nach überbackenem Käse einzuatmen. Offenbar war ihre Mutter beim Kochen. Die langgestreckte luftige Eingangshalle mit dem polierten Holzboden, dem weißen durchbrochenen Schnitzwerk, der Decke aus den geprägten Metallplatten mit Blumenmuster und dem Läufer, der ihrer Urgroßmutter gehört hatte - alles war ihr seit ihrer Kindheit vertraut.
Ihre Urgroßeltern hatten Bayview vor über hundert Jahren gekauft. Hier hatte ihre Großmutter Margaret gelebt, und jetzt war es das Zuhause ihrer Eltern. Auch wenn alte Queenslander teuer im Unterhalt waren, wollte Julies Mutter Caroline das gemütliche, großzügige Haus, in dem sich seit ihrer Schulzeit kaum etwas verändert hatte, keinesfalls aufgeben. Für Julie war es immer ein ruhender Pol in ihrem Leben gewesen. Auch wenn sie ihre Karriere, ihren Freundeskreis und ihre Unabhängigkeit schätzte, konnte sie sich ein Leben ohne dieses wundervolle Heim als Anlaufpunkt nicht vorstellen.
»Mum? Ich bin's.«
»In der Küche, Jules.«
»Nicht bei den Nachrichten?«
»Ich musste das Essen aus dem Rohr nehmen. Nichts Besonderes, aber dein Vater kommt heute spät, da hab ich für mich selbst eine Kleinigkeit gemacht.« Caroline Reagan betrachtete ihre zweiunddreißigjährige Tochter in der Tür, und es wurde ihr warm ums Herz. Zwar sah sie Julie regelmäßig, doch hin und wieder hielt sie wie jetzt inne und staunte, was für eine hübsche Frau Julie doch geworden war mit ihrem dichten welligen Haar, den leuchtend blauen Augen, dem entschlossenen Kinn und dem großen fröhlichen Mund. Aber da war noch etwas an ihr, was anderen, die ihr zum ersten Mal begegneten, hoffentlich ebenfalls auffallen würde. Sie strahlte Ruhe und Stärke und Warmherzigkeit aus, noch bevor sie ein Wort gesagt hatte.
»Bleibst du zum Essen?«
Julie kam mehrmals in der Woche bei ihren Eltern vorbei, die keinen großen Wert auf Förmlichkeiten legten. Sie wusste, dass ihre Mutter sich stets freute, wenn sie sie bekochen durfte. Im Kühlschrank fanden sich immer leckere Reste oder die Zutaten zu einem schnellen Gericht.
»Ich hatte es eigentlich nicht vor, aber es riecht so gut, und der Regen ist scheußlich. Wenn ich nicht störe, bleib ich ein bisschen.«
»Du störst doch nie, Liebes. Ich hatte gehofft, dass du vorbeikommst.«
»Aus einem bestimmten Grund?« Julie hörte am Ton ihrer Mutter, dass es Neuigkeiten gab. »Hast du etwas von Adam und Heather gehört?« Denn Caroline hoffte, dass ihr in Südaustralien verheirateter Sohn endlich verkünden würde, dass ein Baby unterwegs war.
»Ja. Aber nichts Weltbewegendes. Sie haben ein paar wunderbar erhaltene alte Balken aufgetrieben, die sie bei ihrer Renovierung gut gebrauchen können.«
Julie schmunzelte in sich hinein. Für ihre Mutter war es vielleicht nichts Besonderes, aber sie ahnte, wie sich Adam gefreut hatte, einen solchen Schatz für das Lehmziegelhaus zu entdecken, das er und Heather in den Adelaide Hills herrichteten. »Und gibt's was Neues bei dir?«
»Ich erzähl's dir gleich. Gieß uns doch bitte einen Schluck zu trinken ein. Und wie geht's in der Arbeit«, fragte Caroline.
»Immer dasselbe. Hektik. Neue Firmen auf dem Markt zu plazieren ist hartes Brot.«
»Na ja, genau dafür wird ein Marketing Consultant wohl bezahlt. Für seine guten Ratschläge.« Die Mutter wischte sich die Hände am Geschirrtuch ab und ging vor ins Wohnzimmer. Julie folgte ihr mit zwei Gläsern kühlem Weißwein.
Caroline schaltete den Fernsehapparat aus und setzte sich aufs Sofa. »Gleich bring ich das Essen. Nur Käsemakkaroni und ein bisschen Salat. Aber lies zuerst das.« Sie reichte Julie einen Brief, der auf dem Couchtisch gelegen hatte.
Julie stellte ihr Glas hin. »Kennst du den Absender?«
»Nein. Aber es ist ein interessantes Schreiben.«
Julie überflog den Briefkopf. Ein Dr. David Cooper von einer Universität in Queensland hatte geschrieben. Neugierig fing sie zu lesen an:
Liebe Mrs. Reagan,
Ich hoffe, Sie stören sich nicht daran, dass ich Ihnen schreibe. Ich bin außerordentlicher Professor für Anthropologie und befasse mich zurzeit mit den Iban in Borneo, wobei mein besonderes Interesse den veränderten Methoden des Ackerbaus und dem Wandel der Sozialstruktur und des Lebensstils nach dem Verlust ihres Lebensraums und der Umsiedlung aus Sarawak gilt, wo sie früher am Fluss und im Dschungel gelebt haben. Bei meinen Forschungen in Malaysia bin ich auf ein dünnes Buch von Bette Oldham gestoßen, Mein Leben bei den Kopfjägern von Borneo. Es ist in den Siebzigern erschienen, und sie schildert darin, wie sie eine Zeitlang bei einem Iban-Stamm in Sarawak gelebt hat.
Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, war Bette Oldham Ihre Tante. Natürlich bin ich sehr daran interessiert, mehr über sie und ihre Arbeit zu erfahren. Falls Sie mir dabei helfen könnten, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Bitte setzen Sie sich doch unter oben genannter Adresse, E-Mail oder Telefonnummer mit mir in Verbindung.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Dr. David Cooper
»Guter Gott!«, rief Julie aus. »Ist das die Tante Bette, über die Gran immer die Nase gerümpft hat? Hast du gewusst, dass sie in Borneo bei den Kopfjägern war? Das klingt ja total spannend.«
»Mutter hat immer erzählt, ihre Schwester wäre nicht zu bändigen gewesen und hätte Schande über die Familie gebracht«, antwortete Caroline. »Aber ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie eigentlich getan hat.«
»Gran hat es nie erwähnt?«
»Bis zu dem Brief habe ich nichts davon geahnt.«
»Erinnerst du dich an Tante Bette?«
»Vage. Aus der Zeit, als ich noch ganz klein war und in Malaysia lebte. Bevor Mutter wieder hierherzog.«
»Na ja, Gran hat von ihr immer nur als >meine grässliche Schwester< oder >dieses schreckliche Weib< gesprochen, wenn sie sie überhaupt mal erwähnt hat«, überlegte Julie. »Sie scheint sie nicht besonders gemocht zu haben.«
»Kann man nicht behaupten, nein. Komisch, dass jetzt dieser David Cooper das Thema Tante Bette aufbringt. Um ehrlich zu sein, denke ich nicht oft an meine Familie in Malaya. Beziehungsweise Malaysia, wie es jetzt heißt«, meinte Caroline.
»Kein Wunder. Wir sind viel zu sehr mit unserem Alltagskram beschäftigt, oder?«, erwiderte Julie. »Wirst du dich bei ihm melden?«
»Nein. Was könnte ich ihm schon erzählen? Ich erinnere mich kaum an sie. Und Mutter konnte sie auf den Tod nicht ausstehen, sie brachte es ja kaum über sich, auch nur ihren Namen zu erwähnen.«
»Ich wüsste gern, wie dieser David Cooper auf uns gekommen ist.« Julie faltete den Brief zusammen und steckte ihn in ihre Tasche. »Aber können wir jetzt essen? Ich sterbe vor Hunger.«
Es dauerte ein paar Tage, bis sie sich die Zeit nahm, David Coopers Brief aus der Handtasche zu kramen und ihn anzurufen.
»Dr. Cooper? Hier spricht Julie Reagan. Sie haben meiner Mutter geschrieben, wegen meiner Großtante Bette .«
»Ja, genau. Wie schön, so schnell von Ihnen zu hören. Wenn man dem Buch glauben darf, scheint Ihre Tante ja eine ganz bemerkenswerte Frau gewesen zu sein. Ich würde wirklich gern mehr über sie erfahren. Darf ich fragen, ob sie noch lebt?«
»Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung. Es würde mich wundern, denn dann wäre sie steinalt. Sie war zwar die Schwester meiner Großmutter, aber leider hatten die beiden sich so sehr entfremdet, dass ich gar nichts über sie weiß und meine Mutter sich kaum an sie erinnern kann. Deshalb waren wir so überrascht, von ihrem Buch zu hören. Wo kann man denn ein Exemplar bekommen?«
»Das dürfte schwierig werden. Ich kannte den Titel und habe über ein Jahr im Netz danach gesucht. Und dann habe ich es zu meiner großen Freude im Buchladen des Sarawak-Museums in Kuching entdeckt. Aber Sie dürfen sich gern mein Exemplar ausleihen. Es ist nur ein dünnes Bändchen, aber sehr aufschlussreich.«
»Ja, das würde ich gern. Darf ich fragen, wie Sie meine Mutter aufgespürt haben?«
»Das war nicht schwer. Vorn im Buch steht eine Widmung: Für Philip Elliott auf der Plantage Utopia in Malaysia. Ich habe mit der Plantage Kontakt aufgenommen, sie ist recht bekannt und...
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