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Eine Woge baute sich auf, und der Junge beugte sich über den Bootsrand, um im glatten Tal der Welle kurz vor ihrem Überschlag einen Blick auf sein Spiegelbild zu erhaschen. Eine Sekunde lang glaubte Giuseppe d'Aquino, ihm starre ein alter Mann entgegen. Das Gesicht mit den hervortretenden hellblauen Augen, den aufgedunsenen Lippen und den feisten Wangen wirkte seltsam vertraut; sein fragender Ausdruck zeigte zugleich einen Anflug von Enttäuschung.
Plötzlich wuchs die schaumgekrönte Welle zu doppelter Größe an, prallte gegen die hölzerne barca und schob das kleine Fischerboot ein Stück seitwärts. Das Gesicht verschwand im Spritzwasser, rasch packte eine Hand den Jungen hinten am Hemd.
»Giuseppe! Du musst aufpassen!« In dem aufkommenden Wind hörte der Junge nur Fetzen von der Ermahnung seines Vaters, der ihn unter die kleine Abdeckung am Bug schob. Die überdachte Fläche bot gerade genug Platz für ein paar Essens- und Wasservorräte sowie eine Laterne.
»Leg dich hin. Es wird regnen, aber das ist gleich wieder vorbei.«
Obwohl die See immer unruhiger wurde und es wie aus Kübeln schüttete, so dass man hinter der grauen Regenwand den Himmel nicht mehr sah, pflügte das kleine Boot durchs Wasser. Kurz ritt es auf einem Wellenkamm, bevor es krachend ins Wellental hinuntersank, um gleich wieder von einer sich auftürmenden Woge emporgehoben zu werden.
Der Junge rollte sich zusammen und vergrub das Gesicht in den Armen, dabei atmete er den ihm so vertrauten salzig-fischigen Geruch ein. Er stellte sich vor, er könne durch den Boden der Barke sehen, hinunter in das aufgewühlte Meer bis zum Boden, wo die Geschöpfe der Tiefsee lebten. Über viele Fische, die unter ihnen schwammen, wusste er dank seines Vaters Bescheid. Da gab es welche, deren Leiber knapp unter der Wasseroberfläche schnell hin und her zuckten, und andere, die auf halber Höhe zwischen Meeresboden und Wasseroberfläche ihre Runden zogen und gierig die auf und ab hüpfenden Köder beäugten; sowie jene, die am Meeresgrund auf der Lauer lagen - versteckt in Spalten, im Sand vergraben und von Korallen verdeckt.
Er hörte seinen Vater fluchen, als ihr Boot nach einem kurzen Flug durch die Luft in eine Welle krachte, so dass der hölzerne Rumpf erzitterte. Giuseppe fiel der Tag ein, an dem die Männer brüllend und mit Verwünschungen auf den Lippen in den Hafen zurückgekehrt waren. Angstvoll hatten die Dorfbewohner am Ufer gewartet, denn die Nachricht von einem Unfall auf der stürmischen See, einem über Bord gegangenen Mann, hatte die Runde gemacht. Onkel Salvatore war so rasch über Bord gespült worden, dass jede Rettung zu spät kam.
Das Meer war seine Gegenwart und seine Zukunft, das war Giuseppe klar, trotz der Gefahren der See und obwohl er wusste, wie viele Männer aus dem Dorf schon darin umgekommen waren. So war es auch schon für seinen Vater, seinen Großvater und seinen Urgroßvater gewesen. Die Inselbewohner lebten mit dem Meer, für das Meer und von ihm. Keiner verlangte oder erwartete mehr als das, was immer schon gewesen oder geschehen war.
Während Giuseppe reglos auf dem Boden des Fischerbootes ausharrte und darauf wartete, dass der Himmel hinter den dahinjagenden Regenwolken aufklaren und sich die See beruhigen würde, fühlte er sich erwachsen. Er war zehn Jahre alt, und endlich hatte ihn sein Vater zur Jagd auf den Roten Thun mitgenommen. Dann ließ der Sturm tatsächlich nach, die Wolken zogen weiter, und an einem dämmrig-grauen Himmel blinkten die ersten Sterne. Sein Vater nickte ihm zu, und Giuseppe setzte sich still hin, während die anderen Fischer - seine beiden älteren Brüder und sein Onkel Rocco - unbeirrt weiter aufs Mittelmeer hinausruderten. In der einbrechenden Dunkelheit war ihre Heimatinsel, eine der vor Sizilien verstreuten Äolischen Inseln, bald nicht mehr zu sehen.
Auch die anderen Boote, die mit ihnen zusammen hinausgefahren waren, konnte Giuseppe nicht mehr ausmachen, aber er hörte die Männer dort an Bord, die sich übers Wasser etwas zuriefen. Eifer und Aufregung schwangen in ihren Stimmen mit. Ganz gleich, wie oft sie sich schon aufgemacht hatten, um einen der großen Könige des Meeres zu fangen, der Kitzel dieser Jagd ließ nie nach, ebenso wenig wie die Gefahr.
»Jetzt müssen wir die Köder angeln, sonst können wir keinen tonno anlocken«, erklärte sein Vater.
Giuseppe wusste, dass sein Vater damit die kleinen silbrigen Fische meinte. Sie wurden von dem Lichtschein angelockt, den die Laternen der Fischer auf die Meeresoberfläche warfen. Er hatte keine Ahnung, woher sein Vater wusste, dass es hier welche gab. Rasch wurden seitwärts die Netze ausgebracht, um die winzigen Fische zu fangen.
»Vorsicht, Vorsicht«, rief sein Vater, als die Männer die Netze zurück an Bord hievten. Doch alle Fischer wussten, dass man bedachtsam vorgehen musste, um zu verhindern, dass die zierlichen Fische in Panik durchs Netz zu schlüpfen versuchten und in einem glänzenden Schuppenregen verendeten. Und so legten die Männer die kleinen Fische vorsichtig in eigens dafür gefertigte Körbe, die direkt unter der Wasseroberfläche seitlich am Boot befestigt waren.
Sobald die Fische verstaut waren, rollten sich die Männer auf dem Boden des Bootes zusammen, um ein paar Stunden zu schlafen. Wenn sie am nächsten Morgen auf der Suche nach dem mächtigen Roten Thun weiter gen Westen ruderten, würden sie all ihre Kräfte brauchen. Trotz der unbequemen Lage schliefen sie gut und träumten von dem bevorstehenden Kampf.
Noch vor Tagesanbruch wurden sie von Giuseppes Vater geweckt und teilten ein bescheidenes Frühstück aus Brot und Käse. Als dann ein erster Lichtstreifen den Horizont rosa färbte, ruderten sie los.
»Halt die Augen offen, mein Sohn«, sagte Giuseppes Vater. »Beobachte die Seevögel. Morgens treibt der große tonno gern direkt unter der Wasseroberfläche, um sich nach der nächtlichen Fischjagd aufzuwärmen. Die Seevögel sehen seine Flosse und fliegen hin, um sich die Sache näher anzuschauen. Wenn wir also die Vögel sehen, fahren wir ebenfalls hin.«
Giuseppe suchte den Horizont ab, bis seine Augen schmerzten, aber er konnte nichts entdecken. Plötzlich rief einer seiner Brüder »Schaut, dort« und deutete in Richtung Norden.
Giuseppe sah immer noch nichts. Die Ruderer legten sich mächtig in die Riemen und steuerten in die von seinem Bruder angezeigte Richtung, und da sah schließlich auch Giuseppe mehrere Seevögel ins Wasser tauchen.
»Ich kann die Vögel sehen!«, rief er aufgeregt.
»Still«, zischte sein Vater. »Wenn hier tonno ist, wollen wir ihn nicht aufschrecken.«
Ihr kleines Boot näherte sich den tauchenden Seevögeln, und die Männer sahen, dass dort tatsächlich eine Schule Thunfische schwamm. Da jedes Boot nur einen der Fische attackieren konnte, die immerhin bis zu fünfhundert Kilo wogen, mussten die Fischer einen passenden Fang auswählen und ihn unauffällig von seiner Schule trennen. Dabei galt es, die übrigen Thunfische nicht zu erschrecken, weil ansonsten alle in unerreichbare Tiefen abtauchen würden.
Während die Männer mit dem schweren Holzboot auf einen riesigen Fisch zuhielten, wartete einer von Giuseppes Brüdern neben einem der Körbe mit Fischködern. Alles hing nun von seinem Augenmaß und seiner Präzision ab. Seine Aufgabe war es, den Thunfisch zum Boot zu locken, indem er ein paar kleine Fische ins Wasser warf. Es war eine Fähigkeit für sich, abzuschätzen, wie viel Fisch genau notwendig war, damit der Thunfisch nah genug ans Boot kam und der Harpunier ihn erwischte. Man hatte nur eine Chance.
Die kleinen silbrigen Fische glitzerten im sonnenbeschienenen Wasser. Der Thunfisch sah sie in die Freiheit schwimmen, schoss auf sie zu und schnappte nach ihnen. Noch mehr Fische wurden dem Thunfisch vorgeworfen, damit er näher zum Boot schwamm. Dann nahm Giuseppes Bruder einen der Köderfische aus dem Korb und quetschte ihm die Augen aus, bevor er ihn ins Meer warf. Orientierungslos schwamm der nun blinde kleine Fisch nicht vom Boot weg, sondern zog daneben ein paar Kreise. Lautlos holten die Ruderer ihre Riemen ins Boot. Ohne Verdacht zu schöpfen, ließ sich der Thunfisch von dem Köder locken. Mit einem Satz schnellte er darauf zu, fast hätte er in seiner Gier das Boot gerammt. Vor Aufregung atemlos, begriff Giuseppe, dass dies der entscheidende Augenblick war: Jetzt konnten sie den tonno fangen.
Er beobachtete seinen ältesten Bruder, der mit einer Harpune, einer traffena, am Bug stand. Eine furchteinflößende Waffe, die einer Heugabel ähnelte, nur dass sie sieben Zinken hatte, jede mit einem Widerhaken an der Spitze. Mit all dem Selbstvertrauen, das sich der junge Fischer im Lauf der Jahre erworben hatte, stellte er sich breitbeinig hin und schleuderte die Harpune auf den Thunfisch. Er hatte auf die verwundbare Stelle am Hinterkopf gezielt, wo das Rückenmark ins Hirn überging. Denn nur an dieser Stelle war der Fisch verwundbar, wie Giuseppe von seinem Bruder wusste. Er war stolz auf seine Geschicklichkeit als Harpunier; der Vater war ein guter Lehrer gewesen.
Der Thun war getroffen. Es fiel Giuseppe schwer, einen Schrei zu unterdrücken. Obwohl alle anderen ebenfalls innerlich jubelten, blieben sie angespannt und wachsam, denn noch war der Fisch nicht an Land gebracht.
In dem verzweifelten Versuch, den Angreifern zu entkommen, tauchte der verletzte Thunfisch tief hinunter, so dass die Harpunenleine durchs Wasser zischte. Doch da die Fischer wussten, wie tief ein Thun abtauchen konnte, war die Leine an der traffena aus bestem italienischen Hanf und dreihundert Meter lang....
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