Schweitzer Fachinformationen
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1958
Ganz langsam öffnete sich die in die Bibliothek führende Flügeltür aus dunklem Holz, und durch den Spalt drang der etwas muffige Geruch von altem Samt, Leder und Möbelpolitur in den Korridor. Einen kurzen Moment lang wurde ein schmaler Lichtstreif sichtbar, ein Schatten huschte ins Zimmer, dann drückten kleine Hände die Messingklinken behutsam nach unten, um beim Zumachen möglichst kein Geräusch zu verursachen, und schlossen den Raum wieder von der Außenwelt ab.
Obwohl es drinnen dunkel war, bewegte sich die kleine Gestalt mit sicherem Schritt auf die üppigen bordeauxroten Vorhänge zu, griff nach einer der schweren Stoffbahnen und zerrte sie zur Seite. So unerwartet wie ein plötzlicher Gewehrschuss ergoss sich ein Schwall gleißendes Sonnenlicht ins Zimmer.
Der Strahl erhellte den Raum, sodass sich die Möbelstücke - ein sperriger Schreibtisch, eine Stehlampe und ein niedriger Beistelltisch - aus dem Dunkel hervorhoben. Zwei Wände des Raumes wurden vollständig von Bücherregalen eingenommen, an einer dritten standen zu beiden Seiten eines Kamins bleiverglaste Bücherschränke. Hinter den schweren Gardinen, die den Ausblick auf eine gepflegte Gartenlandschaft verborgen hatten, kam eine hohe Fensterwand zum Vorschein. Es war, als sei ein Bühnenvorhang aufgezogen worden, um für ein Publikum, das nie kommen würde, die Welt der Bibliothek und die Schönheit des Gartens zu enthüllen.
Die winzige Gestalt in kurzen Hosen, gestärktem Hemd und wollenen Kniestrümpfen schob die kleine Trittleiter vor eine der Bücherwände, kletterte dann auf die dritte Stufe, beugte sich vor und griff, ohne zu zögern, nach einem in rotes Leder gebundenen Buch mit goldenen Lettern auf dem Rücken. Drei Bücher weiter stand eines mit schwarzem Einband, und auch dieses wurde aus dem Regal gezogen. Der Junge ging zielstrebig auf einen der Bücherschränke neben dem Kamin zu, drehte den Schlüssel, um die Glastür zu öffnen, und fügte dem kleinen Stapel zu seinen Füßen drei weitere Beutestücke hinzu. Anschließend schleppte er den Bücherberg zum Fenster, wo er sich, eingerahmt vom lockeren Faltenwurf der Samtvorhänge, zurücklehnte und das oberste der Bücher ins Sonnenlicht hob, das über seine Schultern hereinfiel.
Zuerst hielt er es nur auf den Knien und ließ andächtig die Hände über den Einband gleiten. Dann schlug er den schweren Buchdeckel auf und beugte sich hinunter, um den würzigen Geruch von Leder und altem Papier einzuatmen und endlich mit erwartungsvoller Vorfreude bedächtig das dünne Seidenpapier zurückzuschlagen und das Bild auf der Titelseite freizulegen.
Ein verträumtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, während er es eingehend betrachtete. Es zeigte eine um einen langen Küchentisch versammelte Familie mit einem vergnügt aussehenden Vater, der ein langes Tranchiermesser in der Hand hielt, mit dem er gleich den vor ihm stehenden knusprig gebratenen, dampfenden Truthahn zerteilen würde. Der Junge hatte sich die um den Tisch versammelten Menschen schon oft angesehen - die freundlich lächelnde Mutter, die gespannten Mienen der Kinder - und sich immer gefragt, wie sie wohl hießen und was sie zueinander sagten. Er schloss die Augen und atmete tief ein, nahm die Wärme der Küche in sich auf, den Duft des gebratenen Puters und der im Kamin gerösteten Kastanien, und einen kurzen Augenblick lang meinte er, sogar in der Stille der Bibliothek den Widerhall ihres fröhlichen Geplappers und Gelächters zu hören.
Er schloss das Buch, hob das nächste auf den Schoß und blätterte die Seiten aufmerksam durch, bis er unter den Federzeichnungen sein Lieblingsbild gefunden hatte. Diese Familie scharte sich um einen einfachen Herd, in dem ein helles Feuer brannte. Der Vater hielt eine henkellose Tasse in die Höhe, mit der er den anderen zuprostete. Ganz dicht neben ihm kauerte auf einem Hocker ein kleiner Junge. Er war krank, seine Beine mussten von Metallschienen gestützt werden, und zu seinen Füßen lag eine kleine Krücke. Der Mann umklammerte die schmale Hand seines Sohnes fest mit der seinen, als liebte er ihn so sehr, dass er ihn nie mehr loslassen wollte. Der kleine Junge sagte etwas zu seiner Familie und blickte dabei hingebungsvoll zu seinem Vater auf.
Unter dem Bild standen Buchstaben, die Wörter formten, und diese ergaben einen Satz: »Gott segne uns alle!«, sagte Tiny Tim. Aber für den Jungen mit dem Buch waren es Hieroglyphen. Wie gerne hätte er erfahren, was der kleine Junge gerade sagte. Wurde er wohl je wieder gesund? Aber auf die Antwort würde er warten müssen, bis er selbst lesen gelernt hatte und die zwischen den Buchdeckeln verborgenen Schätze bergen konnte.
Schuldbewusst blickte er auf, und als hätte er die Strafe heraufbeschworen, wurde die Tür zur Bibliothek aufgerissen.
»Hab ich dich erwischt! Du ungezogener Bursche!«, dröhnte eine wütende Stimme. Im Türrahmen stand eine bedrohlich aufragende Gestalt, und der Junge sprang eilig auf die Füße, wobei er gleichzeitig versuchte, die Bücher hinter seinem Rücken zu verstecken.
Ein hoch gewachsener Mann stürzte auf ihn zu und packte ihn am Kragen. »Du weißt ganz genau, dass du hier nichts zu suchen hast. Das sind wertvolle Bücher. Du hast hier nichts anzufassen.« Die Stimme des Mannes wurde noch lauter. »Mrs. Anderson«, rief er. »Mrs. Anderson!«
Er stieß das Kind auf die Tür zu. Im Korridor vernahm man jetzt Schritte, die eilig näher kamen, und eine besorgte Stimme. »Ich komme schon, Sir.«
Die Haushälterin hastete ins Zimmer, sie wirkte aufgeregt. Einzelne mit Grau durchsetzte Strähnen hatten sich aus ihrem Haarknoten gelöst, auf ihrem runden, rosa angelaufenen Gesicht glänzten Schweißperlen, und sie wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Ach, Richie, was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?«, fragte sie tadelnd.
Phillip Holten hielt den Jungen am Kragen gepackt wie einen streunenden Welpen. Er schob ihn ihr entgegen. »Bringen Sie ihn auf sein Zimmer. Er darf erst wieder herunter, wenn ich es sage.« Dann drehte er den mit gesenktem Kopf vor ihm stehenden Jungen zu sich hin und starrte ärgerlich auf ihn nieder. »Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir spreche, Richard.«
Zögernd hob der Junge, um dessen Mundwinkel es bereits verdächtig zuckte, das Kinn und sah aus blauen Augen eingeschüchtert zu ihm auf.
Der Mann senkte die Stimme und sprach langsam und deutlich. »Ich verbiete dir, diese Bücher anzufassen oder dieses Zimmer zu betreten. Hast du mich verstanden?«
Der Junge nickte.
»Antworte bitte, wenn ich mit dir spreche.«
»Ja, Sir«, sagte der Kleine mit bebender Stimme. »Ich wollte mir nur die Bücher mit den Bildern .«
»Das reicht. Du lernst lesen, wenn ich es dir sage, und dann wirst du Bücher lesen, die für Kinder geeignet sind. Du bekommst eine Hauslehrerin, die dich auf eine gute Schule vorbereiten wird. Bis dahin tust du, was dir gesagt wird. Verstanden?«
»Ja, Sir«, kam es unterwürfig zurück.
»Und jetzt entschuldige dich, mein Herzchen«, erinnerte ihn Mrs. Anderson, nahm dabei seine Hand und drückte sie liebevoll.
»Es tut mir Leid, Sir.«
»Ab nach oben. Sorgen Sie dafür, dass das Zimmer wieder in Ordnung gebracht wird, Mrs. Anderson.«
»Ja, Mr. Holten. Ich bringe ihn nur vorher noch auf sein Zimmer.«
Sie führte den Jungen an der Hand nach oben. Als sie hörte, wie die Tür zum Arbeitszimmer geschlossen wurde, bückte sie sich und hob ihn hoch. »Warum bist du denn auch da hineingegangen, mein Spätzchen? Du weißt doch, dass du das nicht darfst. Du hast so viele Spielsachen und schöne Bücher im Kinderzimmer. Du kletterst wohl gern die Trittleiter hoch? Ich weiß ja, dass du dir nichts Böses dabei gedacht hast, aber der Spaß ist es doch nicht wert, dass er jetzt zornig und wütend auf dich ist.«
Der Junge schmiegte sein Gesicht an ihre warme Schulter. »Denk nicht mehr daran, Spätzchen. Ich bringe dir ein leckeres Abendessen aufs Zimmer, und wenn du brav bist, bekommst du vielleicht noch eine Überraschung.«
An der Tür zum Kinderzimmer setzte sie ihn keuchend wieder ab.
Zurück in der Bibliothek, zog Mrs. Anderson die Vorhänge wieder vor, stellte die Trittleiter an ihren Platz zurück und hob die Bücher auf. Sie blätterte ein wenig darin herum und fragte sich dabei, warum der Junge ausgerechnet diese ausgesucht hatte. Sie spürte einen Kloß im Hals, als sie die Bilder betrachtete. »Armer kleiner Spatz«, seufzte sie. »So ein Leben hätte er bestimmt selbst gern. Das wäre für uns alle schöner .« Sie schob die Bücher wieder ins Regal und ging das Abendessen vorbereiten.
Weit davon entfernt, sein einsames Mahl als Strafe zu empfinden, genoss es Richie sogar. Auf dem Tablett, das ihm Mrs. Anderson auf den niedrigen Tisch gestellt hatte, fand sich unter einem gestrickten Eierwärmer ein weich gekochtes Ei und daneben eine in schmale Streifen geschnittene Scheibe Toastbrot. Dazu ein Schälchen Pudding mit Apfelkompott, ein Becher mit heißer Schokolade, und als besondere Überraschung stand neben dem Ei ein mit bunten Zuckerstreuseln verzierter Muffin in einem Papierförmchen.
Dann ließ sie Richie allein, der langsam und mit Vergnügen zu essen begann und die Toaststreifen gerade so tief in das Ei stippte, dass das Eigelb nicht oben herausquoll, genau wie Mrs. Anderson es ihm gezeigt hatte. Er spielte mit seinem Essen, summte vor sich hin, leckte sich die Finger ab und ließ Blasen in seinem Kakao blubbern. Das war doch viel schöner, als im kalten, ungemütlichen Esszimmer zu essen, wie er es fast jeden Abend...
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