Schweitzer Fachinformationen
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Das Abendlicht erfüllte das Abflugterminal des Flughafens Adolfo Suárez mit orangefarbenen Schatten. Wie Figuren auf einem Schachbrett glitten die Menschen über den glänzenden Linoleumfußboden, um ihren Reisezielen näher zu kommen. Ein gequältes Lächeln kräuselte Lenas Lippen. Alle hier hatten ein klares Ziel vor Augen - nur sie nicht. Von dem unbequemen Plastikstuhl in der Halle aus beobachtete sie das Kommen und Gehen, während sie darauf wartete, dass irgendein Flugzeug sie aus Madrid fortbrachte. Egal, wohin.
«María Magdalena Vázquez de Lucena.»
Lena betrachtete die Daten in ihrem Pass und flüsterte ihren Namen. «Wer bist du?», fragte sie sich und strich mit dem Zeigefinger über das Foto. Das Bild zeigte eine junge, lächelnde Frau, die keine Probleme zu kennen schien. Und so war es auch gewesen, bis ihre perfekte Existenz vor fünf Monaten abrupt in sich zusammengefallen war.
Der Tod ihres Vaters war der Wendepunkt in Lenas Leben gewesen. Im krassen Gegensatz zu seiner sonstigen Art ging ihr Vater ohne Ankündigung, ohne Planung. Am Morgen des 1. Januar stand er nicht wie gewöhnlich früh auf. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen, während alle Welt die Ankunft des neuen Jahres feierte und er selbst schlief.
An jenem Abend waren Lena und ihr Verlobter Alberto mit Freunden zu einer Party gefahren. Es war das letzte Silvester vor ihrer Hochzeit, und er wollte es ganz groß auf dem Ball des Casino de Madrid feiern. Danach waren sie in Albertos Penthouse in der Calle Alcalá gefahren. Am Neujahrstag hatte Lenas Handy sie gegen Mittag geweckt.
«Lena, Liebes, komm nach Hause.» Die Stimme ihrer Mutter klang gebrochen. «Dein Vater hatte einen Unfall.»
In der Dusche auszurutschen war ein Unfall oder ein Treppensturz, aber nicht ein Herzinfarkt im Schlaf. Das war weit mehr als ein Unfall, dachte Lena bitter. Und dennoch, ihre Mutter hatte ihr am Telefon keine Todesnachricht überbringen wollen und sagte ihr die furchtbare Neuigkeit erst, als sie zu Hause ankam.
Als Lena ihren Vater im Bett liegen sah, dachte sie, er schliefe. Er konnte nicht tot sein. Nein, das war unmöglich. Sie setzte sich zu ihm ans Bett und vergoss nicht eine Träne, überzeugt davon, dass er jeden Moment die Augen aufschlagen und alle auslachen würde, die auf seinen Scherz hereingefallen waren. Lena weinte nicht, bis sie den Sarg im Krematoriumsofen verschwinden sah. Erst dann verstand sie, dass ihr Vater nicht wieder aufstehen würde, dass er für immer gegangen war. Erst dann begann sie zu weinen und tat wochenlang kaum etwas anderes.
Der Verlust ihres Vaters war das Schlimmste, was Lena je widerfahren war. Sie war das einzige Kind des erfolgreichen Unternehmers und einer Dame aus der höheren Gesellschaft Madrids, weshalb sie ihre ersten achtundzwanzig Lebensjahre wie auf weicher und angenehm warmer Watte verbracht hatte.
Obwohl sie die Alleinerbin der Brotfabrik Vázquez war, hatte ihr Vater sie nie zu einer Unternehmerkarriere gedrängt. Nachsichtig und großzügig, wie er war, hatte er seine Tochter darin bestärkt, ihren eigenen Weg zu gehen. Trotzdem wusste Lena, dass er ihr gerne die Firma vermachen wollte, und schrieb sich daher mit achtzehn fürs Jurastudium ein. Warum sie das getan hatte? Vielleicht wegen dieses Fluchs der Einzelkinder, der bewirkte, dass sie mehr noch als eigene Sehnsüchte die Wünsche ihres Vaters erfüllen wollte, um diesen geliebten Menschen glücklich zu sehen.
Mit zweiundzwanzig schloss sie ihr Studium ab und begann, im Familienunternehmen zu arbeiten. Aber ihr freier Geist verkümmerte zwischen Bilanzen und Meetings, und das bemerkte ihr Vater schnell. Lenas Faszination für die Kunst und für jegliche Möglichkeit des Menschen, die Realität zu verschönern, war so ausgeprägt, dass es unmöglich war, sie zu ignorieren. Also kam ihr Vater eines Tages mit einem Aufnahmeformular der Kunsthochschule zu ihr ins Büro und blieb so lange, bis Lena es ausgefüllt hatte.
«Nichts macht mich so glücklich, wie dich hier bei mir zu haben, und ich weiß, dass ich keinem anderen Anwalt trauen werde wie dir, aber du musst hier raus, sonst gehst du ein», sagte Señor Vázquez mit dieser Überzeugung, die er all seinen Worten verlieh.
So kam es, dass Lena mit vierundzwanzig Jahren noch einmal an die Uni zurückkehrte, obwohl ihre Mutter dagegen war und fand, sie solle lieber ihre Hochzeit vorbereiten. Ihr Vater hingegen war stolz auf ihre Ausbildung, vielleicht weil ihm selbst der Hochschulbesuch verwehrt worden war, da er die damals noch kleine Bäckerei seiner Familie übernehmen musste. Er hatte immer hart gearbeitet und aus seiner Firma eine der größten und rentabelsten des Landes gemacht. Don Octavio Vázquez Coria gab gerne damit an, als Erster das Aufbackbrötchen auf den Markt gebracht zu haben, eine Idee, die ihm ein Vermögen einbrachte. Seine Geschichte erzählte er stets in lebhaften Anekdoten. Er hatte einen großartigen Sinn für Humor und liebte Wortspiele. Eine Angewohnheit, die Vater und Tochter wunderbare gemeinsame Momente bescherte.
Lenas Mutter allerdings war «aus einem anderen Korn gebacken», wie ihr Vater es ausdrückte. María Elvira de Lucena Sánchez y Zurbarán entstammte einer Adelsfamilie, der wie vielen anderen Blaublütern nur noch ein Haufen Nachnamen und wenig Geld geblieben war. Streng und konservativ erzogen, war sie weit reservierter und distanzierter als ihr Ehemann. Sie machte kein Geheimnis daraus, dass sie ihren Gatten vor allem seines Vermögens wegen geheiratet hatte, und verurteilte jeden gesellschaftlichen Vormarsch in Richtung Geschlechtergleichstellung. Sie hatte nie aufgehört, über Lenas lange universitäre Ausbildung zu klagen. Für sie war die Suche nach einem geeigneten Mann der einzig annehmbare Grund für eine Frau, überhaupt eine Universität zu betreten. Aber nicht einmal den konnte ihre Tochter geltend machen, denn Alberto hatte sie bereits lange vorher kennengelernt.
Für Lena war die Zeit an der Kunsthochschule die glücklichste in ihrem Leben. Umgeben von den großen Kunstwerken der Menschheit, zwischen den sicheren Pinselstrichen eines Landschaftsgemäldes und den beschwingten marmornen Kurven einer Skulptur konnte ihr Geist der profanen und materiellen Welt der Familiengeschäfte entfliehen. Sie genoss ihr Studium so sehr, dass es sie sogar äußerlich veränderte. Ihr akkurat geschnittener Bob wuchs zu einer krausgelockten blonden Mähne heran. Die eleganten Kostüme tauschte sie gegen einen vielfarbigen Lagenlook ein, was ihre Mutter entsetzte, ihren Vater jedoch sehr amüsierte.
«Du gleichst einem impressionistischen Gemälde, mein Herz», sagte er einmal, als sie ihn im Büro besuchte. «Du erleuchtest den Raum durch deine bloße Anwesenheit.»
Lena lachte. «Lieber ein impressionistisches als ein kubistisches Werk.»
Aber ihr ironischer Kommentar wirkte nicht auf ihren Vater.
«Du warst schon immer mehr an der Schönheit der Welt als an deiner eigenen interessiert», sagte Don Octavio mit ernster Miene. «Du merkst gar nicht, wie viel Bewunderung du hervorrufst, und das macht dich noch bezaubernder. Eines Tages wirst du einen Mann verrückt machen und ihm den Verstand rauben.»
«Papa», sagte Lena, «ich kenne doch schon einen besonderen Mann, und ich hoffe, dass er verrückt nach mir ist.»
Don Octavio lächelte leicht. «Alberto ist ein guter Junge, aber ich bezweifle, dass irgendetwas ihm den Verstand rauben könnte, geschweige denn irgendjemand.»
Diese Antwort stürzte Lena in tagelange Grübelei: über Alberto, ihre Beziehung und vor allem über die Frage, was es sein mochte, das ihr Vater so deutlich in ihrem Verlobten zu sehen meinte und das ihr selbst verborgen blieb. Sie kannten sich von Kindesbeinen an, hatten gemeinsam die Schule besucht und sich immer gut verstanden. Deshalb hatte ihr Umfeld es mit großer Selbstverständlichkeit aufgenommen, als sie mit siebzehn anfingen, miteinander auszugehen. Alberto wollte die Bank seines Vaters übernehmen und hatte immer deutlich gemacht, dass er sich eine Frau an seiner Seite wünschte, die ihn verständnisvoll und unterstützend auf seinem Weg zum Erfolg begleitete. Seltsamerweise ging es immer nur darum, dass er begleitet würde, nicht umgekehrt.
Trotzdem verspürte Lena nichts als Dankbarkeit, wenn sie daran zurückdachte, wie Alberto alles gemanagt hatte, als ihr Vater gestorben war. Er hatte sich nicht nur wunderbar um die Firma, sondern auch um ihre Mutter und sie gekümmert.
Ihre Hochzeit war mit mehr als einem Jahr Vorlauf für Ende Mai festgelegt worden. Lena aber war nach der Beerdigung so mitgenommen, dass sie die Vorbereitungen für das Fest ihrer Mutter und Alberto überließ. Nichts in ihrem Leben schien noch Sinn zu ergeben.
«Lena, Herzchen, wir können eine Hochzeit von diesem Format nicht so kurzfristig verschieben», hatte ihre Mutter erwidert, als sie vorschlug, den Termin zu verlegen.
«Aber fünf Monate sind doch reichlich Zeit», fand Lena. «Und überhaupt», ergänzte sie, «so eine wichtige Entscheidung sollte man jederzeit treffen können.»
Ihre Mutter fixierte sie mit diesem eisblauen Blick, bei dem Lena sich jedes Mal schrecklich klein und unbedeutend fühlte.
«Willst du damit andeuten, dass du Alberto nicht heiraten willst, nach allem, was er für unsere Familie getan hat? Das ist das wichtigste Event des Jahres, und ich bin sicher, dein Vater hätte nicht gewollt, dass du es verschiebst.»
Lena antwortete nicht, obwohl sie anderer Meinung war. Eine jede Ehe sollte aus Liebe geschlossen werden, nicht aus Dankbarkeit. Und trotzdem hatte der Hinweis auf ihren Vater den gewünschten...
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