Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1
Unter dem gerahmten Foto von Sonnenblumen bei Sonnenaufgang in der Toskana saßen zwei Männer und zwei Frauen in der hintersten Ecke eines Cafés. Alle waren groß wie Basketballspieler, und als sie sich über den runden Mosaiktisch beugten, berührten sich beinahe ihre Köpfe. Ihre Stimmen waren leise und eindringlich, als ob sie über internationale Spionage-Angelegenheiten sprächen. Das passte überhaupt nicht zu diesem kleinen Vorort-Café an einem schönen sommerlichen Samstagmorgen, wo es nach frisch gebackenem Bananen- und Birnenbrot duftete und leiser Softrock aus der Stereoanlage das geschäftige Zischen und Mahlen der Espressomaschine begleitete.
»Ich glaube, das sind Geschwister«, sagte die Kellnerin zu ihrem Chef. Die Kellnerin war Einzelkind, und Geschwister faszinierten sie. »Sie sehen sich sehr ähnlich.«
»Sie brauchen zu lange, um zu bestellen«, gab der Chef zurück, der eines von acht Kindern war und Geschwister in keinster Weise faszinierend fand. Nach dem heftigen Hagelsturm in der letzten Woche war der tagelange Regen ein Segen gewesen. Die Feuer waren unter Kontrolle, der Rauch hatte ebenso aufgeklart wie die Gesichter der Menschen, endlich kamen wieder Gäste, guter Umsatz, deshalb mussten sie die Tische schnell neu besetzen.
»Sie meinten, dass sie noch keine Gelegenheit gehabt haben, in die Karte zu schauen.«
»Frag sie noch einmal.«
Die Kellnerin ging wieder zu dem Tisch in der Ecke, und ihr fiel auf, dass sie alle in der gleichen Haltung dasaßen, die Füße um die vorderen Stuhlbeine geschlungen, wie um ein Wegrutschen zu verhindern.
»Entschuldigung?«
Sie hörten sie nicht. Sie sprachen alle auf einmal, ihre Stimmen überlagerten sich. Zweifellos waren sie miteinander verwandt. Auch ihre Stimmen klangen ähnlich: leise, tief, rau. Menschen mit Halsschmerzen und Geheimnissen.
»Genau genommen wird sie nicht vermisst. Sie hat uns diese Nachricht geschickt.«
»Ich kann wirklich nicht glauben, dass sie nicht ans Telefon geht. Sie geht immer ran.«
»Dad sagte, dass ihr neues Fahrrad weg ist.«
»Was? Das ist seltsam.«
»Dann . ist sie also einfach mit dem Rad die Straße entlanggefahren, immer dem Sonnenuntergang entgegen?«
»Aber ihren Helm hat sie nicht mitgenommen. Und das finde ich merkwürdig.«
»Ich denke, es ist Zeit, sie als vermisst zu melden.«
»Es ist schon mehr als eine Woche. Das ist zu lange.«
»Wie ich schon sagte, genau genommen wird sie nicht .«
»Sie wird vermisst, im wahrsten Sinne des Wortes, denn wir wissen nicht, wo sie ist.«
Die Kellnerin sprach nun mit einer Lautstärke, die haarscharf an Unhöflichkeit grenzte. »Wollen Sie jetzt bestellen?«
Sie hörten sie nicht.
»Wart ihr schon bei ihnen?«
»Dad hat mich gebeten, nicht vorbeizukommen. Er hat gesagt, er sei >sehr beschäftigt<.«
»Sehr beschäftigt? Was muss er denn so dringend tun?«
Die Kellnerin drängte sich geräuschvoll zwischen Stühlen und Wand entlang, damit einer am Tisch sie bemerken würde.
»Du weißt, was passieren könnte, wenn wir sie als vermisst melden?«, sagte der besser aussehende der beiden Männer. Er trug ein Leinenhemd, die Ärmel bis zum Ellbogen hochgekrempelt, Shorts und Schuhe ohne Socken. Die Kellnerin schätzte ihn auf Anfang dreißig, er hatte einen Goatee und strahlte den schlichten charismatischen Charme eines Realityshow-Stars oder eines Immobilienmaklers aus. »Der Verdacht würde auf Dad fallen.«
»Welcher Verdacht?«, fragte der andere, eine verlotterte, bullige, billige Variante des Mannes, der zuerst gesprochen hatte. Er trug keinen Goatee, er brauchte nur dringend eine gründliche Rasur.
»Dass er . du weißt schon.« Die Luxus-Bruderversion fuhr sich mit dem Zeigefinger quer über den Hals.
Die Kellnerin wurde sehr still. Das war die interessanteste Unterhaltung, die sie je bei dieser Arbeit mitbekommen hatte.
»Mein Gott, Troy.« Die Billig-Bruderversion atmete geräuschvoll aus. »Das ist nicht komisch.«
Der andere zuckte die Achseln. »Die Polizei wird fragen, ob es Streit gegeben hat. Und Dad sagt, dass sie sich tatsächlich gestritten haben.«
»Aber deshalb .«
»Vielleicht hatte Dad wirklich etwas damit zu tun«, sagte eine der Schwestern. Die Kellnerin hielt sie für die Jüngste der vier. Sie trug ein kurzes orangefarbenes Kleid mit weißem Blümchenmuster und darunter einen am Hals geschnürten Badeanzug. Ihre Haare waren blau gefärbt (die Kellnerin war neidisch auf diesen Farbton) und am Hinterkopf zu einem feucht-klebrigen, wirren Knoten zusammengebunden. Ihre Arme waren von einer feinen Schicht Sand und Sonnencreme bedeckt, als würde sie direkt vom Strand kommen, obwohl man hier mindestens fünfundvierzig Minuten Autofahrt vom Meer entfernt war. »Vielleicht ist er ausgetickt. Vielleicht ist er letztlich ausgetickt.«
»Hört auf, alle beide«, sagte die andere Frau, die die Kellnerin jetzt als Stammkundin erkannte: Flat White mit Sojamilch, extra large, extra heiß. Sie hieß Brooke. Brooke mit einem »e«. Im Café schrieben sie die Namen der Kunden auf die Kaffeedeckel, und diese Frau hatte einmal zaghaft, aber dennoch bestimmt, darauf hingewiesen - als ob sie es sich nicht verkneifen könnte -, dass das »e« am Ende ihres Namens fehlte. Sie war höflich, sprach aber nicht viel und wirkte gemeinhin etwas gestresst, als ob sie schon wüsste, dass der Tag sich nicht zu ihren Gunsten entwickeln würde. Sie bezahlte stets mit einem Fünfdollarschein und steckte das Rückgeld, eine Fünfzigcentmünze, immer in die Trinkgeldkasse. Und sie war jeden Tag gleich gekleidet: ein blaues Poloshirt, Shorts und Laufschuhe mit Socken. Heute war sie fürs Wochenende angezogen, mit einem Rock und einem Top, doch sie sah immer noch aus wie eine Armeeangehörige außer Dienst oder eine Sportlehrerin, die auf keinerlei Ausflüchte wie Bauchkrämpfe hereinfallen würde.
»Dad würde Mum nie wehtun«, sagte sie zu ihrer Schwester. »Niemals.«
»Oh, mein Gott, natürlich nicht. Das habe ich nicht ernst gemeint!« Die Schwester mit den blauen Haaren hielt die Hände in die Höhe. In dem Moment sah die Kellnerin die Falten um Mund und Augen und erkannte, dass sie nicht jung war, sondern sich nur so kleidete. Sie war eine Frau mittleren Alters in Verkleidung. Aus der Ferne würde man sie auf zwanzig schätzen, aus der Nähe eher auf vierzig. Man hatte das Gefühl, hinters Licht geführt zu werden.
»Mum und Dad führen eine sehr gute Ehe«, sagte Brooke mit einem »e«, und angesichts ihrer leicht gereizten, ehrerbietigen Tonlage dachte die Kellnerin, dass sie trotz ihrer ordentlichen Kleidung die jüngste der vier Geschwister sein könnte.
Der besser aussehende Bruder sah sie fragend an. »Sind wir im selben Elternhaus aufgewachsen?«
»Ich weiß nicht. War es dasselbe Elternhaus? Denn ich habe nie auch nur das geringste Anzeichen von Gewalt bemerkt . Ich meine, wirklich!«
»Egal, es ist ja nicht so, dass ich das glaube. Ich sage nur, dass andere Menschen das glauben könnten.«
Die Frau mit den blauen Haaren blickte auf und bemerkte die Kellnerin. »Entschuldigung! Wir haben immer noch nicht in die Karte geschaut!« Sie nahm die laminierte Speisekarte in die Hand.
»Das ist in Ordnung«, erwiderte die Kellnerin. Sie wollte noch mehr hören.
»Wir sind alle ziemlich durcheinander. Unsere Mutter wird vermisst.«
»O nein. Sie müssen sich . große Sorgen machen?« Die Kellnerin wusste nicht genau, wie sie reagieren sollte. Diese Gäste schienen nicht allzu besorgt. Sie waren alle um einiges älter als sie - musste ihre Mutter daher nicht richtig alt sein? So eine kleine alte Dame? Wie konnte eine kleine alte Dame verschwinden? Demenz vielleicht?
Brooke mit einem »e« zuckte zusammen und sagte zu ihrer Schwester: »Erzähl das den Leuten nicht.«
»Ich bitte um Entschuldigung. Unsere Mutter wird möglicherweise vermisst«, verbesserte sich die Frau mit den blauen Haaren. »Wir haben unsere Mutter kurzzeitig verlegt.«
»Sie müssen jeden Ihrer Schritte zurückverfolgen.« Die Kellnerin ließ sich auf den Witz ein. »Wo haben Sie sie zuletzt gesehen?«
Betretenes Schweigen. Alle am Tisch sahen sie mit den gleichen feuchten braunen Augen und ernstem Gesichtsausdruck an. Alle hatten so dunkle Wimpern, dass es aussah, als hätten sie Wimperntusche aufgetragen.
»Sie haben recht. Genau das sollten wir tun.« Die Frau mit den blauen Haaren nickte bedächtig, als ob sie die...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.