Schweitzer Fachinformationen
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Später wird sich kein Mensch daran erinnern, die Dame am Flughafen Hobart an Bord gehen gesehen zu haben.
Nichts an ihrer Erscheinung oder ihrem Verhalten lässt irgendwelche Alarmsirenen schrillen oder Augenbrauen in die Höhe gehen.
Sie ist nicht betrunken, streitlustig oder berühmt.
Sie ist nicht verletzt wie der brilletragende Hipster, der einen Arm in der Schlinge trägt und ihn dadurch permanent ans Herz drückt, als wollte er seine Liebe oder Aufrichtigkeit beteuern.
Sie ist nicht entnervt wie die verschwitzte junge Mutter, die ein zappelndes Baby, ein wütendes Kleinkind und viel zu viel Handgepäck im Griff zu behalten versucht.
Sie ist nicht gebrechlich wie das gebeugt gehende, betagte Ehepaar, das mehrere Kleidungsschichten trägt, als wollte es sich Kapitän Scotts Antarktisexpedition anschließen.
Sie ist nicht mürrisch wie die diversen Personen mittleren Alters, die in Gedanken bei diversen Mittleres-Alter-Themen sind, oder der einzige unbegleitete Minderjährige auf diesem Flug, ein Sechsjähriger, der die Lasertag-Party seines Freunds verpasst, weil die Sorgerechtsvereinbarung seiner geschiedenen Eltern vorsieht, dass er jeden Freitagnachmittag diesen Flug nach Sydney nimmt.
Sie ist nicht geschwätzig wie das Paar, das so ausführlich von seinem Urlaub erzählt, dass man sich unwillkürlich fragt, ob die beiden undercover für eine Tourismusinitiative der tasmanischen Regierung tätig sind.
Sie ist nicht extrem schwanger wie die extrem schwangere Frau.
Sie ist nicht extrem groß wie der extrem große Mann.
Sie ist nicht zittrig vor Flugangst, Espresso oder (wir wollen es nicht hoffen) Amphetaminen wie die junge Frau mit dem oversized Hoodie und den sehr kurzen Shorts, in denen sie aussieht, als trüge sie gar keine Hose, und irgendjemand sagt, sie sei mit diesem Schauspieler zusammen, aber jemand anderes sagt, nein, das ist sie nicht, ich weiß, wen Sie meinen, aber das ist sie nicht.
Sie hat keine leuchtenden Augen wie die Hochzeitsreisenden, die noch ihre elegante Hochzeitskleidung tragen, diese verrückten jungen Leute, denen eine Welle des Wohlwollens folgt und die sogar zwei Passagiere veranlassen, ihnen ihre Businessclass-Sitze anzubieten, was Braut und Bräutigam zur großen Erleichterung des anderen Paars höflich, aber entschieden ablehnen.
Die Dame weist nichts auf, woran irgendjemand sich später erinnern wird.
Der Flug hat Verspätung. Nur eine halbe Stunde. Es gibt mürrische Gesichter und Seufzer, aber die meisten Passagiere sind bereit, diese Unannehmlichkeit hinzunehmen. So ist das mit dem Fliegen heutzutage.
Wenigstens ist er nicht annulliert worden. »Noch nicht«, sagen die Pessimisten.
Über Lautsprecher kommt knisternd eine Durchsage: Passagiere, die besondere Hilfe benötigen, dürfen jetzt an Bord gehen.
»Na bitte!« Die Optimisten springen auf und hängen sich ihre Taschen um.
Während des Boardings bleibt die Dame nicht stehen, um ein-, zwei-, dreimal an den Flugzeugrumpf zu klopfen, was Glück bringen soll, oder mit einem Flugbegleiter zu flirten oder fieberhaft über das Display ihres Telefons zu wischen, weil ihre Bordkarte mysteriöserweise verschwunden ist - vor einer Minute war sie noch da, wieso passiert das immer?
Die Dame macht sich nicht nützlich wie die Passagiere, die Eltern und Ehepartnern helfen, verschwundene Bordkarten wiederzufinden, oder der breitschultrige Mann mit dem kantigen Kinn und dem grauen Bürstenschnitt, der den Leuten im Vorbeigehen mühelos die Taschen in die Gepäckfächer hebt, ohne aus dem Tritt zu kommen.
Als sämtliche Passagiere eingestiegen sind, sich gesetzt und angeschnallt haben, stellt sich der Pilot vor und erklärt, es gebe ein »kleines technisches Problem, das wir noch lösen müssen«, und die »Passagiere wissen es bestimmt zu schätzen, dass die Sicherheit an erster Stelle steht«. Die Flugbegleiter, betont er mit nur der Andeutung eines Lächelns in seiner tiefen, vertrauenswürdigen Stimme, erfahren es auch gerade erst. (Also lasst sie in Ruhe.) Er dankt den »Leuten« für ihre Geduld und bittet sie, sich zurückzulehnen und zu entspannen, innerhalb einer Viertelstunde sollten sie unterwegs sein.
Sie sind nicht innerhalb einer Viertelstunde unterwegs.
Das Flugzeug steht quälende zweiundneunzig Minuten auf der Rollbahn, ohne sich von der Stelle zu rühren. Das ist nur unwesentlich länger als die erwartete Flugdauer.
Schließlich sagen nicht einmal mehr die Optimisten: »Ich bin sicher, wir schaffen es noch!«
Alle sind verstimmt: Optimisten und Pessimisten gleichermaßen.
In dieser Zeit drückt die Dame nicht den Rufknopf, um einer Flugbegleitung von ihrem Anschlussflug oder ihrer Tischreservierung, ihrer Migräne, ihrem Unbehagen in beengten Räumen oder ihrer sehr beschäftigten Tochter zu erzählen, die mit ihren drei Kindern bereits auf dem Weg zum Flughafen Sydney ist, um sie abzuholen, und was soll sie jetzt machen?
Sie wirft nicht den Kopf in den Nacken und heult zwanzig unerträgliche Minuten lang wie das Baby, das eigentlich nur die Gefühle aller zum Ausdruck bringt.
Sie verlangt nicht, man solle dafür sorgen, dass das Baby aufhört zu weinen, wie die drei Passagiere in mittleren Jahren, die dieses Alter anscheinend alle mit der Überzeugung erreicht haben, dass Babys auf Verlangen aufhören zu weinen.
Sie fragt nicht höflich, ob sie jetzt bitte wieder aussteigen könne, wie der unbegleitete Minderjährige, der nach vierzig Minuten Verspätung an seine Grenzen kommt und hofft, dass die Lasertag-Party vielleicht doch im Bereich des Möglichen liegt.
Sie verlangt nicht, man solle ihr gestatten, mit ihrem aufgegebenen Gepäck von Bord zu gehen wie die Frau im leopardengemusterten Jumpsuit, die irgendwohin muss, die nie wieder mit dieser Fluggesellschaft fliegen wird, die sich aber irgendwann doch beschwichtigen lässt und sich daraufhin so wirksam betäubt, dass sie bald tief und fest schläft.
Sie ruft nicht aus lauter Verzweiflung irgendwann abrupt aus: »Ach, kann denn nicht irgendjemand etwas tun?«, wie die rotgesichtige Frau mit dem krausen Haar, die zwei Reihen hinter dem weinenden Baby sitzt. Es ist nicht klar, ob sie will, dass jemand etwas gegen die Verspätung, das weinende Baby oder den Zustand des Planeten unternimmt, aber just da steht der Mann mit dem kantigen Kinn auf und zeigt dem Baby einen gewaltigen klirrenden Schlüsselbund. Als Erstes demonstriert er, dass ein rotes Licht aufleuchtet, wenn man einen bestimmten Knopf an einem der Schlüssel drückt, und zur grenzenlosen Erleichterung der Mutter und aller anderen Anwesenden verstummt das Baby freudig-erstaunt.
Zu keinem Zeitpunkt tätigt die Dame einen theatralischen Anruf, bei dem sie jemandem in verbittertem Ton erzählt, sie »sitze in einem Flugzeug fest«, »immer noch hier«, »den Anschluss erreichen wir auf keinen Fall«, »macht einfach ohne mich weiter«, »wir müssen den Termin verschieben«, »muss alles absagen«, »nichts zu machen«, »Ich weiß! Es ist unglaublich«.
Niemand wird sich daran erinnern, die Dame während der Wartezeit auch nur ein Wort sprechen gehört zu haben.
Anders als der elegant gekleidete Mann, der sagt: »Nein, nein, Schatz, es wird knapp, aber ich bin immer noch sicher, dass ich es schaffe«, aber daran, dass er sich mit dem Telefon nervös an die Stirn klopft, merkt man, dass er weiß, er wird es nicht schaffen, auf keinen Fall.
Anders als die beiden Freundinnen zwischen zwanzig und dreißig Jahren, die an der Flughafenbar auf leeren Magen Prosecco getrunken haben, woraufhin die Passagiere in ihrer Nachbarschaft intime Details ihrer komplexen Gefühle betreffend »Poppy« erfahren, einer gemeinsamen Freundin, die nicht so nett ist, wie sie allen weismachen will.
Anders als die beiden Mittdreißiger, die sich nicht kennen, aber eine bemerkenswert gut hörbare und außerordentlich langweilige Unterhaltung über Proteinshakes beginnen.
Die Dame reist allein.
Sie hat keine Angehörigen, die sie durch ihre bloße Existenz reizen wie die vierköpfige Familie, die nach Geschlecht geordnet sitzt: Mutter und minderjährige Tochter, Vater und minderjähriger Sohn, alle unterschwellig vor Wut kochend wegen einer heiklen Angelegenheit, bei der es um ein Handyladegerät geht.
Die Dame hat einen Platz am Gang, 4D. Sie hat Glück: Es ist ein relativ voller Flug, aber der Sitz zwischen ihr und dem Mann am Fenster ist frei. Diverse Passagiere werden sich hinterher neidvoll an diesen leeren Mittelplatz erinnern, nicht jedoch an die Dame. Als sie schließlich Starterlaubnis erhalten, muss die Dame nicht gebeten werden, ihren Sitz in eine aufrechte Position zu bringen oder ihre Tasche unter dem Vordersitz zu verstauen.
Sie applaudiert nicht mit langsamen, sarkastischen Bewegungen, als das Flugzeug endlich zur Startbahn rollt.
Während des Flugs schneidet die Dame sich weder die Zehennägel, noch benutzt sie Zahnseide.
Sie ohrfeigt keinen Flugbegleiter.
Sie ruft keine rassistischen Beschimpfungen. Sie singt nicht, brabbelt nicht, nuschelt nicht.
Sie zündet sich nicht beiläufig eine Zigarette an, als hätten wir 1974.
Sie nimmt keine sexuellen Handlungen an einem Fremden vor.
Sie entkleidet sich nicht.
Sie weint nicht.
Sie übergibt sich nicht.
Sie versucht nicht, mitten im Flug den Notausgang zu öffnen.
Sie verliert nicht das Bewusstsein.
Sie stirbt nicht.
(In der Luftfahrtbranche weiß man aus leidvoller Erfahrung, dass dies alles möglich ist.)
Eines ist klar: Die Dame ist eine Dame. Niemand wird sie hinterher als »Frau« bezeichnen. Und...
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