Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Es fing nicht gut an. Der Tag war so wichtig, aber es schien einfach alles schiefzugehen. Es regnete in Strömen, und sie steckten auf der Bourne Bridge fest, eingekeilt im Wochenendstau an einem Freitagnachmittag im Juni.
Tim zappelte herum, schnallte sich ab, zog den Gurt ganz heraus, schnallte sich wieder an, dann löste er ihn wieder. Er machte Ellie wahnsinnig, und das wusste er auch. Es war seine Art zu sagen: «Mom, du hast mein Leben verpfuscht. Ich will nicht nach Bourne, und ich werde auch nicht so tun als ob.»
Wenn er in dieser Laune war und sie ihn bitten würde, mit dem Gurtgefummel aufzuhören, würde er erst recht weitermachen.
Der Wagen vor ihnen bewegte sich einen halben Meter, und sie krochen hinterher, als wären sie im Krieg und wären einen wichtigen halben Meter ins Feindesland vorgerückt. Tim zerrte wieder an seinem Gurt, tat so, als faszinierte ihn der Mechanismus, während Ellie durch die Windschutzscheibe starrte und betete, dass der Regen aufhören möge und der Verkehr sich auflöste.
So hatte sie sich die Reise nicht vorgestellt. Wie im Flug hätten sie über die Brücke rauschen sollen, bei offenen Fenstern und mit Blick auf den Cape Cod Canal, der unter ihnen glitzern sollte. Als sie vor einer Woche den gleichen Weg gefahren war, hatte die Sonne geschienen, das Wasser hatte gefunkelt, und sie hatte sich vorgestellt, Tim säße neben ihr, so wie jetzt - nur dass sie sich ausgemalt hatte, er freute sich, genoss die Aussicht und sagte beim Anblick der Segelboote unter ihnen vielleicht sogar «cool» oder so was.
Vor einer Woche hatte sie drei Sekunden über die Brücke gebraucht; von Boston bis zum Cottage waren es keine anderthalb Stunden gewesen, und sie hatte den Nachmittag mit Auspacken verbracht und damit, es für Tim gemütlich einzurichten. Sie war so glücklich gewesen, hatte ihr neues Freiheitsgefühl in vollen Zügen genossen und war durchs Haus getanzt wie ein Teenager vor einer Party.
Du machst mich wahnsinnig - lass endlich den Gurt in Ruhe.
Nein, sag es nicht. Dann wird er trotzig, und ihr streitet euch, und dann wird der Tag noch schlimmer.
«Ich hab dein Bett mit der blauen Bettwäsche bezogen.»
«Toll.»
Als Tim klein war, war blaue Bettwäsche aus irgendeinem Grund das Größte für ihn gewesen, und seitdem bezog sie sein Bett blau, wenn sie ihm eine Freude machen wollte. Sie wünschte, sie könnte ihn wieder in den kleinen Jungen verwandeln, der sich über Kleinigkeiten wie Bettwäsche freuen konnte und der seine Mutter über alles liebte.
Ellie wusste nicht, ob der reizbare Fünfzehnjährige an ihrer Seite einfach nur ein typischer Teenager war oder ob er mehr unter der Scheidung litt, als er zugab. Am Anfang schien er die Trennung ganz gut zu verarbeiten, aber anvertraut hatte er sich ihr nie, ganz gleich wie viel Mühe sie sich gab. Und dann hatten plötzlich seine schulischen Leistungen nachgelassen, und er war sitzengeblieben.
Jetzt riss sie ihn auch noch aus seinem Freundeskreis heraus. Natürlich war er wütend; sie konnte ihn verstehen. Aber wäre es ihm wirklich lieber gewesen, in Boston zu bleiben und das Jahr an seiner Schule zu wiederholen? Sie wusste, dass er diese Vorstellung grauenhaft fand. Und wenn er innerhalb von Boston die Schule gewechselt hätte, wäre er auch nicht mehr mit seinen Freunden zusammen gewesen. Dann konnten sie auch gleich umziehen.
Unterdessen hatte Charlie Tim gedrängt, wie ein Wahnsinniger zu pauken und sich an einem Internat zu bewerben. Aber bei dem Gedanken, Tim wegzuschicken, wurde Ellie übel.
Sie beugte sich über das Lenkrad. Sie hatten die Mitte der Brücke erreicht und befanden sich genau auf der Kuppe.
«Als ich das erste Mal über diese Brücke kam, hat meine Tante mir erzählt, der Superman-Schauspieler aus der allerersten Fernsehserie, irgendwann in den fünfziger Jahren, hatte so oft Superman gespielt, dass er sich am Ende einbildete, er könnte wirklich fliegen. Eines Tages hat er sich sein Superman-Kostüm angezogen, ist hierhergekommen und gesprungen. Er hat fest geglaubt, er würde abheben wie eine Rakete, aber natürlich ist er abgestürzt und gestorben. Eine ganz schön traurige Geschichte, oder?»
Tim reckte den Hals und versuchte, durchs Fenster hinauf zu der Brückenkonstruktion zu sehen. «Wie hat er das gemacht? Ich meine, über die Geländer kann man nicht einfach drüberklettern, so wie die nach innen gebogen sind.»
«Ich schätze, die hatten sie damals noch nicht. Wahrscheinlich haben sie sie später eingebaut, um Leute am Runterspringen zu hindern.»
«Wahrscheinlich.» Tim rutschte auf seinem Sitz herum.
Ellie erinnerte sich noch, wie sie ihn zum ersten Mal in den Kindersitz gesetzt hatte. Er hatte einen winzigen blau-weiß gepunkteten Strampler angehabt. Heute trug er zerrissene Jeans und ein schwarzes T-Shirt und war fast einen Meter achtzig groß.
«Mannomann! Wie hat eine kleine Person wie du einen Riesen wie Tim gemacht?», hatte Debby gefragt.
«Keine Ahnung. Charlie ist auch nicht groß, aber er sagt, sein Großvater war groß. Vielleicht hat das Gen eine Generation übersprungen», hatte Ellie gemutmaßt.
«Am Anfang der Brücke habe ich ein Schild der Samariter gesehen», sagte Tim. «Ich meine, als wir vor einer Ewigkeit auf die Brücke gefahren sind. Das heißt doch, dass immer noch Leute versuchen, hier runterzuspringen. Vielleicht wollte Superman einfach Selbstmord begehen. Woher soll man wissen, dass er sich eingebildet hat, er könnte fliegen? Ist er rumgelaufen und hat es den Leuten erzählt?»
«Gute Frage. Das weiß ich nicht.»
Ellie wusste auch nicht, ob die Superman-Geschichte überhaupt stimmte oder ob sie nur einer dieser Großstadt-, oder besser, Kleinstadtmythen war. Sie wusste nicht mal, warum sie Tim davon erzählt hatte. Aber wenigstens hatte sie sein Interesse geweckt, und er hatte aufgehört, mit dem Gurt herumzuspielen. Stattdessen betrachtete er eingehend die Gitter, die die Brücke vor Selbstmördern schützen sollte. Oder besser, korrigierte sie sich, die Selbstmörder vor der Brücke.
«Warum habt du und Dad überhaupt geheiratet?», hatte er gefragt, als sie in die Mietwohnung eingezogen waren. Die Frage kam aus völlig heiterem Himmel. Und sie hatte geantwortet: «Wir haben uns geliebt, Tim. Aber manchmal halten Dinge nicht für immer.» Sie hatte erwartet, dass er weiterfragen würde, aber er hatte nur genickt und seine Koffer ausgepackt. Er kannte Sandra Cabot inzwischen, aber sie wusste nicht, ob er mitbekommen hatte, dass sein Vater eine Affäre gehabt hatte.
Als sie ihm sagten, dass sie sich scheiden lassen würden, hatten sie Tim erklärt, dass sie sehr jung geheiratet und sich mit den Jahren voneinander entfernt hätten, und dass es für alle das Beste wäre, wenn sie getrennte Wege gingen. Tim hatte nicht weiter nachgefragt, und Charlie hatte ihm Sandra erst vorgestellt, als die Scheidung durch war.
Obwohl es Zeiten gab, wo Ellie Tim am liebsten die ganze Wahrheit erzählt und über Charlies Untreue geklagt hätte, tat sie es nicht. Sie wusste, dass sie damit Tims Beziehung zu seinem Vater gestört und ihren Sohn verletzt hätte.
«Die Bourne Bridge - von der Seite sieht sie aus wie eine schwangere Frau, die eine Brücke macht und den Bauch rausstreckt.»
«Stimmt. Du hast recht. Genauso sieht sie aus.»
Ab und zu fielen Tim Beschreibungen wie diese ein. Ellie war stolz darauf, dass er sich die Mühe machte, die Dinge wirklich anzusehen, ungewöhnliche Vergleiche zu ziehen, in unerwartete Richtungen zu denken. Und nicht nur das - er sprach aus, was er dachte. Er wollte seine Gedanken immer noch mit ihr teilen; manche zumindest, manchmal.
«Schau - es geht weiter - endlich.»
Als hätte irgendwo am anderen Ende ein Klempner den Abfluss gereinigt, der den Cape Cod Highway verstopfte, nahmen die Autos vor ihnen wieder Fahrt auf, und zwar nicht zentimeterweise, sondern mit Tempo. Von der Kuppe der Brücke ging es zu einem Kreisel hinunter, in dessen Mitte ein buntes aufwendiges Blumenarrangement die Schrift Willkommen in Cape Cod bildete.
«Schau dir das bloß an. Wie spießig ist das denn?»
«Tim. Bitte. Hör doch mal auf.»
«Mom!»
«Na gut. Du hast recht. Es ist spießig.»
Am Kreisel fuhr Ellie rechts, bei Tedeschi's vorbei, einem italienischen Lebensmittelladen direkt am Busbahnhof, und weiter über eine kurvige Landstraße. Tim sagte nichts. Er hatte sich die Kopfhörer seines iPod in die Ohren gesteckt, aber als sie zu ihm rüberblickte, sah sie, dass er nervös die Umgebung scannte.
Es war nicht nur ein neues Haus, in das sie zogen, es war eine neue Stadt, eine neue Welt. Sie sah, wie er nach belebten Plätzen suchte: Cafés, Läden. Doch in Bourne gab es nicht einmal eine Einkaufsstraße. Es gab ein kleines Lebensmittelgeschäft in der Nähe ihres Hauses und ein Café nicht allzu weit entfernt; es gab die Highschool, die er besuchen würde, aber wenn man bummeln gehen wollte, musste man zurück über die Bourne Bridge nach Buzzards Bay.
Andererseits waren der dortige große A&P-Supermarkt, ein stillgelegtes Kino und die touristischen Boutiquen und Restaurants auch nicht gerade das, was junge Leute wie Tim magisch anzog.
Für Shops, die ihm gefielen, musste er ins große Einkaufszentrum, zu dem man mindestens eine halbe Stunde mit dem Auto fuhr. Doch er war fünfzehn, er hatte keinen Führerschein. Für die Art von Ausflug war er abhängig von ihr oder den Eltern von Freunden.
Lange kurvige Straßen und Cranberry-Felder. Mehr war im Moment nicht zu sehen. Was er wohl dachte? Ich bin mitten in der Pampa...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.