Kapitel 1
»Es war quasi so etwas wie eine Hinrichtung«, erklärte Dr. Kelley und zog das Laken zurück, um den Leichnam wieder zu bedecken.
»>Quasi so etwas wie<?«, wiederholte Detective Inspector Franklin, der sich neben den Rechtsmediziner gestellt hatte.
Kelley zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen kann ich das auch verkürzen auf: >Es war eine Hinrichtung.< Aber dann wäre unsere angenehme Unterhaltung viel schneller beendet, und das wäre doch schade, nicht wahr, DCI Remington?«
Anne Remington, die Vorgesetzte von Franklin und DI Hennessy, der sich beim Anblick des Leichnams hatte abwenden müssen, setzte ein demonstratives Lächeln auf und stimmte ihm zu. »Ja, das wäre wirklich zu schade.« Sie konnte nur froh sein, dass sie von ihren Mitarbeitern vorgewarnt worden war, was diesen neuen Rechtsmediziner anging, mit dem sie zusammenarbeiten mussten und der gar nicht so neu war. Immerhin hatte Dr. Jeremiah Kelley diese Stelle über dreißig Jahre lang innegehabt und war erst vor ein paar Jahren in den Ruhestand gegangen.
Nachdem sich vor einigen Monaten die Notwendigkeit ergeben hatte, die Stelle des Rechtsmediziners neu zu besetzen, sich aber niemand bewarb und die umliegenden Grafschaften auch so schon unterbesetzt und überlastet waren, sodass man von dort niemanden abziehen konnte, war die Verwaltung auf eine List verfallen. In den Richtlinien stieß man auf eine - wie Kelley es formulierte - »kaum bekannte und selten benutzte Reserveaktivierungsklausel« und zwangsverpflichtete ihn, begleitet von dem beiläufigen Hinweis, seine Pensionszahlungen zu kürzen, falls er der Aufforderung nicht nachkam.
»Ich möchte wetten, dass das vor Gericht keinen Bestand hätte«, hatte Kelley gesagt, als sie ihm kurz nach der Einstellung das erste Mal begegnet war.
»Warum gehen Sie dann nicht vor Gericht?«
»Ich habe mich mit einem Bekannten unterhalten, der selbst Rechtsanwalt ist und der sogar mit einem ähnlichen Fall beschäftigt war. Er konnte mir aus eigener Erfahrung berichten, dass das öffentliche Interesse an meiner Arbeitskraft schwerer wiegt als mein Recht auf eine ungekürzte Pension - natürlich alles nur hinter vorgehaltener Hand, genauso wie die Auskunft, dass solche Verfahren fünf Jahre und länger hinausgezögert werden.« Er hatte wütend geschnaubt, als er ihr davon erzählte. »Vielleicht können Sie ja die nächsten fünf Jahre auf fünfzig Prozent Ihrer Bezüge verzichten, ich kann es jedenfalls nicht.« Nach einer kurzen Pause hatte er dann hinzugefügt: »Sie sehen, der Staat bekommt, was der Staat will. Aber keine Sorge, DCI Remington, ich werde Sie nicht im Stich lassen, nur weil ich zwangsverpflichtet wurde. Ich werde meine Arbeit weiterhin gewissenhaft erledigen, und wenn ich weiß, dass es sich tatsächlich um etwas Dringendes handelt, um einen Täter dingfest zu machen, dann werde ich auch nicht um fünf Uhr Feierabend machen und nach Hause gehen.«
»Danke, Doktor«, hatte sie lächelnd erwidert und ihm die Hand gereicht. »Auf gute Zusammenarbeit.«
»Eines noch«, bemerkte er abschließend. »Versuchen Sie, die Kriminalität an der Wurzel zu bekämpfen, dann habe ich weniger Arbeit.«
Der heutige Tag war der unerfreuliche Beleg dafür, dass sie mindestens einmal zu wenig versucht hatte, seiner Bitte zu entsprechen, sonst hätte Dr. Kelley nicht um diese Uhrzeit in der Gerichtsmedizin sein müssen. »Was können Sie uns denn erzählen?«, wollte sie wissen.
Kelley griff nach seinem Notizblock, auf dem er alles Wesentliche notiert hatte. »Die Kollegen von der Spurensicherung haben festgestellt, dass jemand den Massagesessel und die Fernbedienung für den Fernseher manipuliert hat. Der Massagesessel wurde so verändert, dass er den Strom an die Person weiterleitet, die in ihm sitzt, sobald diese Person oder auch jemand anders auf der Fernbedienung die Lautstärke verändert, also spätestens zu Beginn der ersten Werbeunterbrechung. Die Taste hat nur den Startimpuls gegeben, es war also nicht möglich, den Strom noch schnell abzustellen. Ein Druck auf die Taste, und das Opfer wird geröstet. So wie in diesem Fall. Meine Untersuchungsergebnisse entsprechen den Beobachtungen der Kollegen. Mrs Boyle wurde durch einen Stromschlag getötet.«
»Und ein Unfall ist ausgeschlossen?«, meldete sich DI Hennessy zu Wort, der größere von Annes beiden Kollegen.
»Hm«, machte Kelley und setzte ein süffisantes Lächeln auf. »Das würde ich gern so formulieren: Wenn Sie eine logische Erklärung dafür finden, wie sich ein Funksender in die Fernbedienung und ein passender Empfänger in einen Massagesessel einschleichen können, ohne dass irgendein Mensch die Finger im Spiel hatte, dann sollten Sie einen Unfall natürlich nicht ausschließen. Ich hoffe, das war klar genug.«
»Ja, zumindest so klar, wie man es von einem Rechtsmediziner erwarten kann«, konterte der Detective Inspector und drehte sich zu Anne um. »Und was meinen Sie, Chief?«
Ein lautes Räuspern von Kelley klang ganz danach, als ob er sich übergangen fühlte.
Anne hätte Hennessy auffordern können, damit aufzuhören, aber zum Glück war sie frühzeitig von ihm und Franklin darüber aufgeklärt worden, dass die beiden jahrelange Erfahrung mit dem Rechtsmediziner hatten und diese gegenseitigen scheinbaren Anfeindungen einfach dazugehörten. Zwar war sie anfangs im Zweifel gewesen, ob die beiden ihr das vielleicht nur auftischten, damit sie sich nicht einmischte, doch nachdem sie ein paar Mal das amüsierte Funkeln in Kelleys Augen gesehen hatte, wusste sie, es entsprach der Wahrheit.
»Dass wir nach einem Motiv suchen müssen, warum jemand ihren Tod wollte«, sagte sie in nüchternem Tonfall. »Und warum er sich auch noch so viel Arbeit gemacht hat.«
»Vielleicht macht sich der Täter ja nicht gern die Finger schmutzig«, gab Franklin zu bedenken, dessen Gesicht wie immer leicht rot angelaufen war, so als käme er gerade vom Jogging oder aus der Sauna. »Er bereitet alles vor, aber das Opfer bringt sich praktisch selbst um. Er muss keine Waffe abfeuern, nicht mit dem Messer auf jemanden losgehen und auch niemanden mit bloßen Händen erwürgen. Wenn er seine Arbeit getan hat, lebt sein Opfer ja noch, und er hat vermutlich ein reines Gewissen.«
»Die Frage ist, wer sich so über Mrs Boyle geärgert hat, dass er überhaupt zu solchen Maßnahmen greifen würde«, steuerte Hennessy zur laufenden Diskussion bei.
»Wenn Sie mich fragen, was Sie wahrscheinlich gar nicht vorhaben, weshalb ich es Ihnen trotzdem sage, nur damit ich später sagen kann: >Ich hab's ja gleich gesagt<«, mischte sich der Rechtsmediziner ein, »dann hat sich da zwar jemand sehr viel Mühe gemacht, um Mrs Boyles Ableben herbeizuführen, aber das ist zumindest für meinen Geschmack zu viel Mühe.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Anne, die sich schon vor längerer Zeit angewöhnt hatte, alle Beteiligten zu Wort kommen zu lassen und dabei auch für jene Erklärungsversuche offen zu sein, die eigentlich völlig unwahrscheinlich, aber eben nicht unmöglich waren. Seit sie auf ihrem vorangegangenen Posten bei der Greater Dartmoor Police einmal den Fehler gemacht hatte, integer scheinende Personen für unschuldig zu halten und nicht einmal die Möglichkeit ihrer Schuld in Erwägung zu ziehen, würde ihr das kein zweites Mal passieren. Und ja, es hatte auch etwas damit zu tun, dass sie sich in ihrem Stolz gekränkt fühlte, wenn ein Bürger - in dem Fall die Buchautorin Christine Bell zusammen mit ihrer Katze Isabelle - einen Fall aufklärte und ihr auch noch den Täter präsentierte, obwohl sie selbst nicht mal einen Fall für möglich gehalten hatte.
»Na ja, wenn ich jemanden aus welchen Gründen auch immer umbringen wollte«, begann Kelley, schob die Hände in die Taschen seines weißen Kittels und lehnte sich gegen die Edelstahlwanne an der Wand hinter ihm, »dann würde ich doch wohl versuchen, keine Spuren zu hinterlassen. Oder ich würde versuchen, das Ganze wie einen Unfall zu arrangieren. Ich persönlich könnte Ihnen natürlich eine Handvoll Gifte und den einen oder anderen Kniff aufzählen, wie man einen Mord begeht, ohne eine verfolgbare Spur zu hinterlassen, aber wir dürfen nicht von mir ausgehen.« Mit einer Hand fuhr er durch sein volles graues Haar. »Dieser Täter hat weder das eine noch das andere gemacht. Durch den Sender hat er eine Spur hinterlassen - natürlich eine ohne Fingerabdrücke und ohne DNS-Spuren, mit denen man ihn überführen könnte, aber es ist trotzdem eine Spur. Und er hat eine Vorgehensweise gewählt, die einen Unfall oder eine Selbsttötung ausschließt ...«
»Es sei denn, Mrs Boyle wollte sich so aus dem Leben verabschieden«, warf Franklin grinsend ein.
»Dann würde ich ein Bad in Salzsäure vorschlagen«, gab Dr. Kelley ungerührt zurück. »Aber ruhig ein wenig verdünnt,...